Tim LaHaye: "Die Entrückung"

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H.W.Deppe
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Tim LaHaye: "Die Entrückung"

Beitrag von H.W.Deppe »

Eine Rezension des Buches „Die Entrückung“ von Tim LaHaye, CV Dillenburg 2004

Der Autor, insbesondere durch seine Bestseller-Reihe „Finale“ bekannt, präsentiert in diesem Buch die Lehre der so genannten Vorentrückung, d.h. dass die Entrückung der Gläubigen vor der angeblich noch zukünftigen „siebenjährigen Trübsalszeit für Israel“ stattfinde. Wenn man eine solche außerbiblische Lehre vertritt, die aus dem theologischen System des Dispensationalismus stammt, wäre zu erwarten, dass der Autor sich auch mit den Argumenten Andersdenkender auseinandergesetzt hat. Ein Blick in die Quellenangaben zeigt jedoch, dass in dem Buch ausschließlich dispensationalistische Autoren zitiert werden. Auch in der Bibliografie wird nur sehr wenig nicht-dispensationalistische Literatur von weniger bekannten Autoren genannt. Die einschlägigen und wichtigen Werke von bibeltreuen nicht-dispensationalistischen Autoren fehlen völlig. Dazu fallen mir nur zwei mögliche Erklärungen ein: Entweder verschweigt LaHaye bewusst die Existenz solcher Literatur, um seine Leser nicht auf diese Fährte zu führen, oder er hat sich gar nicht damit auseinandergesetzt. Beide Möglichkeiten lassen an der Seriosität des Autoren zweifeln. Im Gegensatz zu sachlich und exegetisch arbeitenden Theologen hat ein populärer Autor von christlicher Science-Fiction-Unterhaltungsliteratur es vielleicht nicht nötig, herkömmliche und verbreitete Gegenpositionen zu prüfen und darauf einzugehen.

Auch LaHayes Argumentationsweise lässt Zweifel an seiner exegetischen Redlichkeit aufkommen. So setzt LaHaye umstrittene Annahmen einfach als gegebene Tatsachen voraus: Die Lehre der Vorentrückung basiert auf der Annahme, dass die 70. Jahrwoche Daniels (Dan 9) noch zukünftig und identisch mit den in Offb. 6-19 geschilderten Ereignissen sei. Diese Annahme basiert auf dem dispensationalistischen Zwei-Völker-Dualismus, der besagt, dass das ethnische Israel und die neutestamentliche Gemeinde zwei strikt zu trennende Völker Gottes seien. Die Grundannahme, dass es eine künftige 7-jährige Drangsalszeit mit dem ethnischen Israel als Handlungszentrum Gottes gibt, setzt LaHaye einfach voraus, ohne sie zu diskutieren. Als einzig denkbare Gegenposition zur Vorentrückung präsentiert er andere Zeitpunkte der Entrückung in Bezug auf die angebliche Trübsalszeit (Nach- und Zwischenentrückung). Dass diese Theorie einer noch künftigen 70. Jahrwoche Daniels und damit „Trübsalszeit für Israel“ aber erst im 19. Jahrhundert populär wurde, hingegen seit alters eine ganz andere, beim Bibeltext bleibende Auslegung von Daniel 9 bekannt ist, diskutiert LaHaye gar nicht. Auf Seite 98 behauptet er einfach: „Gemäß der Prophetie in Daniel 9,24-27 sind immer noch sieben prophetische Jahre für die Juden als Nation nicht erfüllt“, ohne durch eine auch nur annähernd gründliche Exegese zu dieser Behauptung gelangt zu sein. Bedeutende Gegenstandpunkte wie die des Amillenialismus, Postmillenialismus und des historischen Prämillenialismus und die Sichtweisen der präteristischen, idealistischen und historisierenden Auslegung der Offenbarung werden dem Leser vorenthalten und so der Eindruck erweckt, LaHayes futuristische Ansichten seien nicht nur die einzig denkbaren, sondern die von ihm genannten Standpunkte seien die einzig existenten.
Den Israel-Gemeinde-Dualismus führt LaHaye übrigens am Ende des Buches selbst ad absurdum. Auf S. 202 führt er die strikte Trennung zwischen Israel und Gemeinde als einen Schlüssel der Bibelauslegung an und begründet dies u.a. mit „verschiedenen Grundlagen“, auf denen Israel und die Gemeinde gebaut seien. „Israel wurde nicht auf dem vollendeten Werk Christi am Kreuz begründet“. Wenn also der dispensationalistischen Theorie zufolge Gott künftig wieder mit dem ethnischen Israel handelt und ausstehende Prophezeiungen über Israel erfüllt, dann nicht auf der Grundlage von Golgatha? Das wäre ein absurder Schritt zurück in alttestamentliche Zustände, wovor z.B. der Hebräerbrief ausdrücklich warnt. Und wenn es doch auf Grundlage von Golgatha geschähe, dann wäre es LaHayes dispensationalistischer Definition zufolge nicht mehr das nationale alttestamentliche Israel, sondern eine unzulässige Mischform.

Auch ansonsten verbreitet das Buch eher Parolen statt Exegese und versucht dem Leser durch ständige Wiederholung von als Tatsachen formulierten Behauptungen die Lehre von LaHaye einzubläuen. LaHayes Argumente für die Vorentrückung bieten eine ganze Sammlung von Beispielen, wie man falsch an die Bibel herangeht – einer falschen Hermeneutik. So schließt er z.B. aus der Beobachtung, dass in Offb 4-19 das Wort „Gemeinde“ nicht mehr vorkommt, dass die Gemeinde dann auch nicht mehr auf der Erde sei. Mit derselben „Auslegungsmethode“ kann man jedoch auch belegen, dass die Gemeinde nicht im Himmel sein wird. Denn das Wort Gemeinde kommt auch in Offb 20,1 - 22,15 nicht mehr vor. Und auch Israel müsste demzufolge nach seiner letzten Erwähnung in Offb 7,4 entrückt werden. Hier zeigt sich, welcher Mangel an gesunder Textauslegung und einer grundlegend biblischen Hermeneutik heute besteht. Geglaubt wird anscheinend, was bekannte Autoren mit überzeugender Rhetorik und dazu passenden Schaubildern vermitteln, anstatt den Glauben schlicht und einfach auf die Ergebnisse gesunder fortlaufender Bibelauslegung zu begründen und zu beschränken.

LaHaye berührt mit seinen Aussagen nicht nur die Zukunftslehre, sondern auch die Lehre über Gottes Wesen und über das Evangelium. Auf S. 75 behauptet er, dass Gott „sein Versprechen hält, die Gemeinde aus der Welt heraus zu entrücken, bevor sie [in die Trübsal kommt]“. Doch wo hat Gott dies versprochen? Anscheinend bezieht sich LaHaye auf Offb 3,10, was er drei Seiten zuvor zitiert hat. Dort hat der Herr Jesus allerdings der damaligen Gemeinde von Philadelphia verheißen, sie „zu bewahren in/aus der Stunde der Versuchung, die über den ganzen Erdkreis kommen wird“. Hat Gott etwa die damaligen Gläubigen aus Philadelphia – die in eine Verfolgungszeit lebten – entrückt? Oder hat er das, was er ihnen versprochen hat, nicht gehalten? Und selbst wenn wir einfach annehmen (ohne es aus dem Text belegen zu können), dass diese Verheißung nicht nur den damaligen Christen, sondern in gewisser Weise allen Christen aller Zeiten gilt, dann muss sie doch denen aus Philadelphia damals und all den vielen bereits verstorbenen Christen vor unserer Zeit ebenfalls gegolten haben. Der Ausdruck „bewahren in bzw. aus“ in Offb 3,10 bedeutet auch keineswegs unbedingt das Herausnehmen aus einer Situation. Derselbe Ausdruck (griechisch tereso ek) kommt auch in Joh 17,15 vor, wo von dem „Bewahren vor dem Bösen“ die Rede ist, und zwar ohne dass Gott die Gläubigen „aus der Welt wegnimmt“. LaHaye legt hier also Gott eine Verheißung in den Mund, die er so überhaupt nicht gegeben hat. Wenn LaHaye Unrecht hat, werden seine Leser später meinen, Gott habe seine Verheißungen nicht gehalten. Oder sie werden den Antichristen nicht erkennen, weil sie ja vor dessen Kommen entrückt zu werden glauben.
Dann verbindet LaHaye diese angebliche Verheißung auch noch mit Gottes Treue, Liebe und Erbarmen (ebenfalls S. 75): „.... Gott hält sein Wort! Und er ist ein Gott der Liebe und des Erbarmens für die, die ihn annehmen.“ Was soll das nun heißen? Wenn Christen durch Leid gehen müssen – durch Krankheit oder durch Verfolgung (vgl. Apg 14,22; 2Tim 3,12 u.v.a.) – ist Gott dann nicht mehr ein Gott der Liebe und des Erbarmens? Oder haben solche leidenden Christen ihn etwa nicht richtig „angenommen“? Wird hier nicht eine ziemlich verdrehte Theologie LaHayes deutlich?
Auch LaHayes Einstellung zum Evangelium scheint fragwürdig. Auf S. 76-77 behauptet er: „Ein Hauptziel der Trübsal ist es, den Milliarden zu dieser Zeit lebenden Menschen sieben Jahre lang die Möglichkeit zu einer Entscheidung [für Christus oder für den Antichristen] zu geben.“ Das biblische Evangelium kennt aber keinen Ausweg nach dem Motto: „Warte ab – wenn die Entrückung geschehen ist und du siehst, das alles stimmt, kannst du dich immer noch für Christus entscheiden.“

Als Gipfel der Unseriosität in diesem Buch habe ich den Anhang B empfunden, in dem LaHaye seine „zwei Schlüssel zum Verständnis der Prophetie“ darlegt. Unter der Überschrift „Verbalinspiration“ und Ausführungen zu 2Tim 3,16 („Alle Schrift ist von Gott eingegeben ...“) und 1Mo 3,1 („Sollte Gott etwa gesagt haben ...“) versucht LaHaye zu suggerieren, eine nicht an allen Stellen wörtliche Auslegung der Bibel sei gleichzusetzen mit dem Leugnen der Verbalinspiration. Das ist ein Schlag ins Gesicht unzähliger bibeltreuer Ausleger, die aus guten Gründen nicht bei allen biblischen Prophezeiungen von einer buchstäblichen Erfüllung ausgehen. Nehmen wir nur die Prophezeiung, die Gott wenige Verse nach dem von LaHaye zitierten 1Mo 3,1 gab, nämlich in 1Mo 3,15: „Er [der Nachkomme Evas] wird dir [der Schlange] den Kopf zermalmen, und du, du wirst ihm die Ferse zermalmen.“ Leugnet man etwa die Verbalinspiration, wenn man glaubt, dass Jesus nicht einer buchstäblichen Schlange den buchstäblichen Kopf zertreten hat/wird usw.? LaHaye schreibt: „Ich bezweifle, dass jemand zu einem a- [...] oder postmillenialistischen Standpunkt finden kann, wenn er die Bibel einfach wörtlich nimmt“ (S. 196). Das mag sein, aber die Frage ist, ob prophetische Aussagen aus apokalyptischen Bibelpassagen wirklich immer wortwörtlich zu verstehen sind. Ich hoffe nicht, denn sonst wäre ich die Ewigkeit lang eine Säule (Offb 3,12). Es ist sicher eine wichtige Frage, wann prophetische Aussagen wörtlich gemeint sind und wann nicht. Doch ganz sicher sind sie nicht immer wörtlich gemeint. Paulus deutete Jesajas Jerusalem-Prophezeiung auf das „Jerusalem droben“ (Gal 4,26-27), Jakobus sah in Amos’ „Wiederaufrichtung der Hütte Davids“ die Zeit der Gemeinde und Heidenmission (Apg 15,16ff); Stephanus belehrte die halsstarrigen Schriftgelehrte, dass Gottes Gegenwart nicht in buchstäblichen Tempeln zu erwarten sei (Apg 7,48-51) u.v.m.
Will LaHaye denn wirklich alle prophetischen Aussagen konsequent buchstäblich verstehen? Offenbar ja, alles andere kommt für ihn ja dem Leugnen der Verbalinspiration gleich. Auf S. 198-199 zitiert er in voller Länge Offb 19,11 – 20,6 und behauptet dann: „Wenn jemand beginnt den Text zu vergeistlichen oder zu allegorisieren, dann ist er hoffnungslos zu Verwirrung und Irrtum verurteilt.“ Offenbar versteht er auch das Schwert aus dem Mund Jesu (19,15) und den Schlüssel und die Kette in der Hand des Engels (20,1) wortwörtlich. Oder bis zu welchem willkürlichen Punkt ist für ihn ein „Vergeistlichen“ erlaubt? Hier drängt sich auch die Frage auf: Wenn LaHaye so sehr auf den buchstäblichen Literalsinn des Textes pocht, wie kommt er dann dazu, aus Offb 3,10 (siehe oben) eine Verheißung der Vorentrückung zu machen und dies als Eckpfeiler seiner Lehre zu verwenden? Kann es also nicht viel mehr sein, dass jemand mit LaHayes haarsträubender Hermeneutik "hoffnungslos zu Verwirrung und Irrtum verurteilt" ist?

LaHaye versteht es auch, geschickt zu suggerieren. Anstatt andere Sichtweisen fair darzustellen, behauptet er schlichtweg auf S. 196: „Amillenialismus und Postmillenialismus erfordern, dass dem Text der Heiligen Schrift ein Glaubenssystem übergestülpt wird, damit man zu gewissen Schlüssen über die endzeitlichen Ereignisse gelangen kann.“ Bei diesen Standpunkten hätte „die theologische Voraussetzung eine höhere Autorität“ erlangt „als die Bibel selbst“ (S. 197). Meint LaHaye vielleicht, er als populärer Romanautor könne solche Verurteilungen einfach ex cathedra aussprechen und deshalb seien sie gültig? Schließlich treffen diese Vorwürfe vielmehr auf LaHayes Dispensationalismus zu, der ein theologisches System ist, dem alle biblischen Aussagen – insbesondere nicht dazu passende neutestamentliche – unterworfen werden müssen.
Auf S. 197 gibt er ein fiktives Gespräch über das Buch der Offenbarung wieder: „ ‚Und was bedeutet das alles?’ ‚Ganz einfach, Jesus siegt!’“ Anschließend behauptet er kühn: „Das fasst, kurz gesagt, die prämillenialistische Sicht für Millionen Menschen zusammen.“ Er stellt es so dar, als ob allein seine Sicht einen letztendlichen Sieg Christ in der Offenbarung erkennt. Das ist eine unfaire Verleumdung anderer Sichtweisen, die gerade den Sieg Christi als Schwerpunkt der Offenbarung betonen. Tatsächlich beschreibt LaHaye hier einen Standpunkt, den er eigentlich scharf verurteilt: die so genannte idealistische Sichtweise, die nämlich das Buch der Offenbarung gerade nicht konsequent buchstäblich versteht, sondern den Sieg Christi als Hauptbotschaft unterstreicht.

LaHayes Argumentation ist inkonsequent und widersprüchlich, unseriös und unfair. Es ist ein Buch, dem es von vorn bis hinten an gesunder Schriftauslegung und Seriosität fehlt. Besonders verwunderlich finde ich, dass das Buch in einem Verlag erschienen ist, der kurz zuvor noch in einer groß angelegten Werbekampagne seine theologische Kompetenz herausgestellt hat. Der Verlag hat das Buch sogar in der neuen Reihe „CV Edition biblische Theologie“ herausgebracht, die vom Namen her viel verspricht, aber mit diesem Buch enttäuscht.

Zuletzt möchte ich noch anmerken, dass ich mit dieser Rezension weder einen bestimmten anderen Standpunkt bewerben noch die Vertreter der Vorentrückung pauschal diskreditieren oder diese Lehre bekämpfen will. Zur Vorentrückungslehre gibt es bestimmt bessere Bücher und seriösere Autoren, die vielleicht schwerwiegendere exegetische Argumente und Einwände bieten. Ich hätte gern ein solches Buch gelesen, denn schließlich möchte auch ich mich mit ernstzunehmenden Gegenargumenten zu meiner Sichtweise beschäftigen. In diesem Buch habe ich sie jedoch vergeblich gesucht.

Hans-Werner Deppe

siehe auch www.dispensationalismus.de
"Der Prophet, der einen Traum hat, erzähle den Traum! Wer aber mein Wort hat, rede mein Wort in Wahrheit! Was hat das Stroh mit dem Korn gemeinsam? spricht der HERR." (Jer 23,28)
Lasst uns bei dem bleiben, was geschrieben steht! Sola Scriptura!

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