Luther-Predigten, Zitate und Sprüche

Nur für Gläubige, die die fünf Punkte des Arminianismus ablehnen

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Jörg
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Vorlesung über den Römerbrief (Zusatz)

Die Rechtfertigung Gottes im passiven wie im aktiven Sinne und der Glaube oder die Gläubigkeit an ihn sind dasselbe. Denn daß wir seine Worte rechtfertigen, ist eine Gabe seiner selbst, und wegen eben dieser Gabe hält er uns für gerecht, d.h. macht er uns gerecht. Und seine Worte rechtfertigen wir nur, wenn wir sie für gerecht usw. halten.

Zu Vers 4: Daß »du gerecht erfunden werdest in deinen Worten« bedeutet dasselbe wie jene Stelle: »Es ist aber Gott wahrhaftig und jeder Mensch ein Lügner« und: »daß du siegen mögest, wenn du gerichtet wirst« bedeutet dasselbe wie: »Wird etwa ihr Unglaube die Treue Gottes aufheben?« (V. 3), wie aus dem Gesagten hervorgeht. Daher hat Paulus mit Recht in die Mitte von den beiden Ausdrücken die Worte gestellt: »Wie geschrieben steht«, indem er beides aus der Schrift beweist.

Ebenso wie gesagt ist, daß Gott oder seine Worte gerechtfertigt werden, wenn sie in uns durch den Glauben für gerecht und wahr gehalten werden, was sie ja auch an sich ohne unseren Glauben sind, so ist in ähnlicher Weise zu verstehen, daß wir Sünder und Lügner und Toren werden müssen und daß alle unsere Gerechtigkeit, Wahrheit, Weisheit und Tugend vergehen muß. Das aber geschieht, wenn wir glauben, daß wir Sünder, Lügner usw. sind und daß unsere Tugend und Gerechtigkeit vor Gott ganz und gar nichts ist. Und so werden wir in uns, in unserem Innern, zu solchen Menschen gemacht, wie wir es nach außen (d.h. vor Gott) sind, selbst wenn wir in unserem Innern nicht so sind, d.h. auch wenn wir nicht glauben, daß wir solche Menschen sind. Denn wie Gott allein an sich wahrhaftig und gerecht und mächtig ist, so will er auch nach außen, d.h. in uns, so sein, damit er so verherrlicht werde (denn der Ruhm für alles Gute, das in irgend jemandem innerlich vorhanden ist, besteht in der Verbreitung nach außen und an andere). So will er, daß, wie jeder Mensch nach außen (d.h. vor Gott) lügnerisch, ungerecht und schwach ist, er auch innerlich so werde, d.h. daß er bekenne und erkenne, daß er so sei, wie er ist. Und so veranlaßt uns Gott durch sein Hinausgehen, zu uns selbst hineinzugehen, und durch die Erkenntnis seiner bringt er uns auch die Erkenntnis unser selbst. Denn wenn nicht Gott so zuerst hinausginge und in uns wahrhaftig zu werden suchte, könnten wir nicht zu uns eingehen und Lügner und Ungerechte werden. Denn der Mensch konnte nicht aus sich heraus wissen, daß er vor Gott so dastünde, wenn Gott ihm das nicht enthüllte. »Wer nämlich hat des Herrn Sinn erkannt? Oder wer ist sein Ratgeber gewesen?« (Röm. 11, 34). Sonst hätte der Mensch sich immer für wahrhaftig, gerecht, weise gehalten, besonders da er vor sich und den Menschen so war. Nun aber hat Gott enthüllt, was er über uns denkt und urteilt, nämlich daß wir alle in der Sünde sind. Dieser seiner Enthüllung also oder seinen Worten müssen wir nachgeben und glauben und sie so rechtfertigen und wahr machen und dadurch bekennen, daß wir selbst (was wir nicht erkannt hatten) nach ihnen Sünder sind. So spricht der Apostel 1. Kor. 3, 18: »Wenn einer unter euch weise sein will, der werde ein Narr, auf daß er möge weise sein.« Was er aber über die Torheit sagt, das muß als für alle anderen Unvollkommenheiten (gültig) verstanden werden: daß also wer gerecht, wahrhaftig, mächtig sein will, sündig, lügnerisch und schwach werde. Jener Gang ist geistig, nicht körperlich oder natürlich –nämlich ganz nach dem eigentlichen Sinn, daß vernichtet wird, wer über uns in uns selbst (so) schlecht urteilt. So hat er »zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn« (Luk. 1, 51). Dies ist die ganze Gewalt, die er angewendet hat. Daraus folgt, daß jene Ausdrucksweise überhaupt geistig ist, welche uns Sünder zu werden lehrt. Aber als der Apostel predigte, verstanden sie viele wörtlich und fleischlich. So wird der zum Sünder, der vorher gerecht war, wie er hier im folgenden sagt.

Unter diesem Verständnis steht auch Ps. 51, 5, wenn er sagt: »Denn ich erkenne meine Missetat«, und weiter folgt: »An dir habe ich gesündigt.« Das bedeutet: vor dir bekenne ich mich als Sünder, wenn ich auch vor den Menschen gerecht bin. Nicht aber entgehe ich dadurch dem, daß ich vor dir Sünder bin, »daß du gerechtfertigt werdest«, d.h. daß es dazu komme, daß ich deinen Worten glaube, wodurch auch ich gerechtfertigt werde. Und weiter unten (Ps. 51, 8): »Das Ungewisse und Verborgene deiner Weisheit« usw., d.h. du hast mir jenes Verborgene enthüllt, daß wir vor dir Sünder sind, und aus uns haben wir das nicht.

[Martin Luther: Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516). Zeno.org: Martin Luther: Werke, S. 489-492
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Jörg
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Vorlesung über den Römerbrief (Zusatz)


Wenn wir auch bei uns keine Sünde erkennen, müssen wir doch glauben, daß wir Sünder sind. Daher sagt der Apostel 1. Kor. 4, 4: »Ich bin mir nichts bewußt, aber darin bin ich nicht gerechtfertigt.« Denn wie durch den Glauben die Gerechtigkeit Gottes in uns lebt, so lebt durch denselben auch die Sünde in uns. D.h. nur durch den Glauben müssen wir zugeben, daß wir Sünder sind, denn es ist uns nicht offenbar, vielmehr scheinen wir uns öfter dessen nicht bewußt zu sein. Daher müssen wir dem Urteil Gottes standhalten und seinen Worten Glauben schenken, in denen er sagt, daß wir ungerecht sind, denn er selbst kann nicht lügen. Und so muß es sein, wenn es auch nicht offenkundig ist: »der Glaube nämlich ist der Beweisgrund für die nicht offenkundigen Dinge« (Hebr. 11, 1) und gibt sich mit nichts als mit den Worten Gottes zufrieden. Und in dieser Demut und in diesem Urteil ist prophezeit worden, daß das Reich Christi kommen werde. So nämlich »richtet er unter den Völkern«. Und »dort stehen die Throne zum Gericht« (Ps. 122, 5), weil wir uns selbst fortwährend anklagen, richten, verdammen und als böse bekennen müssen, damit Gott in uns gerechtfertigt werde. So laufen in derselben Glaubensauffassung solche Worte wie:

»Reinige mich von meinen verborgenen Sünden. Wer kennt (alle) seine Vergehen?« (Ps. 19, 13). Und ebenso: »Gedenke nicht meiner Unwissenheit« (Ps. 25, 7).
Das aber ist ganz besonders zu bedenken, daß es nicht genügt, mit dem Munde sich als Sünder, Ungerechten, Lügner, Toren zu bekennen. Denn was ist leichter, zumal wenn man ruhig geworden ist und ohne Versuchung lebt? Aber sobald du dich mit dem Munde als solch einen Menschen bekannt hast, mußt du auch im Herzen fest so über dich urteilen und dich in jedem Werk und im ganzen Leben entsprechend aufführen.

Deswegen ist es sehr selten, daß ein Mensch sich als Sünder anerkennt und glaubt. Wie nämlich könnte der sich als Sünder bekennen, der nicht einmal eine gegen ihn, seine Taten, seine Absichten gerichtete Äußerung ertragen will, sondern alsbald zum Widerspruch aufsteht und dann auch nicht mit dem Munde bekennt, lügnerisch zu sein, sondern geradezu behauptet, er sei wahrhaftig und wohltätig und zu Unrecht werde ihm Widerstand geleistet, fälschlich werde er getadelt. Wenn er irgendwie gezwungen wird, das zu dulden, wird er ganz wütend und ermüdet alle mit der Beschwerde über alle, daß ihm Unrecht geschehe. Seht den Heuchler, der gestanden hatte, daß er ein Sünder sei, wie er nichts, was sich für einen Sünder ziemt, tun und erdulden will, sondern nur was einem Gerechten und Heiligen zukommt.

So sind wir alle bereit zu sagen: Ich bin ein ganz elender Sünder. Aber den Sünder zu spielen, begehrt keiner oder selten einer. Was nämlich verdient ein Sünder anderes als jegliche Strafe und Schande? Und mit dem Munde sich als solchen bekennen, mit der Tat aber nichts leisten wollen, das ist Heuchelei, ist Lüge. Denn für einen Gerechten ziemt es sich, Frieden, Ruhm, Ehre und alles Gute zu haben. Wenn du also bestreitest, gerecht zu sein, mußt du notwendigerweise auch dieses ablehnen. Und wenn du dich als Sünder bekennst, so solltest du dir Strafen, Schimpf und Schande als dein eigentliches Gut und deine Habe zu eigen machen. Das aber solltest du als dir Fremdes meiden, was nur den Gerechten gehört. Wenn dir also Schmähung oder Schimpfwort, wenn dir Geißelung, Unrecht, Schade, Krankheit begegnen und du sagst: Das habe ich nicht verdient, warum soll ich es dulden? Mir geschieht Unrecht, ich bin unschuldig – leugnest du dann nicht, daß du sündig bist, leistest Gott Widerstand und wirst aus deinem eigenen Munde als Lügner überführt, da Gott dich mit diesem allen (gleichwie mit seinen Worten, denn »wenn er spricht, so geschieht's« Ps. 33, 9) als Sünder anklagt und bestätigt, indem er dir das zufügt, was den Sündern zukommt. Und dennoch kann er nicht irren oder lügen. Dann also, wenn du dich zum Widerspruch erhebst, widerstehst du und widersprichst und widerstrebst, gleich als wenn Gott böse, töricht und lügnerisch handelte. Und so bist du denjenigen ähnlich, von denen oben gesprochen wurde: »denen dieda zänkisch sind, die nicht an die Wahrheit, sondern an die Ungerechtigkeit glauben« (Röm. 2, 8). Denn auch du glaubst nicht an die Wahrheit (d.h. daß dir jene Taten Gottes mit Recht zugefügt sind).

Wenn du aber sagst, wenn dir diese Dinge zustoßen: Ja, das ist wahrlich was mir zukommt, mir geschieht recht, das gebe ich gern zu, weil ich wahrlich ein Sünder bin, daß jenes alles gerecht und richtig ist. Fürwahr, ich habe vor dir gesündigt, damit werden diese deine Taten, deine Worte gerechtfertigt, du wahrhaftiger und gerechter Gott, du irrst dich nicht in mir, in dir ist keine Lüge; denn wie du in ihnen zeigst, daß ich ein Sünder bin, so ist es wahr, ich bin es nämlich. Siehe das heißt sagen: »An dir habe ich gesündigt und übel vor dir getan, auf daß du recht behaltest in deinen Worten« (Ps. 51, 6), wie es bei Dan. 3, 31. 29 heißt: »Alles was du uns angetan hast, Herr, hast du uns nach deinem wahren Richterspruch getan, weil wir an dir gesündigt haben« usw. Daher ist es ähnlich: wenn zwei Menschen sich über etwas stritten und einer von ihnen demütig nachgäbe und sagte: Gern gebe ich nach, damit du gerecht und wahrhaft seiest, ich will mich geirrt haben, ich will übel gehandelt haben, damit du recht gehandelt und gedacht hast: wird dann nicht der andere sagen: An dir habe ich unrecht gehandelt, damit du recht denkst? So nämlich wissen sie sich dann eins, während sie sonst durch ihren Streit uneinig geblieben wären. Ja, ja: »Haltet euch nicht selbst für klug« (Röm. 12, 16).

Daher habe ich gesagt, wie selten es vorkommt und wie schwer es ist, ein Sünder zu werden und diesen Vers recht und von Herzen zu sprechen. Denn niemand möchte so leicht in seiner Sinnesart angeklagt, in seinem Tun getadelt und in seinem Rat mißachtet werden. Wer das nämlich tun würde und sagte: Lehre mich bitte, ich will anders, ich will gern anders handeln und so immer ungebunden bliebe, wie glücklich würde der sein! Aber zu tief sitzt der Stolz unseres Denkens und unseres Wollens. Niemand ist nach jeder Richtung frei von dieser Pest, besonders bei plötzlich zuwiderlaufenden Dingen.

Aber wir müssen noch hinzufügen, welches jene Regel ist, nach der der Mensch geistlich zum Sünder werden muß. Sie ist nämlich nicht angeboren. Denn so wird nicht, sondern ist jeder Mensch ein Sünder. Sondern die ganze Gewalt dieser Wandlung liegt in unserem Sinn oder unserer Meinung und Einschätzung verborgen. Diesen (Sinn) nämlich zu verändern bemüht sich jedes Wort der Heiligen Schrift und jedes Handeln Gottes. Dieser (Sinn) nämlich ist die nichtsnutzige Betrachtungsweise und der unverbesserliche Hochmut (menschlich gesprochen). Daher sagt die Heilige Jungfrau (Luk. 1, 51): »Er übet Gewalt mit seinem Arm und zerstreuet, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn«, d.h. die in ihrem Sinn und ihrer Meinung gegenüber Gott Selbstgefälligen. Daher wird dieser Sinn in Psalm 1 (V. 1) als »der Rat der Gottlosen« bezeichnet, und auf verborgene Weise als »das goldene Kalb« in der Wüste, ebenso wie der Götze Baal und Moloch usw., von dem her »die Gottlosen im Gericht nicht bestehen« (Ps. 1, 5). Zum Sünder werden heißt also, daß diese innere Haltung zerstört wird, in der wir hartnäckig glauben, daß wir gut, heilig und gerecht leben, reden und handeln und daß wir eine andere innere Haltung (die von Gott kommt) annehmen, in der wir von Herzen glauben, daß wir Sünder sind, übel handeln, reden, leben, irren und uns so anklagen, richten, verdammen und verabscheuen. »Wer das tut, wird nimmermehr wanken« (Ps. 15, 5).

Dennoch muß alles, was hier gesagt ist, verstanden werden. Man soll z.B. nicht meinen, gerechte, gute, heilige Werke würden verworfen, so daß sie zu unterlassen seien. Sondern (was hier angeführt wurde, bezieht sich) lediglich auf die Sinngebung, die Einschätzung und Betrachtung (dieser) Werke: daß wir nicht so auf sie vertrauen oder sie so einschätzen oder für so würdig halten, als wenn wir durch sie vor Gott als genügend gerecht gälten. Denn um jene eitle Deutung und um die törichte Selbsteinschätzung geht es allein, darum, ihr mit diesen Worten den Garaus zu machen. Im übrigen müssen Werke dieser Art mit größtem Eifer ausgeführt und mit aller Glut geübt werden, zu dem Zweck nämlich, daß wir durch sie gleichsam in vorbereitender Weise für die Gerechtigkeit Gottes geeignet und aufnahmefähig werden, nicht als ob sie Gerechtigkeit wären, sondern damit sie nach Gerechtigkeit verlangen. Und dadurch sind sie eben nicht unsere Gerechtigkeit, solange wir sie uns nicht zur Gerechtigkeit zurechnen. Denn mit all diesen (Werken) müssen wir den Weg des Herrn vorbereiten, der in uns kommen soll. Aber sie sind nicht der Weg des Herrn. Das nämlich ist die Gerechtigkeit Gottes, die der gegenwärtige Herr nach diesen (Werken) allein in uns bewirkt.

[Martin Luther: Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516). Zeno.org: Martin Luther: Werke, S. 492-499
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Jörg
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Vorlesung über den Römerbrief (Zusatz + Kapitel 3, 7)

Gott ist aber höchst wandelbar. Das geht daraus hervor, daß er gerechtfertigt und gerichtet wird, Ps. 18, 27: »Mit dem Erwählten wirst du erwählt sein und mit dem Verkehrten wirst du verkehrt werden.« Denn wie ein jeder innerlich beschaffen ist, so ist ihm Gott gegenübergestellt: Wenn gerecht, so auch gerecht, wenn rein, dann rein, wenn ungerecht, dann ungerecht usw. Daher wird er auch den in Ewigkeit Verdammten ungerecht erscheinen, den Gerechten aber ganz gerecht und so, wie er an sich ist. Dieser Wandel vollzieht sich ganz nach außen hin. Das geht zur Genüge aus dem Wort hervor: »Du wirst gerichtet.« Denn wie Gott nur von außen und vom Menschen gerichtet wird, so wird er auch (von außen her) gerechtfertigt. Daher muß man das »damit du gerecht erfunden werdest« (V. 4) in bezug auf Gott von außen her sagen.

Zu Vers 7: »Wenn aber die Wahrheit Gottes.« Das heißt: Wenn es so zu verstehen ist, daß Gottes Wahrheit ruhmreich ist, wenn ich die Unwahrheit sage, und Gottes Gerechtigkeit ruhmreich, wenn ich Ungerechtigkeiten begehe (das nämlich heißt »nach Menschenweise reden« (V. 5), und so wie jene es aufgefaßt haben, die da sagten: lasset uns Gutes tun), wie kann dann Gott die Welt bestrafen und mich als Sünder verdammen, während er mich vielmehr bekränzen müßte? Denn seine Gerechtigkeit und Wahrheit und Ruhm würden so mehr zunehmen, was er durchaus immer gewollt hat. Und so täten wir seinen Willen, indem wir Böses tun. Durch jene Frage verhindert der Apostel vielmehr, es so zu verstehen, und nicht wie die Worte lauten, nämlich »nach Menschenweise«, sondern wie gesagt in bezug auf Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Denn nicht dadurch wird Gottes Gerechtigkeit hervorgehoben, daß ich Unrecht tue, vielmehr daß ich erkenne, Unrecht begangen zu haben, und aufhöre, es zu tun und so die Gerechtigkeit Gottes, oder die von Gott kommt, ergreife, da auch meine Gerechtigkeit vor ihm als Unrecht gilt, wovon ich nicht Ruhm, sondern Schande bei Gott habe. Und so wird in der Gerechtigkeit, durch die er mich gerecht macht, er selbst allein verherrlicht, weil er allein gerechtfertigt (d.h. als gerecht erkannt) wird. Ebenso ist über die Wahrheit zu sagen, daß nicht dadurch Gottes Wahrheit verherrlicht wird, daß ich lüge, sondern dadurch, daß ich erkenne, daß ich ein Lügner bin und aufhöre, ein Lügner zu sein, indem ich die Wahrheit, die von Gott kommt, annehme, damit ich durch diese und nicht durch meine wahrhaftig werde, damit meine Prahlerei in mir aufhöre, Gott aber allein in mir gerühmt werde, da er allein mich wahrhaftig macht oder zu einem wahrhaftigen Menschen gemacht hat, während meine eigene Wahrheit vor ihm Lüge ist.

Was aber hier über Wahrheit und Lüge, über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit gesagt ist, muß von allen anderen Tugenden und ihrem Gegenteil verstanden werden; von Kraft und Schwäche, von Weisheit und Torheit, von Unschuld und Sünde usw. Über ihnen allen bleibt ja beständig der Gegensatz zwischen Gott und den hochmütigen Menschen, insonderheit den Juden. Denn Gott, der sich ihrer aller als Lügner, Ungerechte, Toren, Schwache und Sünder erbarmt hat, trachtet danach, sie durch seine Wahrheit, Gerechtigkeit, Weisheit, Kraft und Unschuld wahrhaftig, gerecht, weise, stark und unschuldig zu machen und so von der Lüge, der Ungerechtigkeit, der Torheit, der Schwäche und der Sünde zu befreien, damit seine Wahrheit, Gerechtigkeit, Weisheit, Stärke und Unschuld in ihnen und von ihnen gerühmt und hervorgehoben werden. Damit sind jene Hochmütigen, die schon aus sich selbst und aus eigenen Kräften wahrhaftig, gerecht, weise, stark und unschuldig sind, nicht einverstanden und widersprechen Gott und urteilen dadurch über ihn und machen ihn zum Lügner, Ungerechten, Törichten, Schwachen und Sünder, so wie es bei ihnen steht. Denn sie richten ihre Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Weisheit, Stärke und Unschuld auf und wollen nicht für Lügner, Ungerechte, Törichte, Schwache und Sünder gehalten werden. Entweder also ist es Gott oder sind es jene, die notwendigerweise lügen, ungerecht, schwach usw. sind.

Es ist ähnlich, so heißt es bei Persius, wie wenn ein Arzt, der einen Kranken heilen will, einen Menschen vorfände, der bestreitet, krank zu sein und den Arzt für töricht und schlimmer krank als er selbst erklärt, da er sich anmaße, gesunde Menschen heilen zu wollen. Wegen dessen Widerstand also kann der Arzt nicht zur Anwendung seiner Kunst und seiner Medizin gelangen. Er würde aber dazu gelangen, wenn jener Kranke seine Krankheit zugäbe, sich heilen ließe und sagte: Wahrlich, ich bin krank, damit du gerühmt werdest, gesund seiest und auch erklärt würdest, nämlich wenn du mich geheilt hast. So glauben jene Gottlosen und Hochmütigen, obwohl sie vor Gott krank sind, selbst völlig gesund zu sein. So lehnen sie nicht nur Gott als Arzt ab, sondern halten ihn sogar für einen Toren und Lügner und für schlimmer krank, da er ja sich anmaßte, die Kerngesunden heilen zu wollen, so als ob sie krank wären. Sie beschuldigen aber nicht Gott selbst so in seinem Wesen (da ja kein Geschöpf, fürwahr auch keine Bosheit dies tun kann), sondern in seinen Worten. Daher hat Paulus in vortrefflicher Weise hinzugefügt: »Auf daß du in deinen Worten gerecht erfunden werdest.« Gottes Worte nämlich, die von ihm selbst zu ihnen gesandt worden sind, werden für töricht, lügenhaft und unklug gehalten, gleich als ob sie nicht Gottes Worte wären. Er hat nämlich angeordnet, jene durch sein Wort zu heilen. Aber da jene bestreiten krank zu sein, halten sie ihn für töricht und für schlimmer krank, widerstreben und widersprechen ihm, verurteilen und verdammen ihn. Doch vergebens! Denn sie siegen, wenn sie so gerichtet werden, oder Gott siegt in seinen so gearteten Worten, wenn er von ihnen in diesen gerichtet wird. Dadurch nämlich, daß sie ihn ablehnen, wird offensichtlich klar, daß sie ihn für töricht, unklug und schwach halten, während sie selbst verkünden, daß sie nur die Weisheit, Kraft und Wahrheit lieben, gleich als ob sie sagten: Ist der etwa weise, der uns als unklug beschuldigt? Fürwahr, er ist unklug, weil wir doch die Weisheit haben, ihr nachfolgen. Und so mit allem anderen. Ist etwa der (nämlich Gott oder sein Wort) wahrhaft, gerecht, stark usw., der uns als Lügner, Ungerechte und Schwache beschuldigt, obschon wir doch die Wahrheit, die Gerechtigkeit und die Kraft bewahren? Fürwahr er ist vielmehr so beschaffen, weil er nicht gleich uns weiß, wo allein diese Tugenden zu finden sind. So haben sie in derselben Weise im Evangelium (Joh. 9, 24) von Christus gesagt: »Wir wissen, daß dieser Mensch ein Sünder ist.« Und wiederum (Joh. 9, 16): »Dieser Mensch ist nicht von Gott.« Daher heißt es auch Ps. 4, 7: »Viele sagen: wer wird uns Gutes sehen lassen?« d.h. da wir wissen, was gut ist, so irrt vielmehr derjenige, der sich anmaßt, uns anders zu belehren, und wird nichts Gutes zeigen. Wie es Joh. 9, 40f. heißt: »Sind wir denn auch blind?« Und Jesus antwortete: »Wäret ihr blind, so hättet ihr keine Sünde; nun ihr aber sprecht: Wir sind sehend, bleibt eure Sünde.«

Ziehen wir also den Schluß, daß Gott in seinen Worten nicht weise, gerecht, wahrhaft, stark, gut usw. sein kann, wenn wir nicht ihm glaubend und vor ihm zurückweichend bekennen, daß wir unklug, ungerecht, lügenhaft, schwach und böse sind. Also ist Demut und Glaube nötig. Dies allein wird in jenen Worten (des Paulus) gesucht und festgestellt, auf daß wir vollends nichts werden, von allem entleert werden und uns selbst entblößen. Und so wollen wir mit dem Propheten (Ps. 51, 6) sprechen: »An dir allein habe ich gesündigt, auf daß du in deinen Worten gerechtfertigt werdest.« Vor dir bin ich töricht und schwach, damit du weise und stark in deinen Worten seiest. Denn so lehrt die ganze Schöpfung. Hier ist der Arzt nur nötig für die Kranken, wird nur das Schaf gesucht, das verlorengegangen ist, wird nur der Gefangene befreit, wird nur der Arme reich gemacht, wird nur der Schwache gekräftigt, wird nur der Gedemütigte erhöht, wird nur aufgefüllt, was leer ist, wird nur aufgebaut, was unerbaut ist. Und wie die Philosophen sagen: Eine Form wird nur eingeführt, wo keine vorhanden oder die vorhergehende aufgegeben ist. Und: der fähige Verstand nimmt eine Form nur auf, wenn er im Grunde seines Wesens von aller Form entblößt und gleichsam ein unbeschriebenes Blatt ist.

Da also alle Kreatur so spricht, kann es nicht geschehen, daß jemand, der voll seiner eigenen Gerechtigkeit ist, von der Gerechtigkeit Gottes erfüllt werde, der nur die Hungernden und Dürstenden stillt. Daher ist auch einer, der von seiner Wahrheit und Weisheit satt ist, nicht fähig, Gottes Wahrheit und Weisheit aufzunehmen, die nur in eine Leere hinein aufgenommen werden kann. Also wollen wir zu Gott sagen: O wie gern sind wir leer, auf daß du in uns voll werdest. Gern bin ich schwach, auf daß deine Kraft in mir wohne; gern sündig, auf daß du in mir gerechtfertigt werdest; gern töricht, damit du meine Weisheit seiest; gern ungerecht, auf daß du meine Gerechtigkeit seiest! Und das ist es, was in den Worten liegt: »An dir habe ich gesündigt, auf daß du in deinen Worten gerechtfertigt werdest.«

[Martin Luther: Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516). Zeno.org: Martin Luther: Werke, S. 499-506
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

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Vorlesung über den Römerbrief

Zusammengefasst: Gott wird also auf dreierlei Art gerechtfertigt. Erstens, wenn er die Ungerechten bestraft; dann zeigt er sich nämlich als gerecht und seine Gerechtigkeit wird durch die Bestrafung unserer Ungerechtigkeit offenbart und hervorgehoben. Aber das heißt etwas Unbedeutendes hervorheben, da ja auch der Gottlose den Gottlosen bestraft. Weiterhin durch Zufall oder Vergleich, wie nebeneinandergestellte Gegensätze einander deutlicher machen als für sich allein hingestellte. Daher ist Gottes Gerechtigkeit um so herrlicher, je schlimmer unsere Ungerechtigkeit ist. So ist der Apostel an dieser Stelle nicht zu verstehen, da dies die innere und formale Gerechtigkeit Gottes ist.

Drittens, wenn er die Gottlosen gerecht macht und Gnade eingießt, oder wenn man glaubt, daß er in seinen Worten gerecht ist. Durch solches Glauben macht er nämlich gerecht, d.h. rechnet er als gerecht an. Daher heißt diese Gerechtigkeit Gerechtigkeit des Glaubens und Gottes. Ähnlich kann sich ein tüchtiger Meister auf dreifache Weise empfehlen. Erstens, indem er die (in seinem Handwerk) Unerfahrenen beschuldigt und tadelt, wo sie irren. Zweitens, indem er mit ihnen verglichen klüger als jene erscheint. Drittens, indem er seine Kunstfertigkeit an andere weitergibt, die sie noch nicht hatten. Und das ist die wahre Empfehlung. Denn andere nicht tadeln oder (selbst) als Meister auftreten, das heißt ein lobenswerter Meister sein, aber zu Meistern ausbilden, das heißt ein guter Meister sein. So ist der gerechte Gott tatsächlich preiswürdig in uns. Aber wie die Unerfahrenen ablehnen, belehrt zu werden, so wollen die Hochmütigen nicht gerecht gemacht werden.

Dreifach wird Gott gerechtfertigt, als wahrhaftig erwiesen usw. Erstens, indem er den Ungerechten, den Lügner, den Toren usw. straft und verdammt; dann nämlich erweist er sich als gerecht, wahrhaftig usw. Und so wird seine Gerechtigkeit, Wahrheit usw. durch unsere Ungerechtigkeit und Lüge empfohlen und verherrlicht, weil sie (dadurch) offenbar wird. Aber diese Empfehlung ist unbedeutend. Denn auch der Lügner straft und beschuldigt oft einen (andern) Lügner, der Ungerechte einen Ungerechten, und wird deshalb doch nicht sofort als ganz wahrhaftig und gerecht gerühmt. Zweitens relativ. Wie nebeneinandergestellte Gegensätze einander deutlicher machen als für sich allein hingestellte, so ist seine Gerechtigkeit um so herrlicher, je schlimmer unsere Ungerechtigkeit ist. Von diesen beiden Arten redet der Apostel nicht, da es sich um die innere und formale Gerechtigkeit Gottes handelt, von der er nicht spricht.

Drittens tatsächlich, d.h. da wir uns aus uns selbst nicht rechtfertigen können und an ihn uns wenden, daß er uns gerecht mache, indem wir bekennen, daß wir die Sünde nicht zu überwinden vermögen. Das tut er, wenn wir seinen Worten glauben, durch solches Glauben macht er uns nämlich gerecht, d.h. sieht uns als Gerechte an. Daher wird dies tatsächlich die Gerechtigkeit des Glaubens und die Gerechtigkeit Gottes genannt.


Zusatz

Der Apostel sagt hier (Röm. 3, 5) keineswegs, daß »unsre Ungerechtigkeit die Gerechtigkeit Gottes hervorkehren soll«, sondern er leugnet das vielmehr, weil es nicht wahr ist. Er untersucht es aber im Namen derjenigen, welche glaubten, daß dies aus den Worten des Psalms hervorgehe, was aber keineswegs der Fall ist. Denn der Psalm und auch der Apostel meinen nicht, daß unsere Sünde Gott rechtfertige oder hervorhebe, sondern die Erkenntnis und das Bekenntnis der Sünde. Daher sagt er (Ps. 51, 5) »Denn ich erkenne meine Missetat« usw. und dann folgt (Ps. 51, 6): Und so »habe ich an dir allein gesündigt« (d.h. ich erkenne, daß ich vor dir allein ein Sünder bin. Denn diese Erkenntnis macht die Gerechtigkeit Gottes begehrenswert und das Bekenntnis macht sie rühmlich. Wenn ich nämlich erkenne, daß ich vor Gott nicht gerecht sein kann, weil Ps. 143, 2 geschrieben steht: »Vor dir ist kein Lebendiger gerecht« und vieles Ähnliche an anderen Stellen, an denen Gott sagt, daß wir in Sünden sind), dann beginne ich, von ihm Gerechtigkeit zu erbitten. Und so hat die Erkenntnis der Sünde mich dahin gebracht, daß Gott in mir gerechtfertigt wurde (d.h., daß ich ihm glaubte und er mich so gerecht machte). Und das Bekenntnis der Sünde rühmt und verherrlicht ihn danach, weil er allein gerecht und unser Gerechtmacher ist. Wie er nicht gerühmt wird, wo die Sünde nicht gestanden oder erkannt und auch seine Gerechtigkeit nicht erstrebt wird, und zwar von denen, welchen ihre eigene gefällt und genügt.

[Martin Luther: Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516). Zeno.org: Martin Luther: Werke, S. 506-510
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

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Vorlesung über den Römerbrief (Kapitel 3, 8-11)

Zu Vers 8: Aus diesem Text des Apostels geht genügend deutlich hervor, daß der Apostel sich in diesem Briefe nicht in erster Linie gegen die wendet, die offenbare Sünder sind, sondern gegen diejenigen, die sich selbst gerecht dünken und darauf vertrauen, durch ihre Werke selig zu werden. Diese nämlich bemüht er sich dahin zu bringen, daß sie die Gnade Gottes hoch schätzen, die aber nicht hoch geschätzt werden kann, wenn nicht die Sünde, welche durch sie vergeben wird, vorher erkannt und als groß gesehen wird. Daraufhin glaubten die anderen, als sie dies hörten, höchst empört, der Apostel lehre, man müsse Böses tun, damit die Ehre Gottes hoch geschätzt würde. So nämlich geht unsere Ungerechtigkeit und unsere Lügenhaftigkeit »über die Ufer zu seinem Ruhm«, während wir durch ihr Bekenntnis gedemütigt Gott für seine überreiche Gnade rühmen, mit der er derartig vergibt. Auf diese Weise würde er nicht gerühmt werden, wenn wir meinten, daß wir seiner Gnade nicht bedürfen, sondern daß wir vor ihm für uns genug tun könnten. Besser also ist der, welcher erkennt, daß er viele Sünden und keine Gerechtigkeit habe als der, welcher behauptet, viele Gerechtigkeiten zu haben und keine Sünde, wie der Pharisäer (Luk. 18, 11f.). Denn jener rühmt Gottes Barmherzigkeit, dieser aber seine (Selbst-) Gerechtigkeit.

Zu Vers 9: »Daß alle unter der Sünde sind.« Dieser ganze Text ist als im Geist gesprochen zu verstehen, d.h. daß nicht von den Menschen geredet wird, wie beschaffen sie in ihren Augen und vor den Menschen sind, sondern wie sie vor Gott sind, wo alle unter der Sünde sind, nämlich sowohl diejenigen, die offensichtlich auch für die Menschen böse sind, als auch diejenigen, die sich selbst und den Menschen gut erscheinen.
Und der Grund dafür ist, daß zwar diejenigen, welche offensichtlich böse sind, sündigen nach dem äußeren und inneren Menschen und sind auch bei sich selbst ohne jeden Schein von Gerechtigkeit. Aber die sich selbst und den Menschen nach außen gut erscheinen, sündigen nach dem inneren Menschen. Denn wenn sie auch nach außen hin gute Werke vollbringen, so tun sie das aus Furcht vor Strafe oder aus Liebe zum Vorteil, zum Ruhm oder zu anderem Irdischen, nicht aus freiem Willen oder mit frohem Sinn. Und so wird zwar der äußere Mensch mit guten Werken bemüht, aber der innere ist übervoll von Begierden und entgegengesetzten Wünschen. Denn wenn es ihm straflos erlaubt wäre oder wenn er wüßte, dass sich nicht Ruhm oder auch Ruhe daraus ergäben, so würde er lieber das Gute aufgeben und gleich wie jene das Böse tun.

Was ist also vor Gott der Unterschied zwischen dem, der das Böse tut, und dem, der es tun möchte, wenn er es nur nicht tut, weil er durch Furcht gezwungen oder durch Liebe zu irdischem Gut verlockt wird? Dann ist dieser Mensch der schlechteste von allen, wenn er behauptet, daß solche äußere Gerechtigkeit genügt, und denen Widerstand leistet, welche die innere Gerechtigkeit lehren. Wenn er angeklagt wird, verteidigt er sich oder meint, es betreffe ihn nicht, wenn er dahingehend beschuldigt wird, nicht daß er nicht handelt, sondern daß er nicht aus einfältigem Herzen handelt und nicht auch seinen Willen bessert, durch den er Dinge begehrt, die seinem Handeln entgegen sind. Dann sind ja seine guten Werke in doppelter Hinsicht schlecht: erstens, weil sie nicht aus gutem Willen getan und somit böse sind. Zweitens, weil sie durch unerhörten Hochmut als gut hingestellt und verteidigt werden. So heißt es Jer. 2, 13: »Mein Volk tut eine zwiefache Sünde« usw. Wenn daher nicht durch die Gnade Gottes (die er den an Christus Glaubenden versprochen hat und gewährt) jener Wille geheilt wird, so daß wir frei sind und fröhlich bereit zu den Werken des Gesetzes, indem wir nur danach verlangen, Gott zu gefallen und seinen Willen zu vollbringen und nicht aus Furcht vor Strafe oder aus Liebe zu unserem eigenen Vorteil handeln, solange sind wir immer unter der Sünde.

Zu Vers 10: Daher sagt er: »Es ist keiner gerecht.« Wahrlich: hier möge ein jeder für sich zusehen und die Augen öffnen und ganz eifrig darauf achten. Selten nämlich ist der Gerechte, den der Apostel hier sucht. Das kommt daher, daß wir uns nur selten so tief erforschen, daß wir diese Schwäche des Willens, ja, diese Pest, erkennen. Daher demütigen wir uns so selten, suchen so selten in rechter Weise die Gnade Gottes, weil wir es nicht einsehen, wie er hier sagt. So fein ist nämlich diese Pest, daß sie selbst von geistig sehr hochstehenden Männern nicht vollständig getroffen werden kann. Daher seufzen und flehen die wahrhaft Gerechten um die Gnade Gottes nicht allein weil sie sehen, daß sie einen bösen Willen und damit Sünde vor Gott haben, sondern auch weil sie sehen, daß sie niemals vollkommen erkennen können, wie tief und unendlich schlecht ihr Wille ist. So glauben sie immer, Sünder zu sein, gleich als wäre ihr böser Wille unendlich tiefgründig. So werden sie gedemütigt, so jammern und seufzen sie, bis sie als Vollendete geheilt werden, was im Tode geschieht.

Zu Vers 11. Zuerst sagt der Apostel: »es gibt keinen Verständigen«, dann erst: »keinen, der nach (Gott) sucht«. Denn das Wissen ist früher als das Wollen und das Handeln; »Suchen« erfordert Neigung und Handeln. Aber dieses (beides) kommt später als das Verstehen. Also kommen die zur Linken stehenden Gottlosen nicht zur Einsicht, weil sie durch sichtbare Dinge in der Eitelkeit der Begierde geblendet werden. Die zur Rechten Stehenden aber kommen nicht zur Einsicht, weil sie durch die eigene Auffassung von ihrer Weisheit und Gerechtigkeit gehindert werden. Und so sind sie sich selbst ein Hindernis für den Empfang des göttlichen Lichtes. So wird nach diesen beiden Arten der Mensch mit Recht als gerecht bezeichnet, wenn er verständig ist und gemäß dieser Art von Einsicht nach Gott sucht. Sonst ist die Einsicht ohne das Suchen tot, wie auch der Glaube ohne Werke tot ist und nicht lebendig oder gerecht macht. Umgekehrt wird er als ungerecht bezeichnet, wenn er weder einsieht noch sucht. Daher hat er auch vorausgeschickt: »Es gibt keinen Gerechten.« Das gleichsam erklärend, was es heiße, nicht gerecht zu sein, sagt er: er ist ja ohne Einsicht und sucht nicht nach Gott.

[Martin Luther: Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516). Zeno.org: Martin Luther: Werke, S. 510-514
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

Jörg
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Vorlesung über den Römerbrief (Zusatz und Kapitel 3, 20)

Dieses Verstehen, von dem er hier spricht, ist eben der Glaube oder das Erkennen der unsichtbaren, der zu glaubenden Dinge. So ist es ein Verstehen im Verborgenen, da es sich auf die Dinge bezieht, die der Mensch von sich aus nicht erkennen kann, wie es bei Joh. 14, 6 heißt: »Niemand kommt zum Vater denn durch mich.« Und wiederum (6, 44): »Es kann niemand zu mir kommen, es sei denn, daß ihn ziehe der Vater.« Und zu Petrus (spricht er Matth. 16, 17): »Selig bist du, Simon, Jonas Sohn; denn Fleisch und Blut hat dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel.« Wie also sollen die gottlosen und auf ihre Sinne bauenden Menschen zur Linken das anerkennen, die doch nur sichtbare Dinge so hoch einschätzen? Und wie auch die zur Rechten, die nur ihre eigene Meinung erwägen und abwägen? Beide errichten sich eine Sperre und ein gar fremdes Hindernis gegen das Licht dieser Einsicht. Die Hinneigung aber zu Gott und das Fragen nach Gott ist eben die Liebe zu Gott, die bewirkt, daß wir wollen und gern mögen, was uns der Verstand hat einsehen lassen. Denn wenn man auch einsieht und glaubt, so kann man doch ohne die Gnade nicht lieben und gern tun, was man geglaubt und eingesehen hat.

Sehr schön aber sagt er (der Apostel): »Es gibt keinen, der (nach Gott) fragt.« Denn dieses Leben wird durchlaufen, nicht indem wir Gott haben, sondern indem wir ihn suchen. Immer müssen wir suchen und fragen, d.h. wieder und wiederum suchen. Wie es Ps. 105, 4 heißt: »Suchet sein Antlitz allezeit!« Und Ps. 122, 4: »Wohin die Stämme hinaufziehen« usw. So nämlich geht man von einer Kraft zur anderen, von einer Klarheit zur anderen in dieselbe Gestalt hinein. Denn nicht wer anfängt und sucht, sondern »wer beharret« und nachsucht »bis ans Ende, der wird selig« (Matth. 10, 22), indem er immer wieder beginnt, sucht und das Gesuchte immer wieder durchsucht. Wer nämlich auf dem Wege Gottes nicht vorwärts schreitet, der fällt zurück. Und wer nicht sucht, verliert das Gesuchte, weil man auf dem Wege Gottes nicht stillstehen darf. »Und sobald wir anfangen, nicht besser werden zu wollen, hören wir auf gut zu sein«, wie der heilige Bernhard sagt.

Zu Vers 20: Es fragt sich nun: wie kann ohne die Werke des Gesetzes die Rechtfertigung vor sich gehen und »aus des Gesetzes Werken« keine Rechtfertigung eintreten, obgleich Jak. 2, 26 ganz deutlich sagt: »Der Glaube ohne Werke ist tot« und »daß der Mensch durch die Werke gerecht wird« (2, 24), unter Hinweis auf das Beispiel Abrahams und der Rahab? Ebenso Paulus selbst (Gal. 5, 6): »der Glaube, der durch die Liebe tätig ist« und oben Kap. 2, 13: »Die das Gesetz tun, sind vor Gott gerecht.« Die Antwort lautet: Der Apostel unterscheidet wie zwischen Gesetz und Glauben oder zwischen Buchstaben und Gnade, so auch zwischen ihren Werken. Werke des Gesetzes nennt er solche, die ohne Glauben und Gnade und auf Grund des Gesetzes, das durch Furcht zwingt oder durch das Versprechen irdischer Vorteile verlockt, geschehen. Werke des Glaubens aber nennt er solche, die aus dem Geist der Freiheit, allein aus Liebe zu Gott geschehen. Und diese können nur von denen vollbracht werden, die durch den Glauben gerechtfertigt sind; zu dieser Rechtfertigung aber tragen des Gesetzes Werke nichts bei, ja sie sind sogar außerordentlich hinderlich, weil sie nicht zulassen, daß der Mensch sich selbst für ungerecht und der Rechtfertigung bedürftig hält.

Ein Vergleich möge hier Platz finden: Wenn ein Laie alle Amtshandlungen eines Priesters äußerlich durchführt, indem er die Messe feiert, firmt, Absolution erteilt, die Sakramente verwaltet, Altäre, Kirchen, Gewänder, Gefäße usw. weiht, so ist es sicher, daß diese Werke in allen Punkten völlig ähnlich denen eines wirklichen Priesters sind, ja vielleicht passender und vollkommener als die wahren. Aber weil er selbst nicht geweiht, ordiniert und geheiligt ist, bewirkt er ganz und gar nichts, sondern spielt nur und täuscht sich und die Seinen. So steht es mit den gerechten, guten, heiligen Werken, die außerhalb oder vor der Rechtfertigung vollbracht sind. Gleichwie nämlich dieser Laie durch solche Verrichtungen nicht zum Priester wird, es aber werden kann, nämlich durch Ordinarien, so wird auch der Gerechte nicht aus dem Gesetz gerecht durch eben diese Werke des Gesetzes, ja vielmehr ohne diese durch etwas anderes, nämlich durch den Glauben an Christus, durch den er gerechtfertigt und gleichsam ordiniert wird, daß er gerecht sei, um die Werke der Gerechtigkeit zu vollbringen, gleichwie ein Laie zum Priester ordiniert wird, um die Amtshandlungen eines Priesters auszuführen. Und es kann vorkommen, daß der aus dem Gesetz und Buchstaben Gerechte sogar schönere und eindrucksvollere Werke vollbringt als der aus der Gnade Gerechte. Aber dennoch ist er dadurch nicht gerecht, sondern wird durch sie um so mehr gehindert, zur Gerechtigkeit und zu den Werken der Gnade zu gelangen.

Und ein anderer Vergleich: Ein Affe kann sehr schön die Handlungen der Menschen nachahmen, aber dadurch ist er kein Mensch. Und wenn er zum Menschen würde, so würde er das zweifellos nicht kraft dieser Handlungen werden, mit denen er dem Menschen nacheiferte, sondern durch eine andere, nämlich Gottes Kraft; zum Menschen geworden würde er aber dann richtig durchaus der Menschen Werke vollbringen. Wenn also der heilige Jakobus und der Apostel (Paulus) sagen, daß der Mensch aus seinen Werken gerechtfertigt werde, so kämpfen sie gegen die falsche Auffassung derjenigen, die da meinten, daß ein Glaube ohne seine Werke genüge; denn der Apostel (Paulus) sagt nicht, daß der Glaube ohne seine zugehörigen Werke rechtfertigt (weil es dann kein rechter Glaube wäre, da die Wirkung das Vorhandensein der Form beweist, wie die Philosophen sagen), sondern ohne die Werke des Gesetzes. Also erfordert die Rechtfertigung nicht die Werke des Gesetzes, sondern den lebendigen Glauben, der seine Werke tut (Gal. 5, 6).

Wenn nun aber der Glaube mit seinen Werken, jedoch ohne des Gesetzes Werke, gerecht macht, warum sind die Ketzer als außerhalb der Rechtfertigung stehend angesehen, da sie doch auch glauben und aus demselben Glauben Großes wirken und fast Größeres als die übrigen Gläubigen? Fürwahr auch alle die stolzen Geister in der Kirche, deren große und zahlreiche Werke durchaus aus dem Glauben hervorgehen, sollen sie dennoch ungerecht sein? Es scheint also zur Rechtfertigung etwas anderes erforderlich zu sein als der Glaube an Christus mit seinen Werken?

Die Antwort gibt in Kürze jenes Wort des Jakobus (2, 10): »Wer an einem sündiget, der ist's ganz schuldig. « Der Glaube nämlich besteht in etwas Unteilbarem; entweder ist er vollständig und glaubt an alles, was man glauben muß, oder er ist gar nicht da, wenn er nur eines nicht glaubt. So vergleicht ihn der Herr (Matth. 13, 45f. 31f.) mit einer Perle, einem Senfkorn usw. Da »Christus nicht zertrennt ist« (1. Kor. 1, 13), wird er entweder in einem gänzlich geleugnet oder gänzlich bejaht. Und er kann nicht zugleich geleugnet und bekannt werden in einem und dem anderen Worte. Die Ketzer aber suchen sich aus den zu glaubenden Dingen immer eines oder mehreres heraus, wogegen sie in ihrem Hochmut ihren Sinn richten, gleichsam als wüßten sie es besser als alle übrigen. Und somit glauben sie nichts von den zu glaubenden Dingen und gehen zugrunde ohne Glauben, ohne Gehorsam zu Gott in ihren großen der Wahrheit ganz ähnlichen Werken, nicht anders als die Juden, die selbst auch vieles glauben, was in Wahrheit auch die Kirche glaubt. Aber einem allein setzen die Hochmütigen den Sinn ihres Herzens entgegen, nämlich Christus, daher gehen sie in ihrer Treulosigkeit zugrunde. So widersetzt sich auch jeder Hochmütige in seiner Meinung sowohl der Vorschrift als auch dem Rat dessen, der ihn in rechter Weise zu seinem Heil mahnt. Da er diesem nicht glaubt, so glaubt er demgemäß gar nichts und sein ganzer Glaube ist hinfällig geworden wegen der Verbohrtheit in dieser einen Meinung. Immer müssen wir also mit unserer Meinung demütig zurückweichen, damit wir nicht an diesen Stein des Anstoßes geraten, nämlich an die uns in Demut begegnende und unserer Meinung entgegengesetzte Wahrheit. Da wir nämlich Lügner sind, kann die Wahrheit nur in entgegengesetzter Gestalt zu uns kommen, als wir meinen, da wir beanspruchen, die Wahrheit im Sinne zu führen und nur die Wahrheit hören und sehen wollen, die mit uns übereinstimmt und uns Beifall spendet. Aber das kann nicht geschehen.

Also sind die Werke all dieser Leute Werke des Gesetzes, nicht aber des Glaubens oder der Gnade, ja sogar dem Glauben zuwider und gegen ihn streitend. Daher kann nicht nur ohne sie, sondern es muß sogar ohne sie die Rechtfertigung geschehen und (sie müssen) gemäß dem Wort des Apostels »für Kot geachtet werden um Christi willen« (Phil. 3, 8).

[Martin Luther: Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516). Zeno.org: Martin Luther: Werke, S. 514-521
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

Jörg
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Vorlesung über den Römerbrief (Zusatz)

Gesetzeswerke werden nicht die (Werke) genannt, die in der Vorbereitung auf die Erlangung der Rechtfertigung hin geschehen, sondern solche, die so eingeschätzt werden, als ob sie an sich für die Rechtfertigung und das Heil ausreichten. Denn wer Werke in der Weise vollbringt, daß er sich dadurch für die Gnade der Rechtfertigung bereit macht, der ist gewissermaßen schon gerecht. Denn ein großer Teil der Gerechtigkeit ist der Wille, gerecht zu sein. Sonst wären die Stimmen und die Seufzer aller Propheten, mit denen sie Christus riefen, ja sinnlos gewesen und das Wehklagen aller Bußfertigen wäre umsonst. Sonst hätten Christus und Johannes vergeblich gelehrt: »Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!« (Matth. 3, 2). Fürwahr, solange alle Gerechten dergleichen nur täten, um mehr und mehr gerechtfertigt zu werden, so wäre niemand gerecht. Also sind diese Werke gut, denn sie verlassen sich nicht darauf, sondern bereiten sich dadurch auf die Rechtfertigung vor, in der – wie sie zuversichtlich hoffen – allein ihre Gerechtigkeit liegen werde. Die aber, die solche Werke tun, sind nicht unter dem Gesetz, denn sie trachten nach Gnade und hassen es, Sünder zu sein. Die Werke des Gesetzes sind schließlich etwas anderes als die Erfüllung des Gesetzes.

Die Erfüllung des Gesetzes ist nämlich die Gnade, nicht aber die Werke. Und treffend spricht er zwar von »Werken des Gesetzes«, nicht aber vom »Willen des Gesetzes«, denn sie wollen nicht, was das Gesetz will, mögen sie auch tun, was das Gesetz befiehlt. Das Gesetz aber will und beansprucht den Willen. Andere aber tun ihre Werke so, daß sie das Gesetz zu erfüllen und somit gerecht zu sein glauben. Sie trachten nicht nach der Gnade, sie erkennen es nicht und hassen es nicht, daß sie Sünder sind, weil sie (nur) nach dem Buchstaben des Gesetzes mit Werken umgegangen sind; sie sind nicht auf die Erlangung der Gerechtigkeit eingestellt, sondern rühmen sich, als hätten sie sie durch ihre Werke schon in ihren Besitz gebracht und erlangt. Dabei merken sie bei sich selbst nicht, daß sie das Gesetz entweder ohne ihren Willen, ja unwillig und widerstrebend oder zumindest aus der Liebe und dem Streben nach irdischen Dingen und nicht aus Liebe zu Gott halten. Und so stehen sie zufrieden da, und richten die (Werke) nicht auf die Erlangung der Gnade aus, wodurch sie auch Lust am Gesetz hätten. Fürwahr, weder die ihr voraufgehenden noch die ihr nachfolgenden Werke rechtfertigen, um wieviel weniger die Werke des Gesetzes! Die voraufgehenden allerdings, weil sie auf die Gerechtigkeit vorbereiten, die nachfolgenden jedoch, weil sie der bereits erfolgten Rechtfertigung bedürfen. Nicht wenn wir gerechte Werke tun, werden wir nämlich gerecht gemacht, sondern (umgekehrt) wenn wir gerecht sind, tun wir gerechte Werke. Also rechtfertigt allein die Gnade.

[Martin Luther: Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516). Zeno.org: Martin Luther: Werke, S. 521-523
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

Jörg
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Vorlesung über den Römerbrief (Kapitel 3, 21)

Zu Vers 21: (So) Augustinus in Kap. 9 von »Über Geist und Buchstaben«: »›Die Gerechtigkeit Gottes‹: er (Paulus) hat nicht gesagt: ›die Gerechtigkeit des Menschen‹, ›die Gerechtigkeit des eigenen Wollens‹, sondern: ›die Gerechtigkeit Gottes‹, nicht die, durch die Gott gerecht ist, sondern jene, mit der er den Menschen bekleidet, wenn er den Gottlosen rechtfertigt. So wie auch mit ›Christusglaube‹ nicht der gemeint ist, mit dem Christus glaubt, sondern ›womit man an Christus glaubt‹; genauso ist auch jene Gerechtigkeit, nicht die, durch die Gott gerecht ist. Beides geht nämlich auf uns. Die Beziehung zu Gott und zu Christus wird aber deshalb zum Ausdruck gebracht, weil wir durch seine Güte damit beschenkt werden.« Ebenso Kap. 11. Hier aber (fährt er fort): »Wie könnte sie (= die Gerechtigkeit) durch das Gesetz bezeugt sein, wenn sie ohne das Gesetz offenbart wäre? Die ›Gerechtigkeit ohne das Gesetz‹ ist vielmehr die, welche Gott dem Gläubigen durch den Geist der Gnade verleiht ohne Zutun des Gesetzes, d.h. vom Gesetz nicht unterstützt. Zeigt er dem Mensch doch durch das Gesetz seine Schwachheit, damit dieser mit Hilfe des Glaubens zu seiner Barmherzigkeit seine Zuflucht nehme und geheilt werde. Von seiner Weisheit heißt es ja, sie führe Gesetz und Barmherzigkeit im Munde (vgl. Sprüche 31, 26), und zwar das Gesetz, um daran die Hochmütigen schuldig werden zu lassen, die Barmherzigkeit aber, um damit die Erniedrigten zu rechtfertigen.«

»Bezeugt durch das Gesetz.« Genauso Habakuk 2, 4: »Der Gerechte aber wird durch seinen Glauben leben«, Hosea 2, 22: »In Treue will ich mich mit dir verloben.« »Da will ich mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen. Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben«, Jer. 31, 31. 33. Ebenso bringt auch das 1. Buch Mose das Beispiel Abrahams und anderer, die aus dem Glauben gerechtfertigt werden (vgl. 1. Moses 15, 6). Dazu Augustinus in Kap. 13 von »Über Geist und Buchstaben«: »Was das Gesetz der Werke mit Drohen gebietet, das erreicht das Gesetz des Glaubens durch Glauben. Jenes sagt: ›Du sollst nicht begehren‹ (2. Mose 20, 17), dieses sagt: ›Da ich aber erfuhr, daß ich nicht anders könnte züchtig sein, trat ich zum Herrn‹ (Weish. 8, 21) usw.« »Mit Bezug auf das Gesetz der Werke sagt Gott deshalb: Tue, was ich befehle. Nach dem Gesetz des Glaubens wird zu Gott gesprochen, nämlich in demütigem Gebet: Gib, was du befiehlst. Das Gesetz befiehlt nämlich, um darauf aufmerksam zu machen, was der Glaube leisten soll (d.h. verpflichtet ist zu leisten), d.h. damit derjenige, der den Befehl erhält, weiß, worum er bitten soll, wenn er es noch nicht (leisten) kann.« Und in Kap. 19:75 »Das Gesetz ist also gegeben, damit die Gnade erstrebt werde. Die Gnade ist gegeben, damit das Gesetz erfüllt werde. Nicht seine Schuld war es, wenn es nicht erfüllt wurde, Schuld war vielmehr die Klugheit des Fleisches. Diese Schuld mußte durch das Gesetz gezeigt, durch die Gnade geheilt werden. (Röm. 8, 3f.): ›Denn was dem Gesetz unmöglich war, weil es durch das Fleisch geschwächt war, das tat Gott: er sandte seinen Sohn in der Gestalt des sündlichen Fleisches und um der Sünde willen und verdammte die Sünde im Fleisch, auf daß die Gerechtigkeit, vom Gesetz gefordert, in uns erfüllt würde, die wir nun nicht nach dem Fleische wandeln.‹« Joh. 1, 17: »Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.«

Aber wer soll uns all die Ränke des Satans aufdecken, durch die er mit uns sein Spiel treibt? Alle beten wir: Gib, was du gebietest, und dennoch bekommen wir es nicht. Wir alle glauben und verkünden, bekennen und tun Werke, und dennoch werden wir nicht alle gerechtfertigt. Mit den Unerfahrenen treibt er so seinen Spott: während sie der Schwäche und Neigung ihres bösen Willens nicht gewahr werden und sich selbst nicht daraufhin ansehen, wie sie mit Widerwillen das Gesetz Gottes tun und es nicht lieben, sondern nur aus sklavischer Furcht glauben und Werke tun, meinen sie doch, sie täten damit Genüge und müßten bei Gott für gerecht angesehen werden, weil sie ja glauben und Werke vollbringen. Dabei sind sie doch durchaus nicht besorgt und darum bemüht, es vergnügt, mit Freude und aus Liebe und von ganzem Herzen zu tun bzw. eben dafür Gottes Gnade zu erbitten. Sie aber gehen es an und betreiben es im bloßen Vertrauen auf ihre eigenen Kräfte, immer widerwillig und mürrisch, wo es doch nötig wäre, sich mit der inständigen Bitte an Gott zu wenden, er möge diesen Widerwillen wegnehmen und das Wollen ganz in fröhliche Bereitwilligkeit verwandeln und durch seine Gnade dessen Hang zum Bösen beseitigen. Darum muß man, sage ich, inständig bitten, beständig lernen, beständig sich bemühen, sich in Zucht nehmen, bis im Willen endlich das Alte ausgerottet wird und das Neue durchbricht. Denn ohne diese Arbeit an sich selbst wird die Gnade nicht gewährt werden. Sie schnarchen also und werden gleichgültig, taub, stets trocken und unempfänglich, bis sie schließlich sogar den Glauben verlieren und der Ungeduld und des schlimmsten Verlangens voll werden, »und sind zu allem guten Werk untüchtig« (Tit. 1, 16).

Mit den Erfahreneren treibt er auf raffiniertere Weise sein Spiel. Sie bringt er dazu, mit fröhlicher Bereitwilligkeit zu wirken, um ihnen unter dieser Hülle ihre eigene Schwäche zu verbergen, so daß sie nun meinen, sie hätten die Gnade und sich in den tiefsten Tiefen ihres Denkens über die anderen stellen und überheblich werden, bis sie schließlich zu Vorkämpfern der Eigenbrötelei und des Aberglaubens werden, wie es bei den Häretikern und den mit dem Schein der Wahrheit und Gerechtigkeit wirkenden Fanatikern in ihrem unwissenden Eifer deutlich zutage tritt. Da werden sie rebellisch und – unter dem Schein des Gehorsams und der Gottesfurcht – ungehorsam und ungebärdig gegen die Männer Gottes, d.h. gegen die Stellvertreter und Boten Christi. Wenn wir uns also sorgfältig genug betrachten, so werden wir bei uns immer, zumindest Reste von Fleischlichkeit entdecken, wodurch wir zur Eigenliebe verleitet, für das Gute unempfänglich und für das Böse aufgeschlossen werden. Denn wären nicht derartige Reste der Sünde in uns und suchten wir Gott auf reine Weise, dann würde sich der Mensch bestimmt bald auflösen und die Seele würde zu Gott auffliegen. Die Tatsache, daß sie nicht (zu ihm) auffliegt, ist ein Zeichen dafür, daß sie immer noch irgendwie auf dem Leim der Fleischlichkeit festhängt, bis sie endlich, durch die Gnade Gottes erlöst wird, was in der Todesstunde zu erwarten ist. Bis dahin können wir nur immer mit dem Apostel seufzen: »Wer wird mich erlösen von dem Tode dieses Leibes?« Immer steht zu befürchten, daß er nicht tief genug eingetaucht wird. Deswegen müssen wir immer beten und darauf hinwirken, daß die Gnade und der Geist zunehmen, der sündige Leib aber abnimmt und zugrunde geht und das Alter vergeht. Noch hat er uns nämlich nicht gerechtfertigt, d.h. die Gerechten und die Gerechtigkeit zur Vollkommenheit und Vollendung gebracht, sondern hat erst damit begonnen, (uns) vollkommen zu machen.

Was dagegen das Geistige, d.h. Einsicht, Gerechtigkeit, Keuschheit und Frömmigkeit angeht, so ist es außerordentlich schwierig, festzustellen, ob wir auch darin nur uns selbst zum Ziel unseres Strebens machen. Denn unsere Liebe dazu – mag sie auch edel und gut sein – hält uns doch sehr oft in dieser Grenze fest und läßt es nicht zu, (all) dies auf Gott auszurichten und zurückzuführen, so daß wir nicht danach handeln, weil es Gott gefällt, sondern weil es uns freut und innerlich beruhigt oder auch weil uns die Menschen darum loben werden, und darum (handeln wir) nicht Gott zuliebe, sondern unsertwegen. Das erweist auch die Versuchung. Denn wenn man uns dessentwegen tadelt oder Gott uns das Vergnügen daran und die innere Befriedigung entzieht, dann geben wir es sofort auf oder zahlen es den Tadlern mit gleicher Münze heim und verteidigen uns.

[Martin Luther: Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516). Zeno.org: Martin Luther: Werke, S. 523-529
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

Jörg
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Vorlesung über den Römerbrief (Zusatz)

Durch solche Anmaßung und solchen Hochmut kommt es (dann) soweit, daß sich sogar die Werke der Gnade in Werke des Gesetzes verwandeln und die Gottesgerechtigkeit in Menschengerechtigkeit, weil sie sich nämlich darin gefallen, sobald sie – im Stande der Gnade – gute Werke vollbracht haben und es dabei bewenden lassen und sich nicht um ihre weitere Vervollkommnung bemühen, gleich als hätten sie damit die Rechtfertigung schon vollkommen »ergriffen«. Dabei hätte ein solcher Grad der Vervollkommnung erreicht werden sollen, daß sie diese Werke nur noch als Vorbereitung hätten betrachten dürfen. Fürwahr, alle gerechten und im Stande der Gnade vollbrachten Werke dienen als Vorbereitung für den darauf folgenden Schritt der Rechtfertigung gemäß jenem Wort: »Wer gerecht ist, der soll fernerhin gerechtfertigt werden« (Offb. 22, 11), und »Sie gehen von einer Kraft zur anderen« (Ps. 84, 8) und »von einer Herrlichkeit zur andern« (2. Kor. 3, 18), wie der Apostel Paulus, gerichtet auf das, was bevorsteht, ohne Rücksicht auf Zurückliegendes oder Vergangenes (vgl. Phil. 3, 13).

Von den Heiligen glaubt oder behauptet daher niemand, er sei schon gerecht, sondern er trachtet danach und wartet immer darauf, gerechtfertigt zu werden, gerade deswegen wird er von Gott unter die Gerechten gerechnet, denn er nimmt sich der Demütigen an. In diesem Sinne ist Christus König der Juden, d.h. derjenigen, die bekennen – nämlich daß sie immer in Sünden leben – und dennoch nach Rechtfertigung streben und ihre Sünden verabscheuen. Deshalb heißt es: »Gott ist wundersam in seinen Heiligen« (Ps. 68, 36), weil er diejenigen, die sich als Sünder bekennen und Reue zeigen, für gerecht erklärt, diejenigen aber, die sich selbst für gerecht halten, verdammt. So heißt es in Ps. 32, 5f.: »Ich sprach: ich will mir zum Schaden meine Übertretungen bekennen. Da vergabst du mir die Schuld meiner Sünde. Deshalb werden alle Heiligen zu dir beten« (d.h. alle Gerechten, alle Gerechtfertigten). Erstaunlich, daß ein Gerechter für seine Sünden betet. Ebenso heißt es über den Gerechten auch bei Sirach 39, 7: »Und betet für seine Sünden« und bekennt dem Herrn im Gebet nämlich seine Sünde. »Mir zum Schaden«, sagt er, weil es so ist, wie ich gesagt habe, daß der Gerechte sich als Sünder bekennt und dennoch seine Sünde verabscheut, während der Gottlose seine Gerechtigkeit bekennt und daran Gefallen hat. So auch Ps. 51, 5: »Denn ich erkenne meine Missetat, und (erkenne sie nicht nur, sondern) meine Sünde ist immer vor mir.« Somit bekenne ich: »An dir allein habe ich gesündigt und übel vor dir getan, auf daß du recht behaltest in deinem Worte« (Ps. 51, 6), d.h. weil ich meine Sünde zugebe und sie hasse, deshalb vergibst du und rechtfertigst (mich), denn du allein behältst recht.

Nur dadurch sind wir also gerettet, daß wir, die wir Sünde haben und in Sünde leben, es bereuen, sie zu haben und zu Gott um Erlösung flehen, gemäß dem Wort 1. Joh. 1, 8. 9: »Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir aber unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, daß er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Untugend«. Ja, so ist es: »Die Opfer, die Gott gefallen, sind ein geängsteter Geist, ein geängstetes, zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verachten« (Ps. 51,19). »Denn es gibt keinen Menschen, der nicht sündigt«, sagt Salomo in seinem Gebet (1. Kön. 8, 46). Und Mose (2. Mose 34, 7): »Vor dem niemand aus sich heraus unschuldig ist.« Und der Prediger wiederum (7, 20): »Es ist kein Mensch so gerecht auf Erden, daß er nur Gutes tue und nicht sündige.« Und wiederum: »Wer wird sich rühmen, ein reines Herz zu haben?« (vgl. Sprüche 20, 9). Darum »ist keiner, der gerecht sei. Sie sind alle abgewichen« (Röm. 3, 10. 12). Deshalb beten wir: »Vergib uns unsere Schuld« (Matth. 6, 12). Woher kommen also jene Sünden und jene Schuld? Doch daher, daß niemand das Gesetz erfüllt außer Christus. Von den Lebenden wird nämlich keiner vor Gott gerechtfertigt deswegen, weil sein Herz immer nur zaghaft nach dem Guten und eifrig nach dem Bösen strebt. Es liebt die Gerechtigkeit nicht, ja irgendwie hängt es geradezu am gottlosen Treiben. Christus aber liebt die Gerechtigkeit und haßt gottloses Treiben (vgl. Ps. 45, 8). Wie der Apostel Paulus nachher in Kap. 7, 25 darlegt, wenn er sagt: daß wir mit dem Fleisch dem Gesetz der Sünde dienen, mit dem Gemüt aber dem Gesetz Gottes. Somit sind wir zum Teil gerecht, aber nicht ganz. Daher haben wir Sünde und Schuld.

Wenn wir also um die Vollendung der Gerechtigkeit und die Tilgung der Sünde in uns bitten, so bitten wir zugleich um das Ende dieses (irdischen) Lebens. Denn in diesem Leben läßt sich dieser Hang zum Bösen nicht vollkommen heilen, genausowenig wie – ein Abbild dafür – die Kinder Israel das Übel der Jebusiter vertreiben konnten (vgl. Jos. 15, 63). Daher folgt auf die Bitte (Matth. 6, 9): »Geheiligt werde dein Name« (was durch unsere Heiligung von Übeln und Sünden geschieht) sofort: »Dein Reich komme« (Matth. 6, 10), was besagen soll: es gibt aber keine völlige Heiligung außer in deinem Reiche. Aber auch das wird nicht ohne Trübsale kommen. Darum schließt sich daran: »Dein Wille geschehe« (Matth. 6, 10), wie auch Christus zur Zeit seiner Trübsal im Garten (Gethsemane) gebetet hat.
Wer also kann sich über einen anderen erheben, als wäre er gerechter als jener? Zumal dieser nicht nur dasselbe tun kann wie er, sondern darüber hinaus im Herzen vor Gott bereits das tut, was jener mit seinem Werk nur vor den Menschen tut. Darum soll man auch keinen verachten, der sündigt, sondern ihn wie einen Gefährten in gemeinsamer Not bereitwillig tragen und sich gegenseitig helfen, so wie zwei, die in demselben Sumpf stecken, sich gegenseitig heraushelfen. So »tragen wir einer des anderen Last und erfüllen das Gesetz Christi« (vgl. Gal. 6, 2). Sonst werden wir beide im Sumpf versinken, wenn wir jenen verachten.

[Martin Luther: Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516). Zeno.org: Martin Luther: Werke, S. 529-534
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

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Vorlesung über den Römerbrief (Kapitel 3, 22)

Zu Vers 22: Er stellt dar, was bzw. von welcher Art diese Gerechtigkeit Gottes ist, warum es nicht die ist, durch die er selbst gerecht ist und auch nicht die, durch die jeder gerecht sein kann, sondern die, die man auf keine andere Weise als durch den Glauben erlangen kann. Damit die Hochmütigen nicht etwa wieder auf den Gedanken verfallen, sie würde ihnen ohne Christus und auf Grund ihrer eigenen Verdienste gewährt, so als ob Christus dafür nicht nötig wäre.

»Die Gerechtigkeit Gottes aber durch den Glauben.«
Lehre: Der Glaube an Christus, der uns gerecht macht, besteht nicht nur darin, an Christus oder an die Person Christi, sondern an alles, was Christus gehört, zu glauben.
Umsonst schmeicheln sich die Hochmütigen und die Häretiker und gefallen sich in der Meinung, sie glaubten an Christus, wo sie doch das, was ihm gehört, nicht glauben wollen.
Jedenfalls sind sie es, die Christus zertrennen, als ob es etwas anderes wäre, an Christus oder an das, was Christus gehört, zu glauben; in Wirklichkeit aber »ist Christus nicht zertrennt«, wie der Apostel sagt (1. Kor. 1, 13), und oben ist bereits ausgeführt, daß der Glaube an Christus dementsprechend der Glaube an etwas Unteilbares ist, so daß also kein Unterschied besteht zwischen Christus und dem, was Christus gehört.

So bekennen und rühmen die Häretiker, daß sie an Christus glauben gemäß dem, was die Evangelien von ihm verkünden: daß er geboren sei, gelitten habe, gestorben sei usw. Aber sie glauben nicht an das, was ihm gehört. Und was ist das? Die Kirche doch wohl, und jedes Wort, das aus dem Mund eines Würdenträgers der Kirche oder eines guten und frommen Menschen kommt, ist Wort Christi, der da sagt: »Wer euch hört, der hört mich« (Luk. 10, 16). Die sich also den Würdenträgern der Kirche entziehen, ihr Wort nicht hören wollen, sondern nur ihrer eigenen Auffassung folgen, wie, so frage ich, glauben die an Christus? Oder glauben sie nur, daß er geboren ist und gelitten hat, nicht aber, daß er lehrt? »Ist also Christus zertrennt?« (1. Kor. 1, 13), weil sie dort an ihn glauben, ihn aber hier verleugnen? Das sei ferne. Vielmehr verleugnen sie auch hier den Christus ganz, den man nicht gleichzeitig verleugnen und bekennen kann. Das ist es, was Petrus Lombardus meint, wenn er sagt: »›Gottglauben‹ ist etwas anderes als ›Gott glauben‹, und ›an Gott glauben‹ ist wieder etwas anderes«. Genauso verhält es sich mit Christus. Denn an Christus glauben heißt, ihm mit ganzem Herzen zustreben und alles auf ihn hin ordnen. Daher spricht der Herr Matth. 4, 4: »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht.« Was ist der Mund Gottes? – Der des Priesters und des Würdenträgers der Kirche, Mal. 2, 7: »Aus dem Munde des Priesters suche man Weisung, denn er ist ein Bote des Herrn Zebaoth«. Und zu Jeremia (sagt er): »Du sollst mein Mund bleiben« (15, 19). Warum aber heißt es »von einem jeglichen Wort«? Deshalb, weil du nämlich schon nicht mehr vom Worte Gottes lebst, wenn du auch nur ein Wort nicht glaubst. Denn in einem jeglichen Wort steckt der ganze Christus und in jedem einzelnen steckt er ganz. Folglich verleugnet man ihn ganz, wenn man ihn in einem einzigen Wort verleugnet, da er ja in einem jeden steckt. So wird er nämlich, in zwei Teile geteilt. Du hast den ganzen Christus genauso getötet, wenn du einen Christen tötest und dabei alle anderen rettest. So ist es auch in allen anderen Dingen. Wenn du Christus in einer Hostie verleugnest, so hast du ihn in allen verleugnet.

Da es so steht, müssen wir uns ins Unermeßliche demütigen. Denn da wir ja nicht wissen können, ob wir in einem jeglichen Worte Gottes leben und keines davon verleugnen (da uns viele von den Geistlichen, viele auch von den Brüdern, viele im Evangelium und den Aposteln und viele in unserem Innern von Gott gesagt werden), so können wir auch nie und nimmer wissen, ob wir gerechtfertigt sind und ob wir glauben. Daher wollen wir unsere Werke gleichsam nur für Werke des Gesetzes halten und in Demut Sünder sein, die nur in seiner Barmherzigkeit gerechtfertigt zu werden begehren. Obwohl wir nämlich sicher sind, daß wir an Christus glauben, so sind wir doch nicht sicher, daß wir an alle Worte glauben, die von ihm sind; dadurch ist auch »das Glauben an ihn« etwas Ungewisses.

Auch bei den Propheten wird ja kein anderer Vorwurf erhoben als der, daß die Stimme des Herrn von seinem Volke nicht gehört wird. Wer aber in dieser Weise Furcht empfunden und demütiges Bekenntnis abgelegt hat, dem wird die Gnade zuteil werden, so daß er gerechtfertigt wird und seine Sünde vergeben wird, wenn er einmal etwas durch verborgenen und unbewußten Unglauben auf sich geladen hat. Auf diese Weise betrachtet Hiob mit Furcht alle seine Werke. Und der Apostel war sich keiner Schuld bewußt, und doch glaubt er nicht, daß er in diesem Punkte gerechtfertigt ist. Darum muß die Gerechtigkeit allein Christus vorbehalten werden, ihm allein das Werk der Gnade und des Geistes. Wir aber stehen immer in den Werken des Gesetzes, sind immer ungerecht, immer Sünder, nach jenem Wort aus Ps. 32, 6: »Deshalb werden alle Heiligen zu dir beten.« Der Hochmütige aber, der solche Demut nicht kennt und solche Subtilität des Glaubens nicht begreift, sondern überzeugt ist, er glaube und besitze allen Glauben in vollem Maße, kann die Stimme des Herrn nicht hören; er widerstrebt ihr vielmehr, als ob sie falsch sei, weil sie seiner Auffassung entgegensteht, die er für wahr hält.
Du fragst dagegen: Wenn die Verleugnung so mächtig ist, daß man ihn durch die Verleugnung in einem Punkt in allen Punkten verleugnet, warum ist dann nicht auch das Bekenntnis (zu ihm) so mächtig, daß man ihn durch das Bekenntnis in einem Punkt auch in allen Punkten bekennt? Antwort: Das Gute ist vollkommen und einfach; deshalb wird es durch eine einzige Verleugnung aufgehoben; aber es wird durch ein einziges Bekenntnis nur dann begründet, wenn dieses einzige Bekenntnis unversehrt und frei von Verleugnung ist. Denn es können in bezug auf ein und dieselbe Sache nicht zwei Gegensätze zugleich Bestand haben. Und Gott will alles rein und unbefleckt haben. Die Verleugnung aber ist ein Makel und befleckt daher das Bekenntnis usw.

[Martin Luther: Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516). Zeno.org: Martin Luther: Werke, S. 534-539
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

Jörg
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Vorlesung über den Römerbrief (Zusatz+Kapitel 3, 23)

Deshalb ruft bei den Propheten nur »die Stimme des Herrn« (ohne weiteren Zusatz), damit wir jedes gesprochene Wort, von wem es auch gesagt sein mag, so, als ob der Herr es selber spräche, hinnehmen, glauben, uns ihm fügen und ihm unsern Sinn demütig unterwerfen. So und nicht anders werden wir nämlich gerechtfertigt werden.
»Durch den Glauben an Jesus Christus.« Es ist eine nützliche Ergänzung gegen den Widerstand der Hochmütigen, wenn sie etwa sagen möchten: Wir geben zu, daß wir von uns aus ungerecht sind, wir fühlen, daß wir zum Bösen neigen und sind im Herzen Feinde des Gesetzes. Deshalb glauben wir, daß wir aus Gott gerechtfertigt werden müssen, aber wir werden das selbst erreichen, indem wir ihn bitten, Reue zeigen und bekennen; Christus aber wollen wir nicht, Gott kann uns ohne Christus seine Gerechtigkeit geben. Antwort darauf: er will nicht und kann nicht. Denn auch Christus ist Gott. Nur durch den Glauben an Jesus Christus wird sie (die Gerechtigkeit) uns zuteil. So ist es festgesetzt, so gefällt es Gott wohl, und das wird sich nicht ändern. Wer will seinem Willen widerstehen? Um eben so viel mehr ist es Hochmut, nicht durch Christus gerechtfertigt werden zu wollen.

Hier mögen aber auch diejenigen die Augen aufsperren, von denen ich oben gesprochen habe: die da an Christus glauben, aber nicht an das Wort Christi, die nicht auf den Geistlichen hören, sondern sich selbst in ihrer eigenen Auffassung gefallen; nur sich glauben sie, nicht dem Wort des Geistlichen oder des guten Mannes, d.h. nicht Christus, der in diesen beiden spricht – in der Annahme, sie könnten ohne diesen Gehorsam, ohne diesen Glauben von Gott durch ihre Werke trotzdem gerechtfertigt werden. Aber das wird nicht geschehen. Denn fest steht der Satz: Die Gerechtigkeit vor Gott kommt durch den Glauben an Jesus Christus.
Von daher folgt der Zusatz: daß das Gesetz samt seinen Werken gemeint ist, wenn es heißt »ohne das Gesetz«. Ebenso ist der Glaube an Christus und an das Wort eines jeden, in dem Christus spricht, gemeint, wenn es heißt »der Glaube an Christus«. Wie »ohne das Gesetz«, d.h. ohne Mitwirkung des Gesetzes und der Werke des Gesetzes, so auch Glaube an Christus, gleichgültig, wo und in wem er spricht. Mit dem größten Eifer also müssen wir uns davor hüten, uns jemals zu verhärten und nicht zu glauben, so daß wir vielleicht Christus Widerstand leisten, von dem wir nicht wissen, wann, wo, wie und durch wen er zu uns spricht. Und das geschieht fast immer dort, dann und in der Weise, und durch einen solchen Menschen, durch den wir, wo wir und wie wir es nicht für möglich halten. Wie er selbst gesagt hat (Joh. 3, 8): »Der Wind bläst, wo er will (nicht, wo wir wollen oder wähnen), und du hörst sein Sausen wohl, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt.« Denn er ist nahe bei uns und in uns, freilich nur in fremder Gestalt, nicht im Glanz der Herrlichkeit, sondern in Niedrigkeit und Sanftmut, so daß man meinen möchte, er sei es nicht; aber er ist es wahrhaftig. Daher mahnt der Heilige Geist (Ps. 45, 11): »Höre Tochter, sieh und neige dein Ohr« usw., d.h.: du mußt immer und überall bereit sein, zu hören und mit willigem Ohr deinen Weg zu gehen, deine ganze Pflicht ist es, demütig zu hören und dich belehren zu lassen.

Zu Vers 23: Sie sind ja voll von ihrem eigenen Ruhm, Joh. 5, 44: »Wie könnet ihr glauben, die ihr Ehre voneinander nehmet? Aber die Ehre, die von dem alleinigen Gott ist, suchet ihr nicht.«
»Und bedürfen der Ehre Gottes«. »Ehre« nimmt man hier im Sinne von Rühmen. Und »bedürfen« versteht man allgemein, im negativen Sinne: Sie mangeln oder sie sind ausgeschlossen. Der Sinn ist also: Sie haben nicht die Gerechtigkeit, deren sie sich vor Gott rühmen könnten, vgl. dazu unten 1. Kor. 1, 29: »auf daß sich vor Gott kein Fleisch rühme.« Und vorher (Röm. 2, 17): »Du rühmst dich Gottes.« Und nachher in Kap. 5, 11: »Und wir rühmen uns auch Gottes durch unseren Herrn Jesus Christus.« Also »mangeln sie des Ruhmes vor Gott«, d.h. sie haben nichts, womit sie sich in bezug auf Gott und um seinetwillen rühmen könnten, wie es in Ps. 3, 4 geschieht (wo es heißt): »Du aber, Herr, bist der Schild für mich, du bist meine Ehre«, d.h. mein Rühmen. Ebenso nachher (Röm. 4, 2): »Ist Abraham durch die Werke gerecht, so hat er wohl Ruhm, aber nicht vor Gott.« So haben auch jene aus ihren gerechten Werken nur Ruhm vor den Menschen. Es wird also vom »Ruhm Gottes« im selben Sinne gesprochen wie von seiner Gerechtigkeit, Weisheit und Tugend, sie ist die (Ehre), die uns aus Gott zuteil wird und mit der wir uns vor ihm und in ihm und um seinetwillen rühmen können.

[Martin Luther: Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516). Zeno.org: Martin Luther: Werke, S. 539-542
(vgl. Luther-W Bd. 1, S. 162-163) (c) Vandenhoeck und Ruprecht]
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Vorlesung über den Römerbrief (Kapitel 3, 24-27)

Zu Vers 24: Was besagt, er gibt die Gnade nicht in der Weise umsonst, daß er überhaupt keine Gegenleistung forderte, aber er hat Christus als Spender der Gegenleistung für uns dahingegeben, um sie damit denen, die durch einen anderen Genugtuung leisten, schließlich doch umsonst zu geben.

Zu Vers 25: Und so zeigt ihn die Vergebung der Sünden als gerecht und fähig zu rechtfertigen. Gemäß dem, was oben gesagt ist (Röm. 3, 4): »Auf daß du gerecht erfunden werdest in deinen Worten«, was er an dieser Stelle gleich wieder aufnimmt, indem er sagt: »auf daß er allein gerecht sei und gerecht mache« (3, 26).
»Von den früher geschehenen« (Vergehen) aber spricht er, weil er nicht alle Sünden vergibt, damit nicht jemand sage: Wenn also durch Christus die Sünden aufgehoben sind, so laßt uns doch tun, was wir wollen, es kann ja niemand mehr sündigen, wie das diejenigen tun, die den Geist dem Fleisch überantworten und die Freiheit zum Deckmantel für die Schlechtigkeit machen (vgl. 1. Petr. 2, 16). Denn die Gnade und Vergebung wird nicht gewährt, damit man sündigen und zügellos leben kann, vgl. dazu weiter unten, wo er davon spricht, daß wir nicht unter dem Gesetz sind (und fragt): »Wie nun? Sollen wir sündigen, weil wir nicht unter dem Gesetz sind?« (Röm. 6, 15) und die Antwort gibt: Nicht so vergibt er die Sünden, daß er keinem irgendeine Tat zur Sünde rechnet oder das Gesetz aufhebt, sondern dadurch, daß er die vergangenen Sünden, die er geduldet hat, nicht zeiht, damit wir sie ungehemmt tun. Ähnlich deutlich geht aus dieser Stelle hervor, daß Gott bei dem Apostel »der Gerechte« heißt, weil er rechtfertigt, bzw. gerecht macht, wie oben gesagt ist. Und aus dieser Selbstauslegung des Apostels geht ebenso deutlich hervor, daß das »Gerechtigkeit Gottes« heißt, womit Gott selbst uns rechtfertigt, gleichwie die Weisheit Gottes, d.h. womit er uns weise macht. Also geht er durch dieses Wort »vergangene (Sünden)« gegen die törichte und fleischlich gesinnte Auffassung an, die die Worte des Apostels etwa wie folgt verstehen möchte: Gott hat das Gesetz erfüllt, er rechnet die Sünde nicht weiter an, er will nicht weiter als Sünde betrachten, was er vorher als Sünde betrachtete. Laßt uns ruhig so weitermachen, denn das, was früher Sünden waren, sind es jetzt nicht mehr.

Zu Vers 26: »Zum Erweis seiner Gerechtigkeit«, d.h. um dadurch anzuzeigen, daß alle in Sünden verstrickt sind und seiner Gerechtigkeit bedürfen. Was beweist denn die Tatsache, daß Christus gelitten hat und durch sein Leiden uns zum Mittler geworden ist, anderes als daß wir, für die er dazu geworden ist, ungerecht sind und somit von Gott allein unsere Gerechtigkeit erbitten sollen, weil unsere Sünden vorher durch eine solche Versöhnungstat vergeben sind? Daher sagt er: »zur Vergebung.« Daß er nämlich durch einen Mittler die Sünden vergibt, und so gerecht macht, erweist seine Gerechtigkeit als zwangsläufig, gibt es doch keinen, dem er nicht vergäbe. (Zur Vergebung) »der früheren Vergehen«, d.h. jener, die vor dem Erweis seiner Gerechtigkeit begangen wurden, noch bevor man erkannte, daß nur durch ihn alle gerechtfertigt würden, die da gerechtfertigt werden. Sie wurden früher begangen, sage ich, »in der Langmut Gottes«, d.h.: wenn er sie nicht geduldet hätte, wäre es nicht zur Vergebung und zum Erweis seiner Gerechtigkeit gekommen und würde es auch bis heute nicht dazu kommen. Er zögert also, damit er vergeben kann, er vergibt, damit er seine Gerechtigkeit erweisen kann, d.h. die Rechtfertigung durch den Glauben an den, der uns in seinem Blute versöhnt hat.

Zu Vers 27: »Durch welches Gesetz? Durch der Werke Gesetz? Nicht also! Sondern durch des Glaubens Gesetz.« Das Gesetz der Werke macht notwendigerweise aufgeblasen und begründet Ruhmredigkeit; denn wer gerecht ist und das Gesetz erfüllt hat, hat ohne Zweifel Anlaß, sich zu rühmen und stolz zu sein. Von dieser Art nun glauben sie zu sein, weil sie ja nach außen hin getan haben, was das Gesetz befahl und verbot. Darum demütigen sie sich nicht und gehen nicht in sich wie Sünder. Sie verlangt es nicht nach Rechtfertigung, sie seufzen nicht nach Gerechtigkeit, denn sie vertrauen darauf, daß sie sie schon erlangt und in Besitz haben. Daher ist festzuhalten – vgl. das oben angeführte Zitat aus Augustinus –, daß das Gesetz der Werke befiehlt: Tue, was ich gebiete, das Gesetz des Glaubens aber: Gib, was du gebietest. Und darum antwortet das Volk des Gesetzes dem Gesetz und Gott, der im Gesetz spricht: Ich habe getan, was du befohlen hast, geschehen ist, wie du geboten hast. Das Volk des Glaubens aber sagt: Ich kann es nicht leisten, ich habe es nicht getan, aber gib, was du gebietest; ich habe es nicht getan, aber ich habe das Verlangen, es zu tun. Und da ich es nicht kann, bitte und flehe ich zu dir (mir das zu geben), wodurch ich es kann. Und so wird der eine stolz und ruhmredig gemacht, der andere aber demütig und verächtlich bei sich selbst. Und so ist der wahre Unterschied zwischen den beiden Völkern der, daß das eine sagt: Ich habe es getan, das andere aber: Ich bete, daß ich es tun kann; das eine sagt: Gebiete, was du willst und ich werde es tun; das andere sagt: Gib, was du geboten hast, daß ich es tue. Das eine baut darauf, die Gerechtigkeit schon in Besitz zu haben, das andere seufzt danach, sie zu bekommen. Daher besteht das ganze Leben des neuen, glaubenden, geistlichen Volkes darin, mit dem Seufzen seines Herzens, mit der Stimme seines Tuns, mit dem Tun seines Körpers nur danach zu begehren, zu streben und zu trachten, fortwährend bis zum Tode gerechtfertigt zu werden, niemals festen Stand zu haben, niemals (etwas) im Griff zu haben, keinerlei Werke als Vollendung erlangter Gerechtigkeit anzusehen, sondern auf sie zu warten, wie auf etwas immer noch außerhalb Befindliches, selbst dagegen immer noch in Sünden zu leben und zu sein.

[Martin Luther: Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516). Zeno.org: Martin Luther: Werke, S. 542-547
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

Jörg
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Vorlesung über den Römerbrief (Kapitel 3, 28+29)

Zu Vers 28: Wenn daher der Apostel sagt, daß »wir ohne des Gesetzes Werke gerechtfertigt werden«, so spricht er nicht von den Werken, die zur Erlangung der Rechtfertigung getan werden. Denn das sind schon nicht mehr des Gesetzes Werke, sondern Werke der Gnade und des Glaubens, weil derjenige, der sie vollbringt, sich nicht schon durch sie für gerechtfertigt hält, sondern erst noch gerechtfertigt werden will; auch glaubt er nicht, er habe durch sie das Gesetz bereits erfüllt, vielmehr strebt er erst nach seiner Erfüllung. Dagegen nennt er des Gesetzes Werke diejenigen, die ihren Vollbringern allein durch ihre Vollbringung auch die vollbrachte Rechtfertigung und deswegen, weil sie sie vollbracht haben, das Gerechtsein geben. Sie tun diese Werke also nicht, um nach Gerechtigkeit zu streben, sondern um sich der erlangten Gerechtigkeit zu rühmen. Nachdem sie diese (Werke) getan haben, bleiben sie deshalb dabei stehen, als ob das Gesetz damit gänzlich erfüllt und nichts anderes zur Rechtfertigung nötig sei. Das ist ohne Zweifel Übermut und hochgradige Großsprecherei. Ja, daß Werke des Gesetzes das Gesetz erfüllen, ist geradezu falsch, weil das Gesetz geistig ist, da es Herz und Willen voraussetzt; den aber können wir unmöglich aus uns selbst haben, wie oben mehrfach gesagt ist. Daher vollbringen sie; wohl Werke des Gesetzes, tun aber nicht den Willen des Gesetzes. Das Volk des Glaubens verbringt daher sein ganzes Leben damit, die Rechtfertigung zu suchen.

»Wir halten dafür« ist an dieser Stelle nicht in seiner eigentlichen Bedeutung als »meinen« aufzufassen. Denn es wäre ein Frevel, zu bezweifeln oder nur zu meinen, daß der Mensch durch den Glauben gerechtfertigt werde. Das muß man vielmehr ganz fest und sicher glauben und wissen. Mindestens bedeutet »wir halten dafür« wohl soviel wie wir sind verpflichtet, dafür zu halten.
»Wir halten dafür« klingt recht matt, ist aber von durchschlagender Bedeutung, gleich als ob er in Antithese sagen wollte: Jene halten (nur) dafür, daß der Mensch durch seine Werke gerechtfertigt werde, was wahrlich nur eine Ansicht und Meinung ist; wir aber »halten dafür«, d.h. wir wissen und sind dessen sicher usw.
So meint auch der Apostel nicht, es schon ergriffen zu haben, sondern er streckt sich bei seiner Suche nach dem, was vor ihm liegt und hat durch sein Finden vergessen, was hinter ihm liegt. Denn wer auf
diese Weise mit Herz und Hand sucht, der ist zweifellos eben dadurch, daß er danach strebt, gerechtfertigt zu werden, und nicht glaubt, bereits gerecht zu sein, schon gerecht vor Gott. Denn er bekennt sich nicht in der Weise als Sünder, daß er die Sünden will und von Gott zurückweicht, sondern um von ihnen loszukommen und gerechtfertigt zu werden, wobei er immer sagt: »Vergib uns unsere Schuld.« »Geheiligt werde dein Name« usw.

Wie steht es aber damit, daß er Jes. 65, 1 zitiert: »Ich bin gefunden von denen, die mich nicht gesucht haben und bin erschienen denen, die nicht nach mir gefragt haben« (Röm. 10, 20)? Man soll ihn also nicht suchen, sondern abwarten, daß man ihn zufällig findet? Vielmehr ist dies einmal zu verstehen als Zurückweisung des törichten Suchens derjenigen, die Gott auf einem von ihnen selbst gewählten Wege suchen, und nicht so, wie Gott gesucht und gefunden werden will. Weiterhin begreift man, daß uns ohne unsere Verdienste und Werke die Gerechtigkeit Gottes angeboten ist, obwohl wir etwas ganz anderes betreiben und suchen als die Gerechtigkeit Gottes. Wer nämlich hat oder hätte das fleischgewordene Wort gesucht, wenn es sich nicht selbst offenbart hätte? Also ist er ungesucht gefunden worden. Nachdem er aber gefunden ist, will er immer noch weiter gesucht und noch mehr gefunden werden. Er läßt sich aber finden, wenn wir uns von den Sünden zu ihm bekehren; gesucht aber wird er, solange wir in der Bekehrung harren.
Daher stammt der Unterschied zwischen den Sündern. Die einen nämlich sind Sünder und bekennen, daß sie gesündigt haben, trachten aber nicht danach, gerechtfertigt zu werden, ja, sie verzweifeln vielmehr und sündigen weiter, im Tode verzweifelnd und im Leben der Welt dienend. Andere aber sind Sünder und bekennen, daß sie sündigen und gesündigt haben, aber sie bedauern es und hassen sich selbst deshalb und trachten danach, gerechtfertigt zu werden, suchen eifrig und seufzen zu Gott um Gerechtigkeit. Sie sind das Volk Gottes, das die Verurteilung zum Kreuz beständig mit sich trägt.

In derselben Weise unterscheiden sich auch die Gerechten voneinander. Die einen behaupten nämlich, sie seien gerecht und trachten nicht danach, gerechtfertigt zu werden, sondern warten nur darauf, belohnt und gekrönt zu werden. Die anderen halten sich für ungerecht, fürchten, verdammt zu werden und trachten danach, gerechtfertigt zu werden. Es schadet also nichts, daß wir Sünder sind, solange wir uns nur mit allen Kräften darum bemühen, gerechtfertigt zu werden. Darum lauert der Teufel, dieser vielseitige Ränkeschmied, mit ungeheuer listigen Anschlägen uns auf. Ein paar bringt er nämlich zum Abfall, indem er sie in offenbare Sünden verwickelt. Andere aber bringt er dahin, daß sie glauben, einen sicheren Stand zu haben, so, als ob sie schon gerechtfertigt seien und nachlässig werden und ihr Streben (nach Rechtfertigung) aufgeben; darüber sieht? Offb. 3, 14ff. in bezug auf den Engel (der Gemeinde) von Laodicea. Drittens verführt er andere zu abergläubischen Vorstellungen und den Sekten der Absonderung, so daß diese – als die Heiligeren und als solche, die die Rechtfertigung sozusagen schon erlangt haben – nun keineswegs nachlässig werden, sondern mehr als all die anderen, auf die sie aus ihrer Abgesondertheit herabsehen, in Hochmut und Verachtung fieberhaft am Werke sind. Andere drängt er viertens mit einfältiger Mühe dazu, zu versuchen, rein und heilig ohne jede Sünde zu sein. Und wenn sie merken, daß sie doch sündigen und das Böse sich irgendwie einschleicht, so schreckt er sie mit dem (Jüngsten) Gericht und quält ihr Gewissen, so daß sie fast verzweifeln. Da er die Schwächen eines jeden nämlich kennt, versucht er ihm dementsprechend beizukommen. Und weil jene an vierter Stelle Genannten mit glühendem Eifer nach Gerechtigkeit streben, kann er sie nicht ohne weiteres zum Gegenteil überreden. Zur Erreichung seiner Absicht beginnt er damit, sie in der Weise zu fördern, daß sie über alles Maß danach streben, jede Begierde abzulegen. Wenn sie das nicht fertiggebracht haben, so macht er sie zu traurigen, zerschlagenen, kleinmütigen, verzweifelten und von Gewissensbissen ständig geplagten Menschen. Also bleibt übrig, daß wir in Sünden ausharren müssen und in der Hoffnung auf Gottes Barmherzigkeit um die Erlösung aus ihnen mit Seufzen flehen. Das ist so wie ein in Heilung begriffener Mensch, der seine Heilung zu sehr beschleunigt, sicherlich einen ziemlich schweren Rückfall erleiden kann. Nur schrittweise darf sich also die Genesung vollziehen, und gewisse Schwächezustände muß man eine Zeitlang ertragen. Es genügt nämlich, wenn die Sünde keinen Anklang findet, auch wenn sie nicht ganz und gar aufhört. Christus trägt nämlich alles, wenn es keinen Anklang findet, und es ist dann schon nicht mehr unsere, sondern seine Sache, seine Gerechtigkeit wird dafür die unsere.

Zu Vers 29: Wenn man durch das Gesetz gerecht würde, so würde daraus folgen, daß nur die Juden gerecht würden, weil nur sie das Gesetz Gottes haben und es deshalb heißt: »nur der Gott der Juden.«

[Martin Luther: Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516). Zeno.org: Martin Luther: Werke, S. 547-552
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

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Vorlesung über den Römerbrief (Kapitel 4, 5-7)

Der Apostel zeigt am Beispiel Abrahams, daß der Glaube zum Heil nötig ist und daß das alte Gesetz zur Erlangung des Heiles nicht genügt.

Zu Vers 5: »Dem aber, der nicht mit Werken umgeht«, d.h. auch wenn er keine Werke tut, er sei jemand, der keine Werke aufzuweisen hat oder jemand, der ohne den Beistand der Werke und nur aus Not glaubt – »glaubt aber an den« – an Gott – »der den Gottlosen«, d.h. den, der von sich aus vor Gott nichts ist als gottlos, durch seine Gnade »gerecht macht«, »wird sein Glaube« - ein Glaube dieser Art – »zur Gerechtigkeit gerechnet«, von Gott nämlich (und) ohne Gegenleistung, so daß er gerecht vor Gott ist »gemäß dem Plan«, d.h. der Vorausbestimmung (Prädestination) »der Gnade Gottes«. (Letzteres) fehlt im griechischen Text. D.h. demjenigen, dem die Werke notwendig und hilfreich zur Erlangung seines Lohnes sind, wird der Lohn nicht ohne Gegenleistung, sondern nach Verdienst gewährt. Demjenigen aber, der sich nicht auf die Werke stützt oder Werke nicht nötig hat, wird er ohne Gegenleistung gewährt, weil er an Gott glaubt.

Zu Vers 6: »Wie ja auch David sagt.« Folgendermaßen ist der Satz zu beziehen: »Dem wird sein Glaube gerechnet zur Gerechtigkeit (4, 5), wie ja auch David sagt (Ps. 32, 1f.) (d.h. sicherstellt), daß die Seligkeit sei allein des Menschen (d.h. daß derjenige Mensch selig ist bzw. daß die Seligkeit ganz allein dem Menschen gehört), welchem Gott zurechnet die Gerechtigkeit ohne Zutun der Werke«. Dieses »ohne Zutun der Werke« aber versteht man, wie oben gesagt, in bezug auf diejenigen Werke, durch deren Vollbringung man meint, die Gerechtigkeit schon erlangt und in Besitz zu haben, so als ob einer deshalb gerecht sei, weil er jene Werke vollbracht hat oder als rechne Gott sie ihm deshalb an und nähme ihn als Gerechten an, weil er Werke tut. Doch ist dieses Verständnis nicht richtig, denn Gott nimmt nicht die Person wegen der Werke, sondern die Werke wegen der Person, um so eher die Person als die Werke an, gemäß dem Wort der Schrift: »Der Herr sah gnädig an (zuerst) Abel und (danach) sein Opfer« (1. Mose 4, 4). Damit ist klar, daß nicht so sehr die Werke von der erwähnten Art als vielmehr die törichte Auffassung und Einschätzung eben dieser Werke zurückgewiesen wird. Denn Vergleichbares vollbringen auch die Gerechten, aber in anderem Geiste. Die Gerechten tun das nämlich in der Weise, daß die dadurch Gerechtigkeit erstreben und erwirken, die Gottlosen dagegen so, daß sie dadurch ihre Gerechtigkeit zur Schau stellen und als gefunden voraussetzen. Die einen sind unzufrieden mit den vollbrachten Werken und trachten danach, daß auch ihr Herz gerechtfertigt und von bösen Begierden geheilt werde, die anderen aber sind unbekümmert um ihr Inneres und geben sich mit den äußerlich vollbrachten Werken zufrieden. Darum sind das Scheinheilige und Heuchler, d.h. nach außen den Gerechten ähnlich, im Inneren aber nicht wirklich gerecht. So auch Hiob 39, 13: »Das Gefieder des Straußes ist vergleichbar dem Gefieder des Reihers und des Sperbers«, als wollte er damit sagen: aber er kann ja nicht fliegen und jagen wie der Reiher und der Sperber. Die einen erklären sich selbst für gerecht; die anderen aber trachten danach, vom Herrn dafür angesehen zu werden. Jener Leute Wort und Lehre lautet: Gerecht ist, wer dies und das vollbracht hat; diese aber sagen: Gerecht ist der, »dem der Herr die Schuld nicht zurechnet« (Ps. 32, 2). Jene wissen, wieviel und was zu leisten ist, damit einer gerecht wird. Diese aber wissen nicht, wann sie gerecht sind; denn gerecht sind sie nur, weil Gott sie gerecht spricht; diesen seinen Spruch aber kennt niemand; ihn darf man vielmehr nur erbitten und erhoffen. Deshalb haben die einen Zeiten, da meinen sie, sie wären keine Sünder. Die anderen aber haben immer das Bewußtsein, Sünder zu sein.

Zu Vers 7: Um nun das Wort »Selig sind die, welchen vergeben ist« usw. verständlich zu machen, sei die These aufgestellt: Die Heiligen sind von innen (gesehen) immer Sünder, deshalb werden sie immer von außen her gerechtfertigt. Die Heuchler aber sind von innen (gesehen) immer gerecht, daher sind sie von außen (gesehen) immer Sünder. Von innen, sage ich, d.h. so wie wir vor uns, in unseren Augen, unserer eigenen Meinung nach dastehen, von außen her dagegen (sage ich, wenn ich meine), wie wir vor Gott und in seinem Urteil dastehen. Von außen her sind wir also dann gerecht, wenn wir weder aus uns selbst noch wegen unserer Werke, sondern ausschließlich kraft göttlichen Urteils gerecht sind. Dieses göttliche Urteil ist aber für uns und unsere Macht nicht verfügbar; folglich ist auch unsere Gerechtigkeit für uns und unsere Macht nicht verfügbar. So sagt Hosea 13, 9: »Israel, du bringst dich ins Unglück, denn dein Heil steht allein bei mir«, d.h. aus dir selbst kommt dir nur dein Unglück, dein Heil aber kommt dir von außen. Und Psalm 121, 2: »Meine Hilfe kommt vom Herrn«, was heißen soll: nicht von mir selbst. Von innen her aber sind wir Sünder zufolge des Wesens des in Zuordnung Stehenden. Denn wenn wir nur in Gottes Urteil gerecht sind, dann nicht in unserem Leben und Wirken. Daher sind wir auch von innen und von uns aus gesehen immer gottlos. So sagt Ps. 51, 5: »Meine Sünde ist immer vor mir«, d.h. ich habe immer vor Augen, daß ich ein Sünder bin.
Denn »an dir allein habe ich gesündigt« (d.h. bin ich Sünder), »deshalb wirst du recht behalten in deinem Wort« usw. Dagegen sind die Heuchler, die ja von innen (her betrachtet) gerecht sind, durch die Kraft und den Zwang der Relation von außen gesehen (d.h. im Urteil Gottes) aber ungerecht gemäß Ps. 95, 10: »Daß ich sprach: Es sind Leute, deren Herz immer den Irrweg will«, sie verdrehen alle Worte der Schrift, wie z.B. jenes: »Meine Sünde ist immer vor mir« (Ps. 51, 5). Sie aber sagen: »Meine Gerechtigkeit ist immer vor mir« (d.h. vor meinen Augen) und selig sind, die Gerechtigkeit wirken usw. Vor dir, sagen sie (nicht etwa: ich habe gesündigt, sondern), tue ich, was gerecht ist: fürwahr, sie wirken nur für sich.

»Wundersam ist Gott in seinen Heiligen«, für ihn sind sie gerecht und ungerecht in einem. Und wunderbar ist Gott auch in den Heuchlern, für ihn sind sie ungerecht und gerecht in einem. Denn solange die Heiligen immer ihre Sünde vor Augen haben und ihre Gerechtigkeit von Gott gemäß seiner Barmherzigkeit erflehen, werden sie immer ohne weiteres auch von Gott gerecht gesprochen. Demnach sind sie von sich aus gesehen selbst und in Wahrheit ungerecht, von Gott aus aber, der sie wegen dieses Bekenntnisses der Sünde anerkennt, gerecht; in Wahrheit Sünder, aber im Urteil des barmherzigen Gottes gerecht; gerecht, ohne es zu wissen und wissentlich ungerecht; Sünder in ihrem Tun, Gerechte aber in der Hoffnung. Genau das ist gemeint, wenn er (Paulus) hier sagt: »Selig sind die, welchen ihre Ungerechtigkeiten vergeben sind und welchen ihre Sünden bedeckt sind.« Von daher ergibt sich (Ps. 32, 5): »Ich sprach: Ich will mir zum Schaden meine Übertretungen bekennen« (d.h. immer werde ich meine Sünde vor Augen haben, die ich dir bekennen will). Darum »vergabst du die Schuld der Sünde« (Ps. 32, 5), nicht nur mir, sondern allen. Von daher ergibt sich (Ps. 32, 6): »Deshalb werden alle Heiligen zu dir beten.« Da haben wir es: Jeder Heilige ist ein Sünder und betet für seine Sünden. So ist der Gerechte im Grunde Ankläger seiner selbst. Und an anderer Stelle (Sir. 39, 7): Der Gerechte »betet für seine Sünden«. Und ferner Ps. 38, 19: »So bekenne ich denn meine Missetat und sorge mich wegen meiner Sünde.« Wunderbar und höchst erquickend ist also das Erbarmen Gottes, der uns gleichzeitig als Sünder und Nichtsünder ansieht. Die Sünde bleibt und bleibt gleichzeitig doch wieder nicht. Gemäß der Überschrift des Psalmes bedarf es hier also des Wissens darum. Wunderbar und grausam ist andererseits sein Zorn. Ihm (Gott) ist der Gottlose ungerecht und gerecht zugleich. Seine Sünde wird ihm zugleich weggenommen und nicht weggenommen.

Die Kirche ist eine Herberge und Krankenhaus für Kranke und Pflegebedürftige. Der Himmel aber ist die Residenz der Geretteten und der Gerechten. So wie 2. Petr. 3, 13 sagt: »Neue Himmel und eine neue Erde wird der Herr erschaffen, in welchen Gerechtigkeit wohnt.« Noch wohnt hier (auf Erden) die Gerechtigkeit nicht, aber sie bereitet sich schon ihren Platz, indem sie die Sünden heilt. Dieses Wissen um die Sünde haben alle Heiligen gehabt, so wie es David, Ps. 32, 5, kundgetan hat. Darum haben sie alle bekannt, sie seien Sünder, wie in den Schriften Augustins deutlich (zu sehen) ist. Unsere Theologen haben an dieser Stelle die Sünde ausschließlich auf die Werke bezogen und allmählich nur noch gelehrt, wodurch die Werke davor bewahrt werden können, aber nichts darüber (gesagt), wie sie mit Seufzen demütig um die rettende Gnade bitten und sich als Sünder bekennen. So bringen sie die Menschen unausweichlich dahin, daß sie aufgeblasen werden und durch den Erlaß für das (sündhafte) Tun nach außen hin schon vollkommen gerecht zu sein glauben und in keiner Weise darum besorgt sind, auch ihren Begierden durch beständiges Flehen zum Herrn den Kampf anzusagen. Daher ist auch jetzt in der Kirche die Rückfälligkeit nach den Beichten so groß. Denn die Leute wissen nichts davon, daß ihre Rechtfertigung noch bevorsteht, sondern vertrauen darauf, sie seien schon gerechtfertigt und stürzen so durch ihre Sicherheit gerade ohne jedes Zutun des Teufels ins Verderben. Das kommt mit Sicherheit dabei heraus, wenn man die Gerechtigkeit auf Werke gründet. Mag sein, daß sie um Gottes Gnade flehen, jedoch nicht in der rechten Weise, sondern nur um Vergebung für das sündige Tun. Wer Christus zugehört, der hat dagegen den Geist Christi und handelt richtig, mag er auch das, was wir soeben vorgetragen haben, nicht verstehen; er handelt nämlich (danach), noch ehe er es versteht, ja er versteht es aus dem Leben selbst besser als aus der Lehre.

[Martin Luther: Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516). Zeno.org: Martin Luther: Werke, S. 552-560
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

Jörg
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Vorlesung über den Römerbrief (Kapitel 4, 7)

Ein Argument, das dem oben Gesagten – nämlich die Gerechtigkeit Gottes werde den Gläubigen ohne Werke zuteil – entgegengehalten wird, steht noch aus: Wir lesen doch in vielen Heiligenlegenden, daß bestimmte Werke der Heiligen bzw. ihre Gebete von Gott anerkannt und den anderen als Beispiel hingestellt worden sind. Demnach sind sie durch solche Werke gerechtfertigt worden. Ich erwidere: Ein schönes Argument, das einerseits einen großen Irrtum auslöst, andererseits aber die richtige Auffassung des oben Gesagten deutlicher werden läßt. Der Irrtum liegt bei denen, die all das, was Gott anerkennt, alsbald mit ihren vorgeblichen Kräften nachahmen und deshalb Anerkennung gewinnen wollen, weil das, was sie tun, dem ähnlich ist, was anerkannt worden ist; genau das heißt, die Gerechtigkeit der Werke suchen und mitnichten jene (Heiligen) nachahmen, sondern ihr Beispiel ins Gegenteil verkehren. Diejenigen jedenfalls, denen diese Werke anerkannt und empfohlen worden sind, haben sie nämlich nicht in der Absicht vollbracht, sie anerkannt zu erhalten, ja, sie haben nicht einmal gewußt, ob sie von Gott überhaupt anerkannt werden würden, sondern haben in demütigem Glauben getan, was sie konnten und immer gefleht, ihr Tun möge Gott infolge seiner Barmherzigkeit wohlgefallen. Somit sind sie selbst um ihres demütigen Flehens im Glauben willen zuerst anerkannt worden, erst daraufhin sind auch ihre Werke anerkannt und angenommen worden. Du alles verdrehender Narr fängst dagegen zuerst bei den anerkannten Werken an; das innere Flehen, durch das du genau wie jene (Heiligen) zuvor Anerkennung suchen müßtest, unterläßt du dagegen. Allein durch deine Werke willst du Anerkennung finden, d.h. (du willst) erst solle das Opfer und dann erst Abel gnädig angesehen werden (vgl. 1. Mose 4, 4). Das wird nie geschehen. Und so ein Irrsinn tobt sich nun heutzutage überall auf den Kanzeln derer aus, die das Wort Gottes predigen.

Daher und im Vertrauen auf den Ausspruch, der von Augustin überliefert ist, ein großer Teil der Gerechtigkeit bestehe darin, gerecht sein zu wollen, verfallen viele in Untätigkeit und Sorglosigkeit. Dieses Wollen stellen sie nun als die kleinste (dem menschlichen Vermögen) entlockte Tätigkeit hin, die im übrigen zwar bald versiegt und nichts zuwege bringt, derzufolge sie aber doch in völliger Sicherheit schlafwandeln. Es ist wahr, die Gerechtigkeit ist Wollen und nicht nur ein großer Teil (davon), sondern wahrhaftig alle Gerechtigkeit, die man in diesem Leben haben kann, freilich nicht dieses Wollen hier, sondern jenes, von dem der Apostel später sagt (Röm. 7, 18): »Wollen habe ich wohl, aber vollbringen das Gute finde ich nicht«. Dieses ganze Leben ist nämlich eine Zeit, da wir die Gerechtigkeit wollen, aber sie durchaus nicht vollbringen; (die Zeit dafür ist) vielmehr das zukünftige Leben. (Gerechtigkeit) wollen heißt daher, mit aller Kraft, Eifer, Gebet, mit allem Tun und Leiden zeigen, daß wir die Gerechtigkeit begehren, das Vollkommene aber noch nicht erlangt haben. Das kann man sehr schön und mit zahlreichen Belegstellen in vielen Schriften Augustins nachlesen, besonders im 2. Buch »Gegen Julian«, wo er Ambrosius, Hilarius, Cyprian, Chrysostomus, Basilius, Gregor von Nazianz, Irenäus, Reticius und Olimp(i)us zitiert. Gerade diese Sicherheit ist also die Mutter der Heuchler und die Ursache der Heuchelei. Denn Gott beläßt uns in dieser Sünde hier, in der Sinnlichkeit und der Begierde, um uns eben dadurch in seiner Furcht und in Demut zu halten, damit wir auf diese Weise immer zu seiner Gnade Zuflucht nehmen (sollen), immer besorgt, nur ja nicht zu sündigen, d.h. immer darum bittend, er möge uns das nicht zurechnen und die Sünde nicht die Oberhand über uns gewinnen lassen. In der Tat, eben durch Nicht-fürchten sündigen wir, zumal diese Verfehlung bei uns ohnehin Sünde ist, da wir es ihretwegen nicht fertigbringen, Gott über alle Dinge zu lieben. Verzeihlich und nicht zugerechnet aber wird sie dadurch nur, wenn wir um ihretwillen seufzen und sein Erbarmen in banger Sorge bestürmen, er möge uns ihretwegen nicht etwa verdammen, er möge sie uns nicht zurechnen, und daß wir bitten, sie möge durch seine Gnade von uns genommen werden, und uns so ihretwegen als Sünder bekennen und uns unter Weinen, Büßen, Klagen und Tränen unter die Sünder rechnen. Sobald diese Furcht und bange Sorge nämlich aufhört, tritt alsbald ein Gefühl der Sicherheit ein; hat sich dieses Gefühl breit gemacht, dann setzt Gott sofort das Anrechnen zur Sünde wieder in Kraft, denn Gott hat beschlossen, nur dem die Sünde nicht zuzurechnen, der seufzt und zittert und unaufhörlich sein Erbarmen erfleht. Durch diesen barmherzigen Ratschluß nötigt uns der gnädige Gott dazu; dieses Leben zu verachten, auf das zukünftige Leben zu hoffen, seine Gnade zu suchen, die Sünde zu hassen, Buße zu tun usw.

In der Heiligen Schrift wird den Heuchlern und denen, die sich selbst heilig scheinen, daher nichts so oft zum Vorwurf gemacht und als Ursache für ihren Hochmut vorgehalten wie ihre Sicherheit, derzufolge sie die Gottesfurcht abtun (vgl. Sprüche 1, 29f.): »Weil sie die Erkenntnis haßten und die Furcht des Herrn nicht erwählten, meinen Rat nicht wollten usw.« Psalm 14, 3; 36, 2: »Es ist keine Gottesfurcht bei ihnen.« Hos. 10, 3: »Denn wir fürchten den Herrn nicht.« Dieses Elend ist die Folge davon, daß sie nicht danach trachten, diese inwendige Sünde auszutreiben, sondern der Sünde nur im Bereich von Werk, Wort und Gedanken einen Platz zuweisen; sicher haben sie sie daraus durch die Beichte entfernt, dann gehen sie ihren Weg im Gefühl völliger Sicherheit, und sind in nichts darum besorgt, durch flehentliches Bitten um Nichtanrechnung auch diese inwendige (Sünde) zu heilen. So (auch) Offb. 3, 17: »Du sprichst: Ich bin reich und habe gar satt und weißt nicht, daß du bist elend und jämmerlich, bloß und arm.« So auch Paulus: 1. Kor. 5, 7: »Darum feget den alten Sauerteig aus, auf daß ihr ein neuer Teig seid, wie ihr ja ungesäuert seid.« Wer von ihnen kann denn dies beides: daß sie ungesäuert sein sollen und dennoch den alten Sauerteig ausfegen müssen, als ein »Zugleich« begreifen? – Es sei denn, daß das eine in der Wirklichkeit, das andere aber wegen der Demut des Glaubens in der Furcht vor, in der Hoffnung auf und der Nicht-Anrechnung durch Gott existiert. Den Sauerteig haben auch sie, aber sie beklagen das und rufen die Gnade (Gottes) an; und darum sind sie Ungesäuerte im Urteil Gottes, der ihnen den Sauerteig nicht zurechnet, sondern zum Ausfegen überläßt. Wer daher nur die Tatsünde berücksichtigt und allein für ihre Beseitigung Sorge trägt, der überhebt sich leicht und bekommt ein Gefühl der Sicherheit, da er sich ja durch Sakrament und Beichte gereinigt weiß, so stolziert er ohne Bangen einher und ist sich weiter keiner Sünde bewußt.

Andere dagegen sind wieder zu kleinmütig; sie sündigen in der anderen Richtung, dadurch nämlich, daß sie zu sehr auf das Ausfegen des Sauerteigs, auf die vollkommene Gesundung drängen. Sie würden am liebsten sogar die innere Sünde mit Stumpf und Stiel ausrotten, und weil sie das nicht können, sondern des öfteren zu Fall kommen, werden sie traurig, niedergeschlagen und verzweifelt. Da die Gnade nun ihrem übertriebenen Eifer und ihrem hastigen Drängen nicht zur Hilfe kommt, suchen sie es mit eigenen Werken dahin zu bringen, ganz rein zu werden, und erleiden damit kläglich Schiffbruch. Das Gefühl der Sicherheit haben sie freilich nicht, aber sie streben immerhin nach dieser Sicherheit, zu der die anderen ja schon gelangt sind. Sie streben also beide nach Sicherheit und wollen der Furcht vor Gott entrinnen, die einen schon durch ihr Handeln, die anderen durch ihr Wünschen; also sind beide ohne Gottesfurcht. Die einen haben zuviel Furcht, ja sie haben sinnlos Furcht; denn sie glauben wohl, sie würden Gott dann gefallen, wenn sie rein wären; andererseits meinen sie, sie würden (Gott) unausweichlich dann mißfallen, wenn sie unrein wären und verkennen dabei die Barmherzigkeit Gottes, die sie hätten bestürmen sollen, damit er ihnen nicht zurechne, daß sie unrein sind. Und damit verlassen sie sich in der gefährlichsten Weise auf ihre eigenen Kräfte.

Jene zur Rechten sündigen also, da sie die Furcht abgelegt haben, aus dem Gefühl der Sicherheit, diese zur Linken durch ihr verzweifeltes Streben, da sie die Barmherzigkeit preisgegeben haben. Denn sie verkennen, daß diese innere Sünde in diesem Leben unmöglich getilgt werden kann, was sie gleichwohl erstreben, während die anderen verkennen, daß gerade sie denen, die (Gott) nicht fürchten, zugerechnet wird. Denn beide kennen und beachten nicht diese Art von Sünde, sondern nur die Tatsünde, wie ich schon sagte; sie müsse, meinen sie, bis zur (völligen) Reinheit ausgetrieben werden. Weil es dazu nicht kommt, so halten sie sich für verloren. Jene dagegen glauben sich gerettet, da sie sich für rein halten, obwohl es doch unmöglich ist, von jeder Tatsünde frei zu sein, solange diese Grund- und Ursünde noch da ist. Der Königsweg und der Weg des Friedens im Geiste ist also der, seine Sünde zwar zu kennen und zu hassen und somit in der Furcht Gottes einherzuschreiten, auf daß er sie nicht zurechne oder herrschen lasse, dennoch aber seine Barmherzigkeit anzuflehen, auf daß er uns davon befreie und sie nicht zurechne. Die Furcht wird die Rechte, das Erbarmen aber die Linke ausschließen, jene das Gefühl der Sicherheit, diese das Gefühl der Verzweiflung; jene die eitle Selbstgefälligkeit, diese das Verzweifeln an Gott.

[Martin Luther: Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516). Zeno.org: Martin Luther: Werke, S. 560-567
Wer sich nur nach dem, was er fühlt, richtet, der verliert Christus. (Martin Luther)

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