Die Institutio in einem Jahr lesen

Nur für Gläubige, die die fünf Punkte des Arminianismus ablehnen

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Der Pilgrim
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IV,10,27

Es gibt nun aber viele unerfahrene Leute, die, wenn sie hören, daß durch die menschlichen Satzungen die Gewissen der Menschen gottlos gebunden werden und Gott vergebens verehrt wird, mit dem gleichen Zuge auch alle Gesetze durchstreichen, durch welche die Ordnung der Kirche geregelt wird. Es ist also angebracht, daß wir auch ihrem Irrtum hier entgegentreten. Man kann hier sicherlich überaus leicht ausgleiten und sich täuschen; denn es tritt nicht gleich auf den ersten Blick klar zutage, was für ein großer Unterschied zwischen jenen Menschensatzungen und den rechten kirchlichen Ordnungen besteht. Ich werde aber die ganze Sache mit wenigen Worten so deutlich auseinandersetzen, daß sich keiner mehr von der Ähnlichkeit betrügen läßt. Da müssen wir zunächst dies wissen: wenn wir sehen, daß in jeglicher Gemeinschaft von Menschen eine bestimmte öffentliche Gewalt erforderlich ist, die in der Lage sein soll, den gemeinen Frieden zu fördern und die Eintracht aufrechtzuerhalten, und wenn wir sehen, daß bei allem Handeln stets ein gewisser Brauch herrscht, den nicht zu verschmähen der öffentlichen Ehrbarkeit und auch geradezu der Menschlichkeit dienlich ist, so muß es in besonderer Weise in den Kirchen so gehalten werden, die einerseits bei einer gutgeregelten Ordnung aller Dinge aufs beste erhalten bleiben, andererseits aber ohne Eintracht durchaus nicht bestehen können. Wenn wir also wollen, daß für das Wohlbestehen der Kirche gut gesorgt werde, so muß mit höchstem Eifer darauf Nachdruck gelegt werden, daß es nach der Anweisung des Paulus geht: „Lasset alles ehrbar und ordentlich zugehen“ (1. Kor. 14,40). Da aber die Sitten der Menschen so verschieden, ihre Gemüter so vielartig und ihre Urteile und Einfälle so widersprechend sind, so ist keine öffentliche Gewalt stark genug, wenn sie nicht durch bestimmte Gesetze geregelt ist, und es kann auch kein Brauch irgendwelcher Art ohne eine festgelegte Form aufrechterhalten werden. Die Gesetze also, die dazu dienen, wollen wir so wenig verurteilen, daß wir vielmehr behaupten, daß mit ihrer Abschaffung die Kirchen von ihren Muskeln losgelöst und gänzlich verunstaltet und zerrüttet werden. Denn was Paulus fordert, nämlich daß „alles ehrbar und ordentlich zugehe“, das läßt sich nicht festhalten, wenn Ordnung und Ehrbarkeit nicht dadurch Bestand haben, daß man Regeln hinzufügt, die dann gleich Bändern wirken. Nur muß man bei solchen Regeln stets die Bedingung machen: sie dürfen nicht für heilsnotwendig gehalten werden und dementsprechend die Gewissen mit heiliger Scheu binden, ebenso dürfen sie nicht auf die Verehrung Gottes bezogen werden, und deshalb darf die Frömmigkeit nicht auf ihnen beruhen.



IV,10,28

Wir haben also ein sehr gutes und höchst zuverlässiges Kennzeichen, das den Unterschied aufzeigt zwischen jenen gottlosen Satzungen, mit denen, wie bereits ausgeführt, die Religion verdunkelt wird und die Gewissen zu Fall gebracht werden, und den rechtmäßigen Lebensregeln der Kirche; (dies gewinnen wir) wenn wir bedenken, daß die letzteren stets einer von den beiden folgenden Aufgaben dienen sollen oder auch beiden zugleich, erstens soll bei der heiligen Versammlung der Frommen alles ehrbar und mit der gebührenden Würde zugehen, und zweitens soll die Gemeinschaft der Menschen selbst gleichsam durch Bande der Menschlichkeit und des Maßhaltens in Ordnung gehalten werden. Sobald man nämlich einmal begreift, daß ein Gesetz um der öffentlichen Ehrbarkeit willen gegeben ist, da ist auch schon der Aberglaube behoben, in den solche Leute verfallen, die die Verehrung Gottes nach menschlichen Fündlein bemessen. Und wiederum, wo man erkennt, daß das Gesetz dem gemeinen Nutzen dienen soll, da ist jener falsche Wahn von Verbindlichkeit und Notwendigkeit hinfällig geworden, der den Gewissen einen ungeheuren Schrecken einjagte, weil sie meinten, solche Satzungen seien zum Heil notwendig. Denn es wird hier nichts gesucht, als daß die Liebe unter uns durch gemeinsame Dienstleistung gefördert werde. Es ist aber angebracht, daß wir noch deutlicher umschreiben, was unter jener „Ehrbarkeit“ die uns Paulus anbefiehlt, und ebenso unter jener „Ordnung“ verstanden ist (1. Kor. 14,40). Die „Ehrbarkeit“ dient nun folgendem Zweck: einerseits sollen wir, indem fromme Gebräuche zur Anwendung kommen, um den heiligen Dingen Ehrfurcht zu verschaffen, durch derartige Hilfsmittel zur Frömmigkeit aufgemuntert werden, andererseits sollen dabei auch Bescheidenheit und Ernst, die bei allen ehrenhaften Verrichtungen zu sehen sein müssen, in höchstem Maße ans Licht treten. Bei der „Ordnung“ ist das erste dies, daß die, die zu leiten haben, die Regel und das Gesetz für eine gute Regierungsführung kennen, das Volk aber, das regiert wird, sich an den Gehorsam gegen Gott und an die rechte Zucht gewöhnt. Das zweite ist, daß durch einen wohlgeordneten Zustand der Kirche für Frieden und Ruhe gesorgt wird.



IV,10,29

„Ehrbarkeit“ werden wir also nicht das nennen, was nichts als eitle Ergötzlichkeit in sich trägt; ein Beispiel dafür sehen wir etwa in jenem schauspielartigen Gepränge, das die Papisten bei ihren heiligen Handlungen entfalten, in denen nichts in die Erscheinung tritt als die nutzlose Maske der Zierlichkeit und ein Prunk, der keine Frucht trägt. Nein, „Ehrbarkeit“ soll für uns das sein, was der Ehrfurcht vor den heiligen Geheimnissen in solcher Weise dient, daß es eine geeignete Übung zur Frömmigkeit darstellt, oder was wenigstens zu einer Ausschmückung beiträgt, die zu der betreffenden Handlung paßt, und zwar nicht ohne Frucht, sondern um die Gläubigen daran zu mahnen, mit wieviel Bescheidenheit, heiliger Scheu und Ehrerbietung sie die heiligen Dinge behandeln sollen. Um nun aber Übungen der Frömmigkeit zu sein, müssen uns die Zeremonien geraden Weges zu Christus hinführen. Und ebenso werden wir unter „Ordnung“ nicht jenes läppische Gepränge verstehen, das nichts als eitlen Glanz besitzt, sondern vielmehr eine solche Regelung, die alle Verwirrung, Barbarei und Widerspenstigkeit, allen Zank und Streit behebt. Für die erste Gruppe (also für Einrichtungen, die der „Ehrbarkeit“ dienen) gibt es Beispiele bei Paulus; so z.B. daß mit dem heiligen Abendmahl des Herrn nicht unheilige Gastmähler vermengt werden dürfen und daß die Frauen nur verhüllt in der Öffentlichkeit erscheinen sollen (1. Kor. 11,21.5). Sehr viele andere Beispiele dafür haben wir im täglichen Gebrauch; dazu gehört es, daß wir beim Beten die Knie beugen und das Haupt entblößen, daß wir die Sakramente des Herrn nicht unordentlich, sondern mit einer gewissen Würde austeilen, daß wir beim Begräbnis der Verstorbenen eine gewisse Ehrbarkeit walten lassen – und was sonst noch dazu kommt. Zu der zweiten Gruppe (also zu den Satzungen, die der „Ordnung“ dienen) gehört es, daß für die öffentlichen Gebete, Predigten und heiligen Handlungen bestimmte Stunden festgesetzt sind, daß bei den Predigten Stille und Schweigen herrscht, daß bestimmte Plätze vorhanden sind, daß man Gesänge anstimmt, daß für die Feier des Herrnmahles bestimmte Tage vorher festgelegt werden; hierher gehört es auch, daß Paulus das Lehren der Frauen in der Kirche verbietet (1. Kor. 14,34), und ähnliches mehr. Vor allem aber ist hier das zu nennen, was die Zucht erhält, wie der kirchliche Unterricht, die Kirchenzucht, der Bann, das Fasten und was sonst in dieser Art noch aufzuzählen wäre. So lassen sich alle kirchlichen Satzungen, die wir als heilig und heilsam annehmen, in zwei Hauptstücken zusammenfassen: die einen beziehen sich nämlich auf Gebräuche und Zeremonien, die anderen auf die Zucht und den Frieden.



IV,10,30

Aber es besteht hier die Gefahr, daß auf der einen Seite die falschen Bischöfe aus unseren Ausführungen einen Vorwand nehmen, um ihre gottlosen, tyrannischen Gesetze zu entschuldigen, auf der anderen Seite aber einige gar zu furchtsame Menschen stehen, die, durch die früheren Mißstände gewarnt, nun keinem einzigen Gesetz mehr Raum geben wollen, selbst wenn es noch so heilig wäre. Angesichts dieser Gefahr ist es angebracht, hier zu bezeugen, daß ich nur solche menschlichen Satzungen gutheiße, die auf Gottes Autorität gegründet, aus der Schrift entnommen und deshalb voll und ganz göttlich sind. wenn feierliche Gebete gehalten werden. Die Frage ist nun, ob das eine menschliche Überlieferung ist, die jedermann verwerfen oder unterlassen darf. Ich behaupte: es ist menschlich, aber so, daß es zugleich göttlich ist. von Gott kommt es, sofern es ein Stück jener „Ehrbarkeit“ ist, für die wir, wie uns der Apostel anbefiehlt, sorgen und die wir innehalten sollen (1. Kor. 14,40). Von den Menschen kommt es, sofern es im besonderen aufzeigt, was (von dem Apostel) im allgemeinen mehr angedeutet als dargelegt worden war. Von diesem einen Beispiel aus läßt sich ermessen, wie wir über diese ganze Gruppe zu urteilen haben: (1.) Da der Herr die ganze Hauptsumme der wahren Gerechtigkeit und alle Stücke der Verehrung seines gottheitlichen Wesens, dazu überhaupt alles, was zum Heil notwendig war, in seinen heiligen Offenbarungsworten getreulich zusammengefaßt und auch deutlich ausgelegt hat, so ist in diesen Dingen er allein als Meister zu hören. (2.) Weil er nun aber in der äußeren Zuchtübung und den Zeremonien nicht im einzelnen hat vorschreiben wollen, was wir da zu befolgen haben – er sah eben vor, daß dies von den Zeitumständen abhängig wäre, und war nicht des Urteils, daß eine und dieselbe Form für alle Zeiten passend wäre -, so müssen wir hier zu den allgemeinen Regeln unsere Zuflucht nehmen, die er uns gegeben hat, damit nach ihnen alles ausgerichtet werde, was die Notdurft der Kirche je an Vorschriften für „Ordnung“ und „Ehrbarkeit“ erforderlich machen wird. (3.) Und schließlich: er hat ja deshalb nichts Ausdrückliches vorgeschrieben, weil diese Dinge nicht heilsnotwendig sind und weil sie je nach den Sitten des einzelnen Volkes und der einzelnen Zeit in verschiedener Weise zur Auferbauung der Kirche angewendet werden müssen; daher wird es am Platze sein, je wie es der Nutzen der Kirche erfordert, sowohl im Gebrauch befindliche Einrichtungen abzuändern oder abzutun, als auch neue zu schaffen. Ich gebe zwar zu, daß man nicht unüberlegt, auch nicht immer wieder und auch nicht aus geringfügigen Ursachen zur Neuerung greifen darf. Aber was Schaden bringt oder was erbaut, das wird die Liebe am besten beurteilen; wenn wir sie unsere Meisterin sein lassen, so wird alles gut stehen.
Simon W.

Der Pilgrim
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IV,10,31

Nun ist es aber die Pflicht des christlichen Volkes, das, was nach dieser Richtschnur eingerichtet ist, zwar mit freiem Gewissen und ohne allen Aberglauben, aber doch mit frommer und gehorsamswilliger Neigung innezuhalten, es nicht verächtlich zu behandeln und nicht mit lässiger Nichtachtung zu übergehen. So wenig kann die Rede davon sein, daß es sie etwa aus Aufgeblasenheit oder Widerspenstigkeit offen verletzen dürfte! Wieso kann nun aber, so wird man fragen, bei solcher Ehrerbietung und Behütsamkeit von einer Freiheit des Gewissens die Rede sein? Ja, allerdings! Sie wird herrlich bestehen, wenn wir in Betracht ziehen, daß es sich hier nicht um unveränderliche, ewige Festsetzungen handelt, an die wir gebunden wären, sondern um äußerliche Übungen der menschlichen Schwachheit, die wir zwar nicht alle nötig haben, aber doch alle ausführen, weil wir es einer dem anderen schuldig sind, untereinander die Liebe zu pflegen. Das läßt sich an den weiter oben aufgeführten Beispielen erkennen, wieso, besteht die Religion etwa in dem Kopftuch der Frau, so daß es eine Sünde wäre, wenn sie mit bloßem Haupte ausginge? Ist jenes Gebot von dem Stillschweigen der Frau (in der Gemeinde) etwa heilig, so daß man es nicht verletzen kann, ohne die schlimmste Missetat zu begehen? Steckt etwa im Kniebeugen (beim Beten) oder im Begräbnis der Leichname ein Geheimnis, so daß man es nicht ohne Sünde unterlassen könnte? Durchaus nicht! Denn wenn eine Frau, um ihrem Nächsten zu helfen, so große Eile nötig hat, daß sie infolgedessen ihr Haupt nicht verhüllen kann, dann tut sie keine Sünde, wenn sie mit unverschleiertem Haupte herzueilt. Auch gibt es Gelegenheiten, wo ihr das Reden nicht weniger ansteht als sonstwo das Schweigen. Nichts verbietet auch, daß einer, der durch Krankheit verhindert ist, die Knie zu beugen, stehend betet. Und endlich: es ist besser, einen Verstorbenen frühzeitig zu begraben, als daß man, wenn kein Leichenkleid vorhanden ist oder keine Leute da sind, um ihn zu geleiten, solange wartet, bis er unbeerdigt in Verwesung übergeht. Nichtsdestoweniger aber steht es mit diesen Dingen so, daß uns die Landesgewohnheit, die bestehenden Einrichtungen und schließlich das menschliche Empfinden und die Regel der Bescheidenheit schon in den Sinn geben, was zu tun oder zu meiden ist. Hat da nun einer durch Unklugheit oder Vergeßlichkeit etwas verkehrt gemacht, so ist damit kein Verbrechen begangen, ist es aber aus Verachtung (der Ordnung) geschehen, so ist die (darin zutage tretende) Widerspenstigkeit zu mißbilligen. Ebenso macht es nichts aus, welches die (für den Gottesdienst vorgesehenen) Tage und Stunden sind, wie der Aufbau der Plätze (in der Kirche) sich gestaltet, und welche Psalmen an den einzelnen Tagen gesungen werden sollen. Daß dagegen (überhaupt) bestimmte Tage und festgesetzte Stunden bestehen, daß ein Raum vorhanden ist, um alle aufzunehmen, das ist erforderlich, wenn man irgendwie auf die Erhaltung des Friedens Bedacht nimmt. Denn zu was für großen Streitigkeiten würde die Verwirrung in diesen Dingen den Keim bilden, wenn jeder nach seinem Geschmack ändern dürfte, was doch dem gemeinsamen Wohlbestehen dienen soll! Denn wenn man die Dinge gleichsam in die Mitte stellt und sie dem Gutdünken des einzelnen überläßt, dann wird es nie und nimmer vorkommen, daß allen das gleiche zusagt. Wenn nun jemand Widerrede erhebt und hier klüger sein will, als es sich gehört, dann soll er selber zusehen, auf welche Art er dem Herrn seinen Eigensinn wohlgefällig macht! Uns aber soll das Wort des Paulus genug sein, wir hätten nicht die Gepflogenheit zu streiten, und die Kirchen Gottes auch nicht (1. Kor. 11,16).



IV,10,32

Man muß sich nun aber mit höchstem Eifer darum bemühen, daß sich nicht ein Irrtum einschleicht, der diesen reinen Gebrauch (der kirchlichen Satzungen) vergiftet und verfinstert. Das wird aber erreicht werden, wenn alle bestehenden Satzungen einen offenkundigen Nutzen an den Tag legen, wenn sie nur sehr sparsam zugelassen werden, vor allem aber, wenn die Unterweisung eines treuen Hirten dazukommt und allen verkehrten Meinungen den Zugang von vornherein verschließt. Diese Erkenntnis aber bewirkt, daß jeder in allen diesen Dingen seine Freiheit behält, und daß trotzdem jeder freiwillig seiner Freiheit einen gewissen Zwang auferlegt, sofern es jene „Ehrbarkeit“, von der wir sprachen, oder auch das Bedachtnehmen auf die Liebe erfordert. Ferner wird jene Einsicht zur Folge haben, daß wir bei der Beobachtung dieser Dinge ohne allen Aberglauben handeln und sie auch nicht gar zu eigensinnig von anderen verlangen, daß wir einen Gottesdienst nicht etwa um der Fülle der Zeremonien willen für besser halten und daß nicht eine Kirche die andere wegen der Verschiedenheit der äußeren Ordnung geringschätzt. Und endlich wird solche Erkenntnis dafür sorgen, daß wir uns hier kein ewiges Gesetz aufrichten, sondern die ganze Übung solcher Gebräuche und auch ihren Zweck auf die Erbauung der Kirche beziehen und es für den Fall, daß sie es erheischt, ohne Anstoß ertragen, daß nicht nur das eine oder andere verändert wird, sondern auch alle Gebräuche, die zuvor bei uns in Übung standen, abgetan werden. Denn daß die Zeitumstände es mit sich bringen können, daß manche Gebräuche, die im übrigen nicht gottlos oder unziemlich waren, abgeschafft werden müssen, weil die Verhältnisse es erheischen, – dafür ist unsere Zeit ein wirksamer Beweis. Denn bei der großen Blindheit und Unwissenheit der vergangenen Zeit haben die Kirchen früher in solch verkehrtem Wahn und so hartnäckigem Eifer an den Zeremonien gehangen, daß sie kaum genugsam von dem ungeheuerlichen Aberglauben gereinigt werden konnten, ohne daß viele Zeremonien abgeschafft wurden, die in alter Zeit vielleicht nicht ohne Grund eingerichtet worden waren und an und für sich keine Gottlosigkeit erkennen ließen.



Elftes Kapitel: Von der Rechtsprechung der Kirche und deren Mißbrauch, wie er im Papsttum zu sehen ist


IV,11,1

Jetzt bleibt noch das dritte Stück der Kirchengewalt übrig, und zwar das, das bei einem wohlgeordneten Stand der Kirche das wichtigste ist: es liegt, wie wir bereits sagten, in der Rechtsprechung. Nun bezieht sich die gesamte kirchliche Rechtsprechung auf die Sittenzucht, von der wir bald noch zu reden haben werden. Wie nämlich keine Stadt und kein Dorf ohne Obrigkeit und öffentliches Regiment bestehen kann, so bedarf auch die Kirche Gottes, wie ich bereits dargelegt habe, aber jetzt abermals zu wiederholen genötigt bin, gewissermaßen ihres geistlichen Regiments, das aber von dem bürgerlichen völlig unterschieden ist und es keineswegs behindert oder schwächt, sondern ihm vielmehr wesentliche Hilfe und Förderung schafft. Diese kirchliche Rechtsprechungsgewalt wird also in ihrem wesentlichen Inhalt nichts anderes sein als eine Ordnung, die dazu eingerichtet ist, das geistliche Regiment zu erhalten. Zu diesem Zweck hat man in der Kirche von Anfang an richterliche Behörden eingerichtet, um die Sittenzucht zu üben, gegen Laster strafend vorzugehen und das Amt der Schlüssel zu verwalten. Diesen Stand (d.h. die Ältesten) hat Paulus im (ersten) Korintherbrief im Auge, indem er von „Regierern“ spricht (1. Kor. 12,28). Und das gleiche meint er im Römerbrief, wenn er sagt: „Regiert jemand, so sei er sorgfältig“ (Röm. 12,8). Denn er redet da nicht die Obrigkeiten an – christliche Obrigkeiten gab es damals nicht -, sondern die, welche den „Hirten“ zum Zweck des geistlichen Regiments der Kirche beigeordnet waren. Auch im (ersten) Brief an Timotheus spricht er von zweierlei Ältesten, solchen, „die da arbeiten am Wort“, und anderen, die die Predigt des Wortes nicht üben, aber doch „wohl vorstehen“ (1. Tim. 5,17). Unzweifelhaft meint er nun mit dieser zweiten Gruppe die Männer, die zur Aufsicht über die Sitten und zum gesamten Gebrauch der Schlüssel eingesetzt waren. Denn diese Gewalt, von der wir hier sprechen, hängt voll und ganz an den „Schlüsseln“, die Christus seiner Kirche übergeben hat, wie es bei Matthäus im achtzehnten Kapitel berichtet wird. Da gebietet der Herr, die, welche persönliche Ermahnungen verachtet haben, im Namen der ganzen Gemeinde ernstlich zu vermahnen, und lehrt, daß solche Leute bei verharren in ihrer Halsstarrigkeit aus der Gemeinschaft der Gläubigen auszustoßen sind (Matth. 18,15-18). Nun können aber solche Vermahnungen und Strafen nicht ohne vorherige Untersuchung des Falles vor sich gehen, und deshalb bedarf es eines richterlichen Verfahrens und einer gewissen Ordnung. Wenn wir also die Verheißung der Schlüssel nicht ungültig machen und Bann, feierliche Vermahnungen und dergleichen aus dem Wege räumen wollen, so müssen wir der Kirche eine gewisse Rechtsprechung zugestehen. Die Leser müssen beachten, daß es sich an jener Stelle (Matth. 18) nicht um die allgemeine Lehrautorität (der Kirche) handelt, wie das Matth. 16 (Vers 19) und Johannes 20 (Vers 23) der Fall ist, sondern daß hier das Recht des Synedriums für die Zukunft auf die Herde Christi übertragen wird. Bis zu jenem Tage hatten die Juden ihre eigene Regierungsweise; diese richtet nun Christus, soweit es die reine Einrichtung (als solche) betrifft, in seiner Kirche auf. Und zwar geschieht das mit einer ernsten Strafandrohung. So war es nämlich erforderlich, weil sonst das Urteil der unansehnlichen, verachteten Kirche von unbesonnenen und aufgeblasenen Leuten hätte in den Wind geschlagen werden können. Damit es nun den Leser nicht stört, daß Christus mit den gleichen Worten zwei Dinge andeutet, die untereinander ziemlich verschieden sind, so wird es von Nutzen sein, diesen Knoten aufzulösen. Es gibt zwei Stellen, die vom Binden und Lösen reden. Die eine steht im 16. Kapitel bei Matthäus: da gibt Christus zunächst die Verheißung, er wolle dem Petrus „des Himmelreichs Schlüssel geben“, und dann fügt er gleich hinzu, was Petrus auf Erden gebunden oder gelöst hätte, das solle auch im Himmel so gelten (Matth. 16,19). Mit diesen Worten gibt der Herr nichts anderes zu erkennen als mit den anderen, die sich bei Johannes (Joh. 20,23) finden: da ist er im Begriff, die Jünger zur Predigt auszusenden, und, nachdem er sie „angeblasen“ hat, spricht er zu ihnen: „Welchen ihr die Sünden erlasset, denen sollen sie erlassen sein, und welchen ihr sie behaltet, denen sollen sie auch im Himmel behalten sein“ (Joh. 20,23; nicht Luthertext). Ich will nun eine Deutung vorbringen, die nicht spitzfindig, nicht gezwungen und nicht verdreht, sondern vielmehr klar, eindeutig und leicht zugänglich ist. Dieser Auftrag (an die Jünger), Sünden zu erlassen und zu behalten, wie auch jene Verheißung an Petrus bezüglich des Bindens und Lösens (Matth. 16,19) dürfen auf nichts anderes bezogen werden als auf den Dienst am Wort: indem der Herr den Aposteln diesen Dienst anvertraute, rüstete er sie zugleich mit diesem Amte aus, zu binden und zu lösen. Denn was anders ist die Hauptsumme des Evangeliums, als daß wir alle, die wir Knechte der Sünde und des Todes sind, losgesprochen und frei gemacht werden durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist, daß aber die, die Christus nicht als Befreier und Erlöser annehmen und erkennen, zu ewigen Banden verurteilt und überantwortet sind? Als der Herr seinen Aposteln diese Botschaft übergab, damit sie sie zu allen Nationen trügen, da ehrte er sie, um zu bekräftigen, daß sie seine Botschaft und von ihm ausgegangen war, mit diesem herrlichen Zeugnis, und zwar zu außerordentlicher Stärkung der Apostel selbst wie auch aller, zu denen sie dringen sollte. Es war von Belang, daß die Apostel eine sichere und beständige Gewißheit für ihre Predigt bekamen; denn sie sollten nicht allein unendlichen Mühen, Sorgen, Unbequemlichkeiten und Gefahren entgegengehen, sondern diese Predigt auch schließlich mit ihrem Blute besiegeln! Damit sie nun, so meine ich, wußten, daß diese Botschaft nicht eitel und inhaltlos, sondern voller Gewalt und Kraft war, so war es von Belang, daß sie in so großer Bedrängnis, so großen Schwierigkeiten der Verhältnisse und so großen Gefahren die Überzeugung hatten, daß sie Gottes Sache trieben, es war von Belang, daß sie inmitten der Gegnerschaft und des Widerstandes der ganzen Welt erkannten, daß Gott ihnen zur Seite stand, es war von Belang, daß sie begriffen, daß Christus, den sie zwar dem Anblick nach nicht auf Erden bei sich gegenwärtig hatten, im Himmel sei, um die Wahrheit der Lehre zu bekräftigen, die er ihnen übergeben hatte! Auf der anderen Seite mußte es auch ihren Zuhörern aufs gewisseste bezeugt sein, daß jene Lehre des Evangeliums nicht das Wort der Apostel war, sondern Gottes eigenes Wort, daß sie nicht auf Erden entstanden, sondern vom Himmel herabgekommen war. Denn solche Dinge wie die Vergebung der Sünden, die Verheißung des ewigen Lebens und die Botschaft des Heils können ja nicht in der Gewalt des Menschen stehen. Christus hat also bezeugt, daß an der Predigt des Evangeliums den Aposteln nichts eigen war als der Dienst, daß dagegen er es war, der durch ihren Mund wie durch ein Werkzeug alles reden und verheißen wollte. Deshalb sei, so bezeugte er, die Vergebung der Sünden, die sie verkündigten, Gottes wahrhaftige Verheißung, die Verdammnis, die sie androhten, Gottes gewisses Urteil. Dieses Zeugnis aber ist für alle Zeiten gegeben, und es bleibt fest bestehen, um allen die Gewißheit und Sicherheit zu verleihen, daß das Wort des Evangeliums, von welchem Menschen es schließlich auch verkündigt werden mag, Gottes höchsteigener Spruch ist, vor dem höchsten Richterstuhl verkündet, im Buche des Lebens aufgezeichnet und im Himmel gültig, fest und unwandelbar. Wir sehen also, daß die Schlüsselgewalt an jenen Stellen einfach die Predigt des Evangeliums ist, und daß sie, wenn wir auf die Menschen unser Augenmerk richten, nicht sowohl eine Gewalt, als vielmehr einen Dienst darstellt. Denn im eigentlichen Sinne hat Christus diese Vollmacht nicht Menschen gegeben, sondern seinem Worte, zu dessen Dienern er die Menschen gemacht hat.
Simon W.

Der Pilgrim
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IV,11,2

Es gibt dann, wie gesagt, noch eine zweite Stelle, die von der Vollmacht zum Binden und Lösen handelt. Diese findet sich Matthäus 18 (Matth. 18,17f.); da spricht Christus: „Wenn ein Bruder die Kirche nicht hört, so halt’ ihn als einen Heiden und Zöllner. Wahrlich, ich sage euch: was ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und was ihr lösen werdet, das soll gelöst sein“ (Matth. 18,17f.; nicht immer Luthertext). Diese Stelle ist der erstgenannten nicht in jeder Hinsicht ähnlich, sondern in einem etwas verschiedenen Sinne zu verstehen. Freilich halte ich die beiden Stellen auch nicht für so verschieden, daß sie nicht miteinander viel Verwandtes hätten. Gemeinsam ist ihnen vor allem dies: es handelt sich bei beiden um allgemeine Aussagen, die Vollmacht zum Binden und Lösen ist in beiden Fällen von der gleichen Art – sie geschieht nämlich durch das Wort Gottes -, gleich ist der Auftrag und gleich ist auch die Verheißung. Dagegen unterscheiden sich die beiden Stellen darin, daß die erste in besonderer Weise von der Predigt handelt, die die Diener am Wort üben, die zweite sich dagegen auf die Bannzucht bezieht, die der Kirche zugestanden ist. Die Kirche „bindet“ nun den, den sie in den Bann tut – nicht, daß sie ihn in ewiges Verderben und ewige Verzweiflung stürzt, sondern daß sie sein Leben und seinen Wandel verurteilt und ihn, wofern er sich nicht bekehrt, schon jetzt an seine Verdammnis gemahnt. Sie „löst“ den, den sie wieder in ihre Gemeinschaft aufnimmt; denn sie macht ihn damit gleichsam zum Teilgenossen an der Einheit, die sie in Christo Jesu hat. Damit also niemand halsstarrig das Urteil der Kirche verachtet oder es gering anschlägt, daß er durch den Spruch der Gläubigen verurteilt ist, bezeugt der Herr, daß solch Urteil der Gläubigen nichts anderes ist als die Verkündung seines eigenen Spruchs, und daß das, was die Gläubigen aus Erden vollzogen haben, im Himmel als gültig angesehen wird. Denn die Gläubigen haben das Wort Gottes, um die Verkehrten zu verdammen, sie haben das Wort, um die, die da umkehren, wieder zu Gnaden anzunehmen. Irren aber können sie nicht, auch können sie nicht im Widerspruch zu Gottes Urteil stehen; denn sie urteilen allein auf Grund des Gesetzes Gottes, und das ist keine ungewisse oder irdische Meinung, sondern Gottes heiliger Wille und himmlisches Offenbarungswort! Aus diesen beiden Stellen, die ich kurz und dazu auch verständlich und wahrheitsgemäß ausgelegt zu haben meine, versuchen nun jene Schwarmgeister (die Papisten) ohne Unterschied, je nachdem, wie sie ihr Schwindel treibt, bald die Beichte, bald den Bann, bald die Rechtsprechung, bald das Recht zur Gesetzgebung, bald den Ablaß zu begründen. Die erste Stelle führen sie auch noch an, um die Obergewalt des römischen Stuhls zu beweisen. So wissen sie ihre „Schlüssel“, je wie es ihnen gefällt, für alle Schlösser und Türen passend zu machen, so daß man sagen möchte, sie hätten ihr Leben lang das Schlosserhandwerk betrieben!



IV,11,3

Manche Leute bilden sich nun ein, all dies sei bloß zeitlich (und vorübergehend) gewesen, weil dazumal die Obrigkeiten dem Bekenntnis unserer Religion noch fremd gegenübergestanden hätten. Wer das meint, der täuscht sich, weil er nicht beachtet, was für ein großer Unterschied und was für eine erhebliche Ungleichartigkeit zwischen der kirchlichen und der bürgerlichen Gewalt besteht. Denn die Kirche besitzt nicht das Schwertrecht, um damit zu strafen und zu züchtigen, sie hat keine Befehlsgewalt, um einen Zwang auszuüben, sie hat keinen Kerker und auch keine anderen Strafen, wie sie gewöhnlich von der Obrigkeit verhängt werden. Außerdem hat die Kirche nicht im Sinne, daß der, der sich vergangen hat, gegen seinen Willen gestraft werde, nein, er soll durch freiwillige (Hinnahme der) Züchtigung seine Bußfertigkeit erzeigen. Es handelt sich also um zwei ganz verschiedene Dinge; denn weder maßt sich die Kirche etwas an, das der Obrigkeit eigentümlich wäre, noch kann die Obrigkeit ausrichten, was die Kirche vollbringt. An einem Beispiel wird das leichter verständlich werden. Nehmen wir an, es hat sich jemand betrunken. In einer Stadt mit richtiger Ordnung wird er in diesem Fall mit Gefängnis bestraft. Oder nehmen wir an, er hat Unzucht getrieben. Dann wird er ähnlich oder auch noch härter bestraft. Damit ist den Gesetzen, der Obrigkeit und dem äußeren Gericht Genüge geschehen. Nun kann es aber vorkommen, daß der Betreffende kein Zeichen von Buße erkennen läßt, sondern vielmehr noch dagegen murrt und schimpft. Soll es nun die Kirche dabei bewenden lassen? Nun können aber solche Leute nicht zum Abendmahl zugelassen werden, ohne daß damit Christus und seiner heiligen Stiftung Schande erwächst. Auch erfordert es die Vernunft, daß einer, der der Kirche durch böses Beispiel Anstoß bereitet hat, dieses Ärgernis, das er erregt hat, durch feierliche Beteuerung seiner Bußfertigkeit behebt. Die Ursache, die nun jene Leute, die entgegengesetzter Ansicht sind, für sich anführen, ist gar zu bedeutungslos. Sie sagen: Christus hat diese Aufgabe der Kirche aufgetragen, weil es keine Obrigkeit gab, um sie auszuführen. Aber es kommt doch häufig vor, daß die Obrigkeit einigermaßen nachlässig ist, ja vielleicht gar manchmal, daß sie selbst gestraft werden muß, wie es auch dem Kaiser Theodosius widerfahren ist. Zudem könnte das gleiche fast von dem gesamten Dienst am Wort gesagt werden. Nun laß also die Hirten einmal nach der Ansicht jener Leute aufhören, die offenbaren Laster zu strafen, daß sie aufhören, zu tadeln, zu beschuldigen und zu schelten! Denn es gibt ja christliche Obrigkeiten, die dergleichen mit den Gesetzen und mit dem Schwert strafen sollen! Ich sage jedenfalls trotzdem: wie die Obrigkeit mit Strafe und Zwangsübung die Kirche von den Ärgernissen reinigen muß, so muß der Diener am Wort wiederum der Obrigkeit beistehen, damit nicht so viele Leute sündigen. So müssen beide Dienste miteinander verbunden sein, so daß einer dem anderen behilflich und nicht hinderlich ist.



IV,11,4

Und wahrlich, wenn jemand Christi Worte (Matth. 18) genauer erwägt, dann wird er mit Leichtigkeit erkennen, daß in ihnen eine beständige und bleibende Ordnung in der Kirche beschrieben wird, nicht aber eine bloß zeitliche. Denn es ist nicht sinngemäß, daß wir die, die unseren (persönlichen) Vermahnungen nicht gehorchen wollen, bei der Obrigkeit anzeigen – und doch müßte es so geschehen, wenn die Obrigkeit inzwischen an die Stelle der Kirche getreten wäre! Christus gibt die Verheißung: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, was ihr binden werdet auf Erden …”; sollen wir nun sagen, diese bezöge sich nur auf ein einziges Jahr oder auf einige wenige? Außerdem hat Christus an dieser Stelle nichts Neues eingerichtet, sondern er ist der Gewohnheit gefolgt, die in der alten Kirche seines Volkes stets innegehalten worden war, und damit gab er zu erkennen, daß die Kirche der geistlichen Rechtsprechung nicht entbehren kann, die seit Anbeginn bestanden hatte. Und das ist auch durch das einmütige Urteil aller Zeiten bekräftigt worden. Denn als die Kaiser und die Obrigkeiten anfingen, sich zu Christus zu bekennen, da hat man nicht etwa gleich die geistliche Rechtsprechung abgeschafft, sondern sie nur in der Weise geordnet, daß sie der bürgerlichen keinen Abbruch tat und mit ihr nicht durcheinandergebracht wurde. Und das mit Recht; denn eine Obrigkeit wird sich, wenn sie fromm ist, nicht etwa dem gemeinsamen Gehorsam der Kinder Gottes entziehen wollen, dessen nicht unwichtigstes Stück es ist, sich der Kirche, wenn sie nach Gottes Wort urteilt, zu unterwerfen - geschweige denn, daß sie etwa solches Urteil abschaffen müßte! „Denn was gibt es Ehrenvolleres“, sagt Ambrosius, „als daß der Kaiser ein Sohn der Kirche genannt werde? Denn ein guter Kaiser steht innerhalb der Kirche und nicht über der Kirche“ (Predigt gegen Auxentius 36). Jene Leute also, die, um die Obrigkeit zu ehren, der Kirche solche Gewalt rauben, die verfälschen nicht nur durch unrichtige Auslegung Christi Wort, sondern sprechen zugleich über alle heiligen Bischöfe, deren es seit der Zeit der Apostel so viele gegeben hat, ein sehr hartes Verdammungsurteil, weil diese sich (dann) unter einem falschen Vorwand die Ehre und das Amt der Obrigkeit angemaßt hätten.



IV,11,5

Aber auf der anderen Seite ist es auch angebracht, daß wir zusehen, auf welche Weise man in alter Zeit die kirchliche Rechtsprechung geübt hat und was für ein großer Mißbrauch dann eingeschlichen ist. Das ist von Nutzen, damit wir erfahren, was abgeschafft und was aus der alten Zeit wiedereingeführt werden muß, wenn wir, nachdem das Reich des Antichrist gestürzt ist, das wahre Reich Christi wieder aufrichten wollen. In erster Linie hat nun die kirchliche Rechtsprechung den Richtpunkt, daß den Ärgernissen gewehrt und daß ein etwa entstandenes Ärgernis aus dem Wege geräumt werde. Bei ihrer Ausübung sind vor allem zwei Dinge zu beachten: erstens muß diese geistliche Gewalt von dem (der Obrigkeit zustehenden) Schwertrecht voll und ganz geschieden werden, und zweitens darf ihre Ausübung nicht nach dem Ermessen eines einzelnen, sondern nur durch eine rechtmäßige Versammlung geschehen. Beides ist bei der reineren Kirche so gehandhabt worden (1. Kor. 5,4f.).

(1.) Denn die heiligen Bischöfe haben ihre Gewalt nicht mit prügeln oder mit dem Kerker oder mit anderen bürgerlichen Strafen ausgeübt, sondern sie haben, wie es sich gebührte, allein das Wort des Herrn angewandt. Denn die strengste Strafe, die die Kirche anwenden kann, gleichsam der allerschlimmste Wetterstrahl, ist der Bann, der allein in der Not zur Anwendung kommt. Dieser aber erfordert nicht Gewalt noch Handanlegung, sondern begnügt sich mit der Gewalt des Wortes Gottes. Kurzum, die Rechtsprechung der alten Kirche war nichts anderes als sozusagen eine mit der Tat erfolgte (practica) Erklärung dessen, was Paulus über die geistliche Gewalt der Hirten lehrt. „Uns ist“, so sagt er, „eine Gewalt gegeben, um damit Befestigungen zu zerstören, um alle Höhe zu erniedrigen, die sich erhebt wider die Erkenntnis Gottes, um alle Erkenntnis zu unterwerfen und sie gefangenzunehmen unter den Gehorsam Christi; wir sind aber bereit, zu rächen allen Ungehorsam“ (2. Kor. 10,4-6; nicht überall Luthertext, teilweise ungenau). Wie nun aber dies durch die Predigt der Lehre Christi geschieht, so müssen andererseits die, die sich als Hausgenossen des Glaubens bekennen, eben auf Grund dessen, was gelehrt wird, auch beurteilt werden, damit die Lehre nicht zum Gespött wird. Das aber kann nicht geschehen, als wenn mit dem Amte zugleich das Recht verbunden ist, diejenigen aufzurufen, die persönlich vermahnt oder schärfer zurechtgewiesen werden müssen, und auch das Recht, diejenigen von der Gemeinschaft am Heiligen Abendmahl fernzuhalten, die nicht ohne Entheiligung dieses großen Geheimnisses (Sakraments) zugelassen werden könnten. Während also Paulus an anderer Stelle erklärt, es sei nicht unsere Sache, „die draußen“ zu „richten“ (1. Kor. 5,12), unterwirft er die Kinder der Kirche der Zuchtübung, durch die ihre Laster gestraft werden sollen, und deutet damit an, daß damals (in der Kirche) eine Gerichtsbarkeit bestand, der keiner unter den Gläubigen entnommen war.
Simon W.

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IV,11,6

(2.) Solche Gewalt aber lag, wie wir bereits festgestellt haben, nicht bei einem einzelnen, so daß er nach seinem Gutdünken hätte tun können, was er wollte, sondern bei der Versammlung der Ältesten, die in der Kirche das darstellte, was in der Stadt der Rat ist. Wenn Cyprian erwähnt, durch welche Männer diese Gewalt zu seiner Zeit ausgeübt wurde, so pflegt er dem Bischof den gesamten „Klerus“ beizuordnen (Brief 16,2; 17,2). Jedoch zeigt er an anderer Stelle auch, wie zwar der „Klerus“ dabei die Leitung hatte, aber doch so, daß unterdessen das „Volk“ nicht von der Untersuchung ausgeschlossen wurde; er schreibt nämlich: „Seit dem Anfang meiner Wirksamkeit als Bischof habe ich mir vorgenommen, ohne den Rat des Klerus und die Einwilligung des Volkes nichts zu unternehmen“ (Brief 14,4). Die allgemeine und gebräuchliche Art und Weise war aber die, daß die Rechtsprechung der Kirche durch den Rat der „Presbyter“ (Ältesten) ausgeübt wurde. Unter diesen gab es, wie gesagt, zwei Gruppen; die einen waren nämlich zum Lehren bestimmt, die anderen dagegen waren bloß Aufseher über die Sitten. Allmählich ist diese Einrichtung von ihrer ursprünglichen Art abgekommen, so daß bereits zur Zeit des Ambrosius allein die „Kleriker“ in den kirchlichen Gerichten an der Untersuchung teilnahmen. Das beklagt Ambrosius selbst mit den Worten: „Die alte Synagoge und hernach die Kirche hatte Älteste, ohne deren Rat nichts unternommen wurde; das ist nun durch ich weiß nicht welche Nachlässigkeit heute in Abgang geraten – es müßte denn vielleicht die Lässigkeit oder besser die Hoffart der Lehrer daran schuld sein, indem diese allein den Eindruck machen wollen, als wären sie etwas“ (Pseudo-Ambrosius, über den ersten Timotheusbrief, 5,1). Da sehen wir, wie sehr dieser heilige Mann darüber zürnt, daß etwas von dem besseren Stande der Kirche in Zerfall geraten ist, während doch für die Menschen seiner Zeit eine wenigstens erträgliche Ordnung noch bestand. Was würde er also wohl sagen, wenn er die heutigen ungestaltigen Trümmer anschaute, die fast keine Spur des alten Bauwerks mehr erkennen lassen? Was für eine Wehklage würde er da erst halten? Zunächst hat sich der Bischof gegen Recht und Gerechtigkeit allein angemaßt, was doch der Kirche gegeben war. Das ist nämlich genau so, als wenn ein Konsul den Senat vertriebe und die Herrschaft allein in Beschlag nähme! Obwohl der Bischof nun aber den anderen gegenüber an Ehre den Vorrang hat, so besitzt doch andererseits die gesamte Amtsgenossenschaft mehr Autorität als ein einzelner Mensch. Es war also eine gar zu schändliche Tat, daß ein einzelner Mensch die gemeinsame Gewalt (der Kirche) auf sich übertrug und dann sowohl tyrannischer Willkür den Zugang eröffnete, als auch die Kirche ihres Rechtes beraubte, als auch die von Christi Geist verordnete Versammlung unterdrückte und abschaffte.



IV,11,7

Aber – wie ja stets ein Übel aus dem anderen entsteht – die Bischöfe haben dann die Sache wieder geringschätzig von sich geschoben und auf andere übertragen, als ob sie ihrer Fürsorge nicht wert wäre. Infolgedessen hat man die „Offiziale“ eingesetzt, um dies Amt auszuüben. Ich rede noch nicht davon, was für eine Art Leute das sind, sondern behaupte nur dies, daß sie sich von den weltlichen Richtern in nichts unterscheiden. Und doch nennt man das noch „geistliche“ Rechtsprechung, obwohl da ausschließlich um irdischer Dinge willen prozessiert wird! Woher nehmen denn diese Leute, selbst wenn es dabei sonst keine Mißstände gäbe, die Frechheit, mit der sie einen solchen Gerichtshof, an dem man (wie sonst überall) seine Rechtsstreitigkeiten austrägt, als „Gericht der Kirche“ zu bezeichnen wagen? Aber, so entgegnet man, es finden doch da auch Vermahnungen statt, auch gibt es dabei den Bann! Ja, wahrhaftig, so treibt man mit Gott seinen Spott. Wenn da also irgendein armer Mann Geld schuldig ist, so lädt man ihn vor. Erscheint er, so verurteilt man ihn. Wenn nun der Verurteilte nicht zahlt, so wird er „vermahnt“! Und nachdem man ihn zweimal „vermahnt“ hat, geht man noch einen Schritt weiter und tut ihn in den „Bann“. Erscheint er aber nicht, so wird er „ermahnt“, sich dem Gericht zu stellen; säumt er damit, so wird er (wieder) „gemahnt“ und dann alsbald in den „Bann“ getan! Ich frage nun: was hat das überhaupt noch mit der Einsetzung Christi oder mit der ursprünglichen Sitte oder mit kirchlicher Handlungsweise zu tun? Aber, so entgegnet man abermals, bei diesen „Kirchengerichten” wird doch auch Sünde gestraft! Ja, wahrhaftig, Hurerei, Ungebundenheit, Trunksucht und dergleichen Schandtaten werden von diesen Leuten nicht nur geduldet, sondern gewissermaßen durch stillschweigende Billigung gar noch gefördert und bestärkt, und zwar nicht nur im Volke, sondern auch unter den „Klerikern“ selbst! Unter vielen (derartigen Missetätern) laden sie einige wenige vor, entweder, um nicht den Eindruck zu erwecken, als ob sie im Übersehen gar zu lässig wären, oder aber, um den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Ich schweige noch von der Ausbeutung, der Räuberei, dem Diebstahl und der Heiligtumsschändung, die sich daraus ergeben. Ich schweige davon, was für Leute man zumeist für dieses Amt auswählt. Es ist übergenug, daß man, wenn die Römischen ihre „geistliche Rechtsprechung“ rühmen, leicht aufweisen kann, daß es nichts gibt, was zu dem von Christus eingerichteten Verfahren in größerem Gegensatz stünde, und daß ihre Sache mit der ursprünglichen Gepflogenheit nicht mehr Ähnlichkeit hat als die Finsternis mit dem Licht.



IV,11,8

Obwohl wir nicht alles gesagt haben, was hier hätte angeführt werden können, und obwohl das, was wir darlegten, nur mit wenigen Worten berührt wurde, so bin ich doch der guten Zuversicht, den Streit so weit gewonnen zu haben, daß jetzt niemand mehr einen Grund hat, darüber im unklaren zu sein, daß die „geistliche Gewalt“, auf die sich der Papst samt seinem ganzen Reiche hochmütig beruft, eine Tyrannei darstellt, die eine Gottlosigkeit gegen das Wort Gottes und eine Ungerechtigkeit gegen das Volk Gottes ist. Unter dem Namen „geistliche Gewalt“ begreife ich nun sowohl die Vermessenheit der Papisten im Zusammenschmieden von neuen Lehren, mit denen sie das arme Volk von der lauteren Reinheit des Wortes Gottes abgelenkt haben, als auch die unbilligen Satzungen, in die sie es verstrickt haben, als auch die zu Unrecht als „kirchlich“ bezeichnete Rechtsprechung, die sie durch ihre „Suffragane“ und „Offiziale“ ausüben. Denn wenn wir Christus unter uns herrschen lassen, so kann es nicht anders sein, als daß alle derartige Herrschaft sogleich zu Boden geworfen wird und zusammenbricht. Das Schwertrecht aber, das sie sich auch zusprechen, gehört nicht in die hier vorliegende Erörterung hinein, weil es nicht an den Gewissen geübt wird. Doch ist es auch in diesem Stück angebracht, darauf zu achten, daß sie sich allezeit gleich bleiben, nämlich nichts weniger sind als das, wofür sie gehalten werden wollen: Hirten der Kirche. Auch erhebe ich meine Beschuldigungen nicht gegen besondere Laster von (einzelnen) Menschen, sondern gegen die gemeinsame Ruchlosigkeit des ganzen Standes, ja, gegen die Pest dieses Standes selbst; denn dieser meint in seinen Rechten verkürzt zu sein, wenn er sich nicht durch Reichtum und hoffärtige Titel Ansehen verschafft hat. Wenn wir in dieser Sache nach Christi Autorität fragen, so besteht kein Zweifel, daß er die Diener an seinem Wort von bürgerlicher Herrschaft und irdischer Befehlsgewalt hat fernhalten wollen, indem er sagte: „Die Könige der Völker herrschen über sie … So soll es nicht sein unter euch …“ (Matth. 20,25f.; Luk. 22,25f.). Denn damit gibt er nicht nur zu verstehen, daß das Amt eines Hirten von dem Amt eines Fürsten verschieden ist, sondern daß es sich hier um Dinge handelt, die zu sehr voneinander getrennt sind, als daß sie in einem einzigen Menschen zusammentreffen könnten. Denn daß Mose beide Ämter zugleich innegehabt hat, ist erstens durch ein seltenes Wunder zustande gekommen, und zweitens war es etwas Zeitliches (und galt nur so lange), bis die Zustände besser geordnet waren. Als der Herr aber eine bestimmte Form vorschreibt, da wird dem Mose die bürgerliche Regierung überlassen, dagegen wird ihm befohlen, das Priesteramt an seinen Bruder (Aaron) abzutreten (Ex. 18,13-26). Und das mit Recht; denn es geht über die Natur, daß ein einziger Mensch diesen beiden Bürden Genüge tut. So hat man es denn auch in der Kirche zu allen Zeiten fleißig gehalten. Auch ist, solange eine der Wahrheit entsprechende Gestalt der Kirche vorhanden blieb, unter den Bischöfen nicht ein einziger aufgetreten, der danach getrachtet hätte, sich das Schwertrecht anzumaßen, so daß es zur Zeit des Ambrosius ein allgemein übliches Sprichwort war, die Kaiser hätten mehr Begehren nach der Priesterwürde getragen als die Priester nach der Kaiserherrschaft (Ambrosius, Brief 20,23). Denn es war allen Leuten tief ins Herz gegraben, was er hernach ausspricht, zum Kaiser gehörten die Paläste, zum Priester die Kirchen (Brief 20,19).



IV,11,9

Nachdem man sich aber einmal das Verfahren ausgedacht hatte, kraft dessen die Bischöfe den Titel, die Würde und den Reichtum ihres Amtes behielten, aber ohne die damit verbundene Bürde und Mühewaltung, da hat man ihnen, um sie nicht ganz und gar müßig gehen zu lassen, das Schwertrecht gegeben oder vielmehr: sie haben es sich selber angemaßt. Mit welchem Vorwand werden sie nun diese Unverschämtheit eigentlich verteidigen? War es denn Sache der Bischöfe, sich mit der Untersuchung von Rechtssachen und der Verwaltung von Städten und Provinzen zu bemengen und sich in weitestem Umfange Geschäften zu widmen, die mit ihnen so rein nichts zu tun haben? Und das, wo sie in ihrem eigenen Amte soviel Arbeit und Beschäftigung haben, daß sie ihm, wenn sie sich dabei voll und ganz und ohne Unterlaß einsetzten und sich nicht durch irgendwelche Zerstreuungen davon ablenken ließen, doch kaum zu genügen vermöchten! Trotzdem aber tragen sie in der ihnen eigenen Halsstarrigkeit kein Bedenken, noch rühmend den Anspruch zu erheben, auf solche Weise komme die Ehre des Reiches Christi nach Gebühr zur Blüte, und von den Aufgaben ihres Berufes würden sie unterdessen keineswegs zu sehr abgelenkt. Was nun die erste Behauptung anbetrifft: wenn das der gebührende Schmuck des heiligen Amtes ist, daß sie bis zu einem solchen Gipfel emporgestiegen sind, daß sie selbst für die höchstgestellten Monarchen furchterregend sind – dann haben sie wirklich Grund, mit Christus zu rechten, der (wenn es so steht) in dieser Hinsicht ihre Ehre ernstlich verletzt hat. Denn er sagt doch: „Die Könige der Völker herrschen über sie … So soll es nicht sein unter euch …” (Matth. 20,25f.; Luk. 22,25f.; nicht Luthertext). Was hätte nun aber, nach ihrer Meinung wenigstens Verächtlicheres gesagt werden können als diese Worte? Und doch hat er seinen Knechten kein härteres Gesetz auferlegt, als er es selbst zuerst für sich gemacht und auf sich genommen hat. „Wer hat mich“, so spricht er, „zum Richter oder Erbschlichter über euch gesetzt?“ (Luk. 12,14). Wir sehen, daß er das Richtamt einfach von sich abweist, und das hätte er nicht getan, wenn es etwas wäre, das mit seinem Amte in Einklang stünde. Sollen sich nun die Knechte nicht unter die Schranke zwingen lassen, der sich ihr Herr gefügt hat? Und was die zweite Behauptung angeht, so wollte ich wohl, daß sie sie ebensosehr mit der Tat bewiesen, als es ja leicht ist, sie immer wieder auszusprechen. Da es aber den Aposteln nicht richtig erschien, „das Wort Gottes zu unterlassen und zu Tische zu dienen“ (Apg. 6,2), so werden diese Bischöfe eben durch die Tatsache, daß sie sich nicht lehren lassen wollen, davon überführt, daß es nicht Sache desselben Mannes ist, einen guten Bischof und einen guten Fürsten abzugeben. Denn wenn die Apostel, die bei der Fülle der Gaben, mit denen sie ausgerüstet waren, weit mehr und weit schwereren Sorgen zu genügen vermochten als irgendwelche nach ihnen geborene Menschen, trotzdem bekannt haben, daß sie dem Dienst am Wort und dem Dienst zu Tische nicht zugleich obliegen konnten, ohne unter der Bürde zusammenzubrechen – wie sollten dann jene Leute, die im Vergleich mit den Aposteln doch ganz unbedeutende Menschlein sind, hundertmal mehr leisten können als sie? Das aber zu versuchen ist ein Zeichen von höchst unverschämtem und gar zu vermessenem Selbstvertrauen gewesen. Und doch sehen wir, daß es geschehen ist – mit welchem Ergebnis, liegt auf der Hand! Denn es konnte ja gar nichts anderes dabei herauskommen, als daß diese Bischöfe ihre eigene Amtsaufgabe verließen und sich auf ein fremdes Feld begaben.
Simon W.

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IV,11,10

Es besteht auch kein Zweifel, daß sie aus geringen Anfängen heraus nach und nach so gewaltige Fortschritte gemacht haben. Denn sie konnten nicht gleich mit dem ersten Schritt auf eine solche Höhe emporklettern. Nein, bald haben sie sich durch Verschlagenheit und versteckte Künste insgeheim emporgehoben, so daß niemand vorhersah, was geschehen sollte, bis es soweit war, – bald haben sie von den Fürsten bei günstiger Gelegenheit mit Druck und Drohungen einige Vermehrung ihrer Macht erpreßt – bald auch, wenn sie sahen, daß die Fürsten bereitwillig geneigt waren, etwas herzugeben, haben sie ihre törichte und unberatene Gutwilligkeit mißbraucht. Wenn in alter Zeit eine Meinungsverschiedenheit aufkam, dann übertrugen die Frommen, um die Notwendigkeit von Gerichtshändeln zu vermeiden, die Entscheidung dem Bischof, weil sie an seiner Aufrichtigkeit keinen Zweifel hatten. In derartige Entscheidungen wurden die alten Bischöfe öfters hineingezogen – und das mißfiel ihnen zwar, wie Augustin an einer Stelle bezeugt, aufs höchste; aber sie unterzogen sich wider ihren Willen dieser Mühsal doch, damit sich die Parteien nicht vor das Gericht mit seinem Hader begaben. Die Bischöfe der Papisten aber haben aus diesen auf Freiwilligkeit beruhenden Entscheidungen, die zu dem Gerichtslärm in völligem Gegensatz standen, eine ordentliche Rechtsprechung gemacht. Als einige Zeit später Städte und Länder von vielfältigen Nöten bedrückt wurden, da stellten sie sich unter die Obhut der Bischöfe, um unter ihrem Schutz gedeckt zu sein – die papistischen Bischöfe aber haben sich mit bewundernswerter Kunstfertigkeit aus Beschützern zu Herren gemacht! Daß sie einen wesentlichen Teil ihrer Macht durch gewalttätigen Aufruhr gewonnen haben, läßt sich nicht bestreiten. Die Fürsten aber, die aus freiem Entschluß den Bischöfen die Rechtsprechung übertragen haben, die wurden dazu durch verschiedenartige Beweggründe getrieben. Aber mag ihre Nachsicht auch einen Schein von Frömmigkeit an sich getragen haben, so haben sie doch dem Wohlergehen der Kirche durch diese falsch angebrachte Freigebigkeit nicht den besten Dienst erwiesen; denn sie haben damit die alte und der Wahrheit entsprechende Ordnung der Kirche verderbt, ja, um die Wahrheit zu sagen, sie haben sie ganz und gar abgeschafft. Die Bischöfe aber, die solche Güte der Fürsten zu ihrem eigenen Vorteil mißbraucht haben, die haben durch dies eine Beispiel übergenug bezeugt, daß sie keineswegs Bischöfe sind. Denn wenn sie auch nur ein Fünklein des apostolischen Geistes gehabt hätten, so hätten sie mit dem Wort des Paulus geantwortet: „Die Waffen unserer Ritterschaft sind nicht fleischlich, sondern geistlich“ (2. Kor. 10,4; Schluß sehr ungenau). Aber indem sie sich von blinder Gier fortreißen ließen, haben sie sowohl sich selbst als auch ihre Nachkommen, als auch die Kirche verdorben.



IV,11,11

Schließlich hat der Bischof von Rom, nicht zufrieden mit mittelgroßen Herrschaftsgebieten, zunächst an Königreiche und schließlich gar an das Kaiserreich die Hand gelegt. Und um den durch reine Räuberei gewonnenen Besitz mit einigem Schein (des Rechts) zu behalten, so rühmt er bald, ihn nach „göttlichem Recht“ innezuhaben, bald gebraucht er die „Konstantinische Schenkung“, bald auch andere Rechtsgründe als Vorwand. Zunächst antworte ich da mit Bernhard: „Es mag sein, daß er seine Ansprüche im übrigen mit irgendwelchem Recht begründet, so tut er es jedenfalls nicht mit apostolischem Recht. Denn Petrus konnte nicht abgeben, was er gar nicht besaß, sondern er gab seinen Nachfolgern, was er hatte, nämlich die Sorge für die Kirchen“ (Bernhard von Clairvaux, Büchlein von der Besinnung an den Papst Eugen den Dritten, II,6,10). „Da aber der Herr und Meister sagt, er sei nicht zum Richter zwischen zwei Leuten gesetzt (Luk. 12,14), so darf der Knecht und Jünger nicht meinen, es sei seiner unwürdig, wenn er nicht alle Menschen richtete“ (Ebenda I,6,7). Bernhard redet aber (hier) von bürgerlichen Rechtssachen; denn er fährt gleich fort: „Eure Gewalt bezieht sich auf Sünden und nicht auf Besitztümer; denn um der Sünden und nicht um der Besitztümer willen habt ihr die Schlüssel des Himmelreichs empfangen. Welche Würde kommt dir nun größer vor, Sünden zu vergeben oder Güter zu verteilen? Da ist doch gar kein Vergleich möglich! Diese untergeordneten und irdischen Dinge haben ihre Richter, nämlich die Könige und Fürsten der Erde. Wozu brecht Ihr nun in fremdes Gebiet ein …?” (Ebenda). Ebenso sagt er: „Du – er redet den Papst Eugen an – bist nun ein Oberer geworden. Wozu? Doch nicht zum Herrschen, meine ich. Wir wollen uns alle, so hoch wir auch von uns denken mögen, daran erinnern, daß uns ein Dienst auferlegt, nicht aber eine Herrschaft gegeben ist. Lerne es, daß du eine (Weinberg-)Hacke nötig hast, nicht aber ein Zepter, um das Werk eines Propheten zu verrichten“ (Ebenda II,6,9). Oder ebenso: „Es ist klar, daß den Aposteln Herrschaft verwehrt wird. Nun geh’ du also hin und wage es, dir als Herrschender das Apostelamt oder als Träger eines apostolischen Amtes die Herrschaft anzumaßen!“ (Ebenda, II,6,10f.). Und gleich darauf: „Die apostolische Art ist so beschaffen: Herrschaft wird verboten, Dienstschaft wird geboten“ (Ebenda II,6,11). Der Mann hat das doch so gesagt, daß es für jedermann offenkundig ist, daß er die Wahrheit selber ausspricht, ja, die Sache ist auch ohne jegliche Worte klar – trotzdem aber hat sich der römische Papst auf dem Konzil zu Arles (1234) nicht gescheut, die Entscheidung zu treffen, daß ihm die oberste Gewalt beider Schwerter (des „weltlichen“ und des „geistlichen“) nach „göttlichem Recht“ zustehe!



IV,11,12

Was nun die Konstantinische Schenkung betrifft, so bedürfen alle, die in der Geschichte jener Zeiten auch nur mittelmäßig bewandert sind, keiner Belehrung darüber, was für eine unglaubwürdige, ja geradezu lächerliche Sache das ist. Aber um die Geschichte beiseite zu lassen, so ist schon Gregor (I.) allein ein geeigneter und in höchstem Maße glaubwürdiger Zeuge dafür. Denn jedesmal, wenn er von dem Kaiser redet, nennt er ihn seinen „allergnädigsten Herrn“ und sich selbst seinen „unwürdigen Knecht“ (Brief I,5; IV,20; III,61). Ebenso sagt er an anderer Stelle: „Über die Priester aber möge sich unser Herr (der Kaiser!) um seiner irdischen Macht willen nicht so schnell erzürnen; nein, um des willen, dessen Knechte sie sind (um Christi willen!), möge er in erhabener Bedachtsamkeit dergestalt über sie herrschen, daß er ihnen zugleich die gebührende Ehrerbietung erzeige“ (Brief V,36). Wir sehen, wie er mit Bezug auf den allgemeinen (von allen zu leistenden) Gehorsam wie einer aus dem Volke angesehen werden will. Denn an dieser Stelle betreibt er nicht die Sache von irgend jemand anders, sondern seine eigene. An einer anderen Stelle sagt er: „Ich habe zu dem allmächtigen Gott das Zutrauen, daß er den frommen Herren ein langes Leben bescheidet, damit er uns unter Eurer Hand nach seiner Barmherzigkeit leite“ (Brief V,39). Ich habe diese Äußerungen nicht etwa deshalb angeführt, weil ich die Absicht hätte, die Frage bezüglich der Konstantinischen Schenkung gründlich zu erörtern, sondern nur, damit die Leser im Vorbeigehen merken, wie kindisch die Römischen lügen, wenn sie sich bemühen, für ihren Papst auf die irdische Herrschaft Anspruch zu machen. Um so schnöder war die Schamlosigkeit des Augustinus Steuchus, der es gewagt hat, dem römischen Papst in einer so hoffnungslosen Angelegenheit seine Arbeit und seine Zunge zu verkaufen. Valla hatte, was für einen gelehrten und scharfsinnigen Mann auch nicht schwierig war, jene Fabel (nämlich die „Konstantinische Schenkung“) gründlich widerlegt. Doch hatte er als ein Mann, der in kirchlichen Dingen zu wenig bewandert war, nicht alles gesagt, was zur Sache hätte dienen können. Da legte sich nun Steuchus ins Zeug und streute widerliche Possen aus, um das klare Licht zu verdunkeln. Und wahrlich, er hat die Sache seines Herrn nicht weniger unbedeutend geführt, als wenn irgendein Witzbold so täte, als ob er das gleiche betriebe, und damit (tatsächlich) dem Valla beipflichtete. Aber die Sache ist es eben wert, daß der Papst dafür derartige Beschützer um Lohn kauft, und diese gemieteten Zungendrescher sind es gleichfalls wert, daß sie die Hoffnung auf Gewinn betrügt – wie es ja dem Eugubinus widerfahren ist!



IV,11,13

Wenn jemand übrigens nach der Zeit fragt, seit der diese selbsterdachte (weltliche) Herrschaft (der Päpste) aufgekommen ist, so ist zu sagen: es sind noch nicht fünfhundert Jahre her, da verharrten die Päpste noch im Gehorsam gegen die Fürsten und da wurde kein Papst ohne Einwilligung des Kaisers gewählt. Eine Gelegenheit, diese Ordnung abzuändern, bot Gregor dem Siebenten der Kaiser Heinrich, seines Namens der vierte, ein leichtsinniger und unbesonnener Mann, ohne Bedachtsamkeit, von großer Verwegenheit und von unordentlichem Lebenswandel. Da dieser nun an seinem Hofe die Bistümer von ganz Deutschland teils zum Verkauf bot, teils auch dem Raub aussetzte, so benutzte Hildebrand, der von ihm geärgert worden war, einen Beifall erweckenden Vorwand, um sich zu rächen. Weil er aber eine gute und fromme Sache zu betreiben schien, so fand er in der Gunst vieler Leute Unterstützung. Auch war Heinrich im übrigen wegen seiner reichlich überheblichen Regierungsweise den meisten unter den Fürsten verhaßt. Schließlich ließ Hildebrand, der sich (als Papst) Gregor VII. nannte, als ein unsauberer und nichtsnutziger Mann die Bosheit seines Herzens offen hervortreten, und das war die Ursache dazu, daß er von vielen, die mit ihm gemeinsame Sache gemacht hatten, im Stich gelassen wurde. Trotzdem hat er es erreicht, daß seine Nachfolger ungestraft die Möglichkeit hatten, nicht nur das Joch von sich abzuschütteln, sondern auch die Kaiser von sich abhängig zu machen. Dazu kam noch, daß seither viele Kaiser dem Heinrich mehr glichen als dem Julius Caesar. Diese Kaiser zu unterwerfen war nicht schwierig, weil sie zu Hause saßen und sorglos und lässig alle Dinge fahren ließen, während es doch höchst notwendig war, die Gier der Päpste mit Tatkraft und mit rechtmäßigen Mitteln niederzuhalten. Wir sehen also, mit was für einer Farbe jene berühmte „Konstantinische Schenkung“ überstrichen ist, von der der Papst so tut, als sei ihm durch sie das westliche (weströmische) Reich übergeben worden.



IV,11,14

In der Zwischenzeit haben die Päpste nicht davon abgelassen, bald mit Betrug, bald mit Treulosigkeit, bald mit Waffengewalt in fremde Herrschaft einzubrechen; auch haben sie die Stadt Rom selbst, die damals noch frei war, vor etwa hundertunddreißig Jahren unter ihre Gewalt gebracht, bis sie schließlich zu der Macht gelangt sind, die sie heute innehaben und zu deren Aufrechterhaltung und Vergrößerung sie den christlichen Erdkreis zweihundert Jahre lang – denn sie haben damit begonnen, ehe sie sich die Herrschaft über die Stadt Rom raubten – derart durcheinandergebracht haben, daß sie ihn darüber beinahe zugrunde richteten. Als einst unter Gregor (I.) die Hüter des kirchlichen Besitzes an Güter, die nach ihrer Meinung der Kirche gehörten, die Hand legten und ihnen nach der Gepflogenheit behördlicher Besitzverwaltung eine Inschrift zum Zeichen des Eigentumsanspruchs aufprägten, da berief Gregor ein Konzil der Bischöfe zusammen, fuhr mit scharfem Tadel gegen dieses weltliche Verfahren los und fragte, ob sie denn einen Kleriker, der es unternommen habe, aus eigenem Antrieb durch Aufprägung einer Inschrift ein Besitztum mit Beschlag zu belegen, nicht für gebannt hielten, und ebenso einen Bischof, der zu solchem Geschehnis den Auftrag gegeben oder es, wofern es gegen seinen Befehl gegangen sei, nicht bestraft habe. Auf diese Frage hin erklärten alle Bischöfe: solch ein Mensch ist gebannt! (Gregor I., Brief V,57a). Wenn es bei einem Kleriker eine Schandtat ist, die den Bannfluch verdient, durch Aufprägung einer Inschrift den Eigentumsanspruch auf ein Grundstück zu erheben – wieviel Bannflüche können dann wohl zureichend sein, um solche Maßregeln zu bestrafen, wie sie die Päpste getroffen haben, die diese ganzen zweihundert Jahre lang nach nichts anderem getrachtet haben als nach Krieg und Blutvergießen, nach der Vernichtung von Kriegsheeren, nach der Ausplünderung und der Zerstörung von Städten, nach der Niederwerfung von Völkern und der Verwüstung von Königreichen, und das alles nur, um an fremde Herrschaft die Hand legen zu können? Jedenfalls ist es so deutlich wie nur möglich, daß sie nichts weniger suchen als die Ehre Christi. Denn wenn sie freiwillig auf schlechterdings alles verzichteten, was sie an weltlicher Gewalt besitzen, so würde dadurch die Ehre Gottes, die gesunde Lehre und das Heil der Kirche keinerlei Gefahr laufen. Aber sie werden allein von der Herrschsucht blind und jäh dahingerissen, weil sie meinen, es könne nichts wohl stehen, wenn sie nicht mit Härte, wie der Prophet sagt (Ez. 34,4), und mit Gewalt das Regiment ausübten.
Simon W.

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IV,11,15

Mit der Rechtsprechung verbunden ist auch die „Immunität“, die sich die römischen Kleriker anmaßen (d.h. ihre Freiheit von steuerlichen und anderen Verpflichtungen sowie im weiteren Sinne ihr „Recht“, sich weithin zivil- und auch strafrechtlich dem bürgerlichen Richter zu entziehen). Sie sind nämlich der Meinung, es sei eine ihrer unwürdige Sache, wenn sie sich in Angelegenheiten, die ihre Person betreffen, vor dem bürgerlichen Richter verantworten sollten, und glauben, die Freiheit wie auch die Würde der Kirche liege darin, daß sie von den allgemeinen Gerichten und Gesetzen ausgenommen würden. Die alten Bischöfe aber, die sonst in der Wahrung des Rechtes der Kirche sehr streng waren, haben in dieser Unterwerfung (unter die bürgerliche Gerichtsbarkeit) keinerlei Verletzung ihrer Person oder auch ihres Standes erblickt. Auch haben die frommen Kaiser, ohne daß jemand Einspruch erhob, stets Kleriker vor ihren Richterstuhl gefordert, sooft es erforderlich war. Denn Konstantin sagt in seinem Sendschreiben an die Einwohner von Nikomedia: „Wenn einer von den Bischöfen unbesonnen einen Aufruhr gemacht hat, so wird durch die Vollzugsgewalt des Dieners Gottes, das heißt: durch meine Vollzugsgewalt, seine Vermessenheit in ihre Schranken verwiesen werden“ (Bei Theodoret, Kirchengeschichte I,20). Und Valentinianus sagt: „Gute Bischöfe widersprechen der Macht des Kaisers nicht, sondern aufrichtig bewahren sie Gottes, des großen Königs, Gebote und gehorchen sie unseren Gesetzen“ (Bei Theodoret, Kirchengeschichte IV,8). Diese Überzeugung hatten damals alle, ohne daß jemand Widerspruch erhob. Die kirchlichen Sachen wurden zwar vor das bischöfliche Gericht gezogen. Wenn sich also zum Beispiel ein Kleriker gegen die Gesetze nichts hatte zuschulden kommen lassen und nur nach den kirchlichen Rechtssatzungen einer Anklage verfiel, so wurde er nicht vor das allgemeine Gericht geladen, sondern hatte in dieser Sache den Bischof zu seinem Richter. Ebenso wurde die Untersuchung der Kirche übertragen, wenn eine Glaubensfrage zur Behandlung stand oder sonst eine Sache, die im eigentlichen Sinne mit der Kirche zu tun hatte. In diesem Sinne muß man verstehen, was Ambrosius an Valentinianus schreibt: „Dein Vater erhabenen Angedenkens hat nicht nur mit Worten ausgesprochen, sondern auch in Gesetzen festgelegt, daß in Glaubenssachen der urteilen soll, der durch sein Amt dazu befugt und dem Rechte nach dazu in der Lage ist“ (Brief 21,2). Ebenso schreibt er: „Wenn wir unser Augenmerk auf die Schrift oder auf die alten Beispiele lenken, wer will es dann bestreiten, daß in Glaubenssachen, ich sage: in Glaubenssachen, die Bischöfe über die christlichen Kaiser und nicht die Kaiser über die Bischöfe zu urteilen pflegen?“ (Brief 21,4). Oder wiederum: „Ich wäre, mein Kaiser, vor deinen Richterstuhl gekommen, wenn mich die Bischöfe und das Volk hätten ziehen lassen. Die sagten aber, eine Glaubenssache müsse in der Kirche vor versammeltem Volke zur Verhandlung kommen“ (Brief 21,17). Er behauptet zwar, daß eine geistliche, das heißt eine Religionssache, nicht vor das bürgerliche Gericht gezogen werden darf, wo weltliche Streitigkeiten zur Verhandlung kommen. In dieser Sache findet seine Standhaftigkeit verdientermaßen allseitiges Lob. Und doch geht er in seiner guten Sache so weit, daß er erklärt, er wolle weichen, wenn es zu Gewalt und Zwangsausübung kommen sollte. „Freiwillig“, sagt er, „werde ich das mir anvertraute Amt nicht verlassen; werde ich aber gezwungen, so weiß ich mich nicht zu widersetzen; denn unsere Waffen sind Gebete und Tränen“ (Predigt gegen Auxentius 1.2). Beachten wir die einzigartige Mäßigung und Weisheit dieses Mannes, die sich mit Hochgemutheit und Zuversicht verbindet! Justina, die Mutter des Kaisers, bemühte sich, weil sie ihn nicht auf die Seite der Arianer hatte herüberziehen können, ihn aus der Leitung der Kirche zu vertreiben. Und das wäre geschehen, wenn er auf die Vorladung zur Verantwortung hin in den Palast gekommen wäre. So bestreitet er also, daß der Kaiser geeignet sei, eine so große Streitfrage richterlich zu untersuchen. Das erforderte sowohl die in jener Zeit gegebene Notwendigkeit als auch die bleibende Natur der Sache. Er kam nämlich zu dem Urteil, daß er lieber sterben sollte, als daß mit seiner Einwilligung ein solches Beispiel auf seine Nachfahren übergehen (und also auch ihnen gegenüber vielleicht angewendet werden) dürfte. Und doch sinnt er für den Fall, daß Gewalt angewendet wird, nicht auf Widerstand. Denn er bestreitet, daß es zu bischöflicher Art gehöre, den Glauben und das Recht der Kirche mit Waffengewalt zu verteidigen. Im übrigen erklärt er sich in anderen Fällen bereit, alles zu tun, was der Kaiser befiehlt. „Wenn er Steuern verlangt“, sagt er, „so verweigern wir sie nicht; die Grundstücke der Kirche entrichten die Steuer. Verlangt er Grundstücke, so hat er die Macht, auf sie Anspruch zu erheben, und keiner von uns wird dagegen angehen“ (Ebenda 33). In der gleichen Weise redet auch Gregor; er sagt: „Ich kenne sehr wohl die Gesinnung unseres allergnädigsten Herrn: er pflegt sich nicht in die priesterlichen Streitsachen einzumischen, um sich in keiner Hinsicht mit unseren Sünden zu beschweren“ (Brief IV,20). Er schließt den Kaiser nicht etwa allgemein davon aus, über Priester zu urteilen, sondern erklärt nur, daß es bestimmte Fälle gibt, die er dem kirchlichen Gericht überlassen muß.



IV,11,16

Ja, mit dieser Ausnahme (vgl. Schluß der vorigen Sektion) haben die heiligen Männer nichts anderes gesucht, als Vorsorge dagegen zu treffen, daß minder gottesfürchtige Fürsten die Kirche in tyrannischer Gewalttätigkeit und Willkür an der Ausübung ihres Amtes behinderten. Denn sie mißbilligten es nicht, wenn die Fürsten gelegentlich in kirchlichen Angelegenheiten ihre Autorität ins Mittel legten, wenn das nur geschah, um die Ordnung der Kirche zu erhalten und nicht zu stören, und um die Zucht zu stärken und nicht aufzulösen. Denn die Kirche hat nicht die Macht, einen Zwang auszuüben, darf sie auch nicht begehren – ich rede vom bürgerlichen Zwang -, und deshalb ist es die Aufgabe frommer Könige und Fürsten, mit Gesetzen, Verordnungen und Urteilen die Religion zu erhalten. Aus diesem Grunde geschah es, daß Gregor, als der Kaiser Mauritius einigen Bischöfen den Auftrag gab, benachbarte Amtsgenossen, die von fremden Völkern vertrieben waren, bei sich aufzunehmen, diesen Befehl bekräftigte und die Bischöfe ermahnte, ihm zu gehorchen (Brief I,43). Und als Gregor selbst von dem nämlichen Kaiser aufgefordert wurde, sich mit dem Bischof Johannes von Konstantinopel wieder freundschaftlich zu vertragen, da legte er wohl Rechenschaft darüber, ab, weshalb man ihm keine Schuld geben dürfte, dagegen machte er keinen Anspruch auf eine „Freiheit“ vom weltlichen Gericht, sondern er versprach vielmehr, er wolle sich fügen, soweit es ihm um des Gewissens willen möglich wäre, und erklärte zugleich, Mauritius habe, indem er den Priestern dergleichen befahl, getan, was einem gottesfürchtigen Fürsten geziemte (Brief V,37; V,39; V,45).



Zwölftes Kapitel: Von der Zucht der Kirche, wie sie vornehmlich in den Strafen und im Bann geübt wird



IV,12,1

Die Kirchenzucht, deren Behandlung wir bis an diese Stelle aufgeschoben haben, muß mit wenigen Worten erörtert werden, damit wir endlich zu den anderen Lehrstücken übergehen können. Sie beruht nun zum größten Teil auf der Schlüsselgewalt und auf der geistlichen Rechtsprechung. Damit das nun leichter zu begreifen ist, wollen wir die Kirche wesentlich in zwei Stände einteilen: „Klerus“ und „Volk“ (Gemeinde). Unter „Klerikern“ verstehe ich nach der gebräuchlichen Bezeichnung solche, die in der Kirche ein öffentliches Amt ausüben. Wir wollen uns nun zunächst mit der allgemeinen Zucht befassen, der alle unterworfen sein müssen. Alsdann wollen wir auf den Klerus zu sprechen kommen, der außer der allgemeinen Zucht noch seine eigene hat. Es gibt nun aber Leute, denen vor lauter Haß gegen die Zucht auch der Name schon widerwärtig ist. Die sollen nun folgendes wissen: Wenn keine Gemeinschaft, ja, kein Haus, in dem auch noch so wenige Hausgenossen miteinander leben, ohne Zucht im rechten Stande erhalten werden kann, so ist solche Zucht noch viel notwendiger in der Kirche, deren Zustand doch gebührenderweise so geordnet sein muß, wie nur eben möglich. Wie also die heilbringende Lehre Christi die Seele der Kirche ist, so steht die Zucht in der Kirche an der Stelle der Sehnen: sie bewirkt, daß die Glieder des Leibes, jedes an seinem Platz, miteinander verbunden leben. Jeder also, der da begehrt, die Zucht sollte abgeschafft werden, oder der ihre Wiederherstellung hindert, der sucht, ob er das nun absichtlich tut oder aus mangelnder Überlegung, unzweifelhaft die völlige Auflösung der Kirche. Denn was soll wohl geschehen, wenn jeder tun darf, was ihm gefällt? Eben dies muß aber eintreten, wenn zur Predigt der Lehre nicht persönliche Einzelvermahnungen, Zurechtweisungen und andere Hilfsmittel dieser Art hinzutreten, welche die Unterweisung stützen und sie nicht wirkungslos bleiben lassen. Die Zucht ist also gleichsam ein Zügel, mit dem alle die zurückgehalten und gebändigt werden sollen, die sich trotzig gegen die Lehre Christi erheben, oder auch gleich einem Sporn, um die gar zu wenig Willigen anzutreiben, zuweilen aber auch gewissermaßen eine väterliche Rute, mit der solche, die sich ernstlicher vergangen haben, in Milde und im Einklang mit der Sanftmut des Geistes Christi gezüchtigt werden sollen. Weil wir denn nun in der Kirche bereits anfangsweise eine schreckliche Verwüstung hereinbrechen sehen, die darauf zurückgeht, daß man keine Sorgfalt und Überlegung darauf wendet, das Volk in Schranken zu halten, so sagt uns die Not selber schon laut und deutlich, daß ein Heilmittel vonnöten ist. Das einzige Heilmittel aber ist das, das Christus verordnet und das unter den Frommen allezeit im Gebrauch gewesen ist.
Simon W.

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VI,12,2

Die erste Grundlage der Zucht besteht nun darin, daß persönliche Ermahnungen stattfinden, das bedeutet: daß der, der aus eigenem Antrieb heraus nicht seine Pflicht tut oder der sich frech aufführt oder dessen Lebenswandel an Ehrbarkeit zu wünschen übrigläßt oder der etwas Tadelnswertes begangen hat, sich ermahnen läßt, und daß ein jeder seinen Eifer daran wendet, seinem Bruder, wenn es die Sache erfordert, solche Ermahnung zukommen zu lassen. Vor allem aber sollen die Hirten (Pastoren) und Ältesten hierüber wachen; denn ihre Aufgabe ist es nicht allein, dem Volke zu predigen, sondern auch hin und her in den einzelnen Häusern Ermahnung und Ermunterung auszuteilen, wenn man irgendwo durch die allgemein geschehende Unterweisung nicht weit genug vorangekommen ist. So lehrt es Paulus, wenn er berichtet, er habe einzeln und persönlich (privatim) wie auch in den Häusern gelehrt, und wenn er beteuert, daß er „rein sei von aller Blut“, weil er „nicht abgelassen habe … Tag und Nacht, einen, jeglichen mit Tränen zu vermahnen“ (Apg. 20,20.26.31). Denn die Lehre gewinnt dann Kraft und Autorität, wenn der Diener der Kirche nicht nur allen zugleich darlegt, was sie Christus schuldig sind, sondern auch das Recht und die geordnete Möglichkeit besitzt, es von denen zu fordern, von denen er bemerkt hat, daß sie es am Gehorsam gegen die Lehre fehlen lassen oder daß sie recht träge sind. Wenn nun jemand solche Ermahnungen halsstarrig von sich weist oder durch weiteres Fortschreiten in seinen Lastern bezeugt, daß er sie verachtet, so muß er nach der Anweisung Christi zunächst unter Zuziehung von Zeugen zum zweiten Male vermahnt und dann vor das Gericht der Kirche, das heißt: die Versammlung der Ältesten, geladen werden; dort muß man ihm eine ernstlichere, gleichsam unter öffentlicher Autorität ausgesprochene Vermahnung erteilen, er solle sich, wenn er Ehrfurcht vor der Kirche habe, unterwerfen und gehorchen. Wenn er sich aber auch daraufhin nicht beugt, sondern in seiner Bosheit verharrt, so soll er nach Christi Weisung aus der Gemeinschaft der Gläubigen ausgestoßen werden (Matth. 18,15-17).



IV,12,3

An dieser Stelle (Matth. 18) spricht Christus nun aber ausschließlich von den verborgenen Sünden. Es ist also erforderlich, hier zwei Gruppen zu unterscheiden: die Sünden sind teils persönlicher („privater“) Art, teils sind sie öffentlich oder vor aller Welt ruchbar geworden. Was die ersteren betrifft, so sagt Christus einem jeglichen amtlosen Menschen: „Strafe ihn zwischen dir und ihm allein“ (Matth. 18,15). Was aber die öffentlich kundbar gewordenen Sünden angeht, so gibt Paulus dem Timotheus die Weisung: „Die strafe vor allen, auf daß sich auch die anderen fürchten“ (1. Tim. 5,20). Christus hatte nämlich zuvor gesagt: „Sündigt … dein Bruder an dir …” (Matth. 18,15). Diese beiden Wörtlein: „an dir“ kann man aber, wenn man nicht streitsüchtig sein will, nicht anders auffassen als in dem Sinne: „daß du es weißt, aber derart, daß nicht mehr Leute davon Kenntnis haben“. Die Regel aber, die Paulus dem Timotheus gibt, nämlich er solle die, die öffentlich sündigen, auch öffentlich zurechtweisen, hat er selbst dem Petrus gegenüber befolgt. Denn da dieser sich soweit verfehlt hatte, daß ein öffentliches Ärgernis daraus entstanden war, so vermahnte er ihn nicht einzeln für sich allein, sondern führte ihn vor das Angesicht der Kirche (Gal. 2,14). Die rechte Reihenfolge des Verfahrens werden wir also innehalten, wenn wir bei der Bestrafung „verborgener“ Sünden nach jenen von Christus festgelegten Stufen vorgehen, bei „offenbaren“ dagegen gleich zur feierlichen Zurechtweisung durch die Kirche schreiten, sofern das Ärgernis öffentlich ist.



IV,12,4

Es muß nun auch noch eine weitere Unterscheidung eintreten: einige unter den Sünden sind Vergehen, andere dagegen Verbrechen oder Schandtaten. Zur Bestrafung der letzteren ist nicht nur Vermahnung oder scharfer Tadel anzuwenden, sondern auch noch eine schärfere Arznei; darauf weist uns Paulus, der den blutschänderischen Korinther nicht nur mit Worten züchtigt, sondern auch mit dem Bann straft, sobald er von seinem Verbrechen Kenntnis erlangt hat (1. Kor. 5,3ff.). Jetzt beginnen wir also besser einzusehen, wieso die geistliche Rechtsprechung der Kirche, die auf Grund des Wortes Gottes strafend gegen die Sünden vorgeht, das beste Mittel zur Gesundheit, das beste Fundament der Ordnung und das beste Band der Einheit darstellt. Wenn die Kirche also offenbare Ehebrecher, Hurer, Diebe, Räuber, Anführer, Meineidige, Falschzeugen und andere Leute dieser Art und gleichfalls die Widerspenstigen, die auch wegen geringerer Sünden vermahnt worden sind, aber Gottes und seines Gerichts gespottet haben – wenn sie solche Leute aus ihrer Gemeinschaft entfernt, so maßt sie sich nichts Ungebührliches an, sondern übt die Rechtsprechung, die ihr der Herr übertragen hat. Damit nun ferner niemand solch Urteil der Kirche verachtet oder es gering anschlägt, daß er durch einen Spruch der Gläubigen verurteilt ist, so hat der Herr bezeugt, daß eben dies Urteil nichts anderes ist als die Verkündigung seines eigenen Richterspruchs, und daß, was die Gläubigen auf Erden vollzogen haben, im Himmel gültig sein soll. Denn sie haben das Wort des Herrn, um damit die Verkehrten zu verurteilen, sie haben das Wort, um die Reuigen wieder zu Gnaden anzunehmen (Matth. 16,19; 18,18; Joh. 20,23). Wer die Hoffnung hat, die Kirchen könnten ohne dies Band der Zucht lange bestehen bleiben, der täuscht sich in seiner Meinung – es sei denn, daß wir etwa ungestraft das Hilfsmittel entbehren könnten, das der Herr als für uns notwendig vorgesehen hat! Und in der Tat, wie notwendig es für uns ist, das werden wir noch besser ersehen, wenn wir seinen vielfältigen Nutzen ins Auge fassen.



IV,12,5

Es ist nun ein dreifacher Zweck, welchen die Kirche mit solchen Strafen und mit dem Bann verfolgt.
Erstens: zu den Christen sollen nicht unter Verächtlichmachung Gottes solche Leute gezählt werden, die einen schandbaren und lasterhaften Lebenswandel führen – als ob Gottes heilige Kirche eine Verschwörerrotte von nichtsnutzigen und ruchlosen Leuten wäre (Eph. 5,25f.). Denn die Kirche ist der Leib Christi (Kol. 1,24), und deshalb kann sie nicht mit solchen stinkenden, faulen Gliedern befleckt werden, ohne daß auch das Haupt eine Schändung erfährt. Damit es nun in der Kirche nichts gibt, wodurch seinem heiligen Namen das Brandmal der Schande aufgedrückt wird, so müssen aus seiner Hausgenossenschaft solche Leute ausgeschlossen werden, aus deren Ruchlosigkeit sich für den Christennamen ein übler Ruf ergeben müßte. Hier muß man nun auch auf das Abendmahl des Herrn Bedacht nehmen, daß es nicht durch wahllose Austeilung entheiligt werde. Denn es ist sehr wahr: wenn einer, dem die Austeilung des Abendmahls anvertraut ist, mit Wissen und Willen einen Unwürdigen zugelassen hat, den er mit Recht hätte zurückweisen können, so macht er sich genau so der Schändung des Heiligen schuldig, als wenn er den Leib des Herrn den Hunden vorgeworfen hätte. Deshalb fährt Chrysostomus mit scharfem Tadel gegen die Priester los, die aus Angst vor der Macht der Großen niemanden vom Abendmahl auszuschließen wagen. „Das Blut“, so sagt er, „wird von euren Händen gefordert werden (Ez. 3,18; 33,8). Wenn ihr den Menschen fürchtet, so wird er euch verlachen. Fürchtet ihr aber Gott, so werdet ihr auch für die Menschen ehrfurchtgebietend sein. Wir wollen doch vor Zepter, Purpur und Diadem keine Angst haben; denn hier ist unsere Vollmacht größer! Ich jedenfalls würde lieber meinen Leib in den Tod geben und mein Blut vergießen lassen, als mich solcher Befleckung teilhaftig zu machen“ (Predigten zum Matthäusevangelium 82,6). Damit also diesem hochheiligen Geheimnis (Sakrament) keine Schmach angetan wird, so ist es bei seiner Austeilung hoch vonnöten, eine Auswahl walten zu lassen; diese kann aber nur durch die Rechtsprechung der Kirche vorgenommen werden.
Zum zweiten hat die Zuchtübung der Kirche den Zweck, daß nicht die Guten, wie es zu geschehen pflegt, durch den fortgesetzten Umgang mit den Bösen verdorben werden. Denn bei unserer Neigung zum Abbiegen vom Wege geschieht nichts leichter, als daß wir durch schlechte Vorbilder von der rechten Lebensrichtung weggeleitet werden. Diesen Nutzen der Kirchenzucht hatte der Apostel im Auge, als er den Korinthern die Weisung gab, sie sollten den Blutschänder aus ihrer Gemeinschaft verweisen. „Ein wenig Sauerteig“, so heißt es da, „versäuert den ganzen Teig“ (1. Kor. 5,6). Und die Gefahr, die er hier drohen sah, war so groß,
daß er ihnen jeglichen Verkehr mit dem Sünder untersagte. „So jemand sich läßt einen Bruder nennen“, sagt er, „und ist ein Hurer oder ein Geiziger oder ein Abgöttischer oder ein Trunkenbold oder ein Lästerer, mit dem sollt ihr auch nicht essen“ (1. Kor. 5,11; Reihenfolge nicht ganz genau).
Drittens bezweckt die Kirchenzucht, daß die Sünder selbst in Scham geraten und dadurch anfangen, über ihre Ruchlosigkeit Reue zu empfinden. So nutzt es auch den Betroffenen, daß ihre Bosheit gezüchtigt wird; (es geschieht ja), damit sie durch das Fühlen der Rute aufgeweckt werden, während sie durch Nachsicht nur noch widerspenstiger geworden wären. Das gibt der Apostel zu erkennen, wenn er sich folgendermaßen ausspricht: „So aber jemand … nicht gehorsam ist unsrem Wort, den zeiget an … und habt nichts mit ihm zu schaffen, auf daß er schamrot werde“ (2. Thess. 3,14). Das gleiche meint er an anderer Stelle, indem er schreibt, er habe den (blutschänderischen) Korinther „übergeben dem Satan, auf daß der Geist selig werde am Tage des Herrn …” (1. Kor. 5,5). Das heißt, wenigstens nach meiner Auslegung: er hat ihn in eine zeitliche Verdammnis dahingegeben, damit er ewig selig werde. Wenn er aber sagt, daß er ihn „dem Satan“ übergibt, so geschieht das darum, weil außerhalb der Kirche der Teufel ist, wie in der Kirche Christus (Augustin). Denn die Ansicht mancher Leute, die diese Wendung auf eine gewisse Peinigung des Fleisches beziehen wollen, kommt mir höchst ungewiß vor.



IV,12,6

Nachdem wir diesen dreifachen Zweck der Kirchenzucht dargelegt haben, bleibt uns noch übrig zuzusehen, in welcher Weise die Kirche diesen Teil der Zucht, der in der Rechtsprechung besteht, ausübt. Zunächst wollen wir die oben festgestellte Unterscheidung festhalten, nach der die Sünden teils öffentlich, teils auch privat oder einigermaßen verborgen sind. „Öffentlich“ sind die Sünden, die nicht nur den einen oder anderen zum Zeugen haben, sondern auf die man vor aller Welt und zum Ärgernis der ganzen Kirche mit Fingern weist. Als „verborgen“ bezeichne ich nicht solche Sünden, die Menschen überhaupt unbekannt wären, so wie es die Sünden der Heuchler sind – denn diese sind dem Urteil der Kirche entzogen -, sondern eine mittlere Gruppe: es sind solche, die nicht ganz ohne Zeugen, aber doch auch nicht öffentlich sind. Die erstere Art von Sünden erfordert nicht die (Einhaltung der) Stufen, die Christus (Matth. 18,15-17) aufführt, sondern die Kirche muß, wo sich dergleichen ereignet, ihre Amtspflicht erfüllen, indem sie den Sünder vorlädt und ihn nach dem Maß seiner Verfehlung bestraft. Bei der zweiten Art von Sünden bringt man die Sache nach jener Regel Christi erst dann vor die Kirche, wenn (zur Verfehlung) die Widerspenstigkeit hinzutritt. Ist man nun einmal zur Untersuchung geschritten, so ist jetzt, die zweite Unterscheidung zu beachten: es ist die zwischen Verbrechen und Vergehen. Denn bei leichteren Verfehlungen soll man nicht solch große Strenge walten lassen, sondern da genügt eine Züchtigung mit Worten, und zwar eine milde und väterliche Züchtigung, die den Sünder nicht verhärten oder aus der Fassung bringen, sondern ihn wieder zu sich selbst führen soll, so daß er sich über die ihm widerfahrene Züchtigung eher freut als darüber trauert. Schandtaten dagegen soll man mit schärferer Arznei strafen; denn da ist es nicht genug, wenn der, der durch eine als schlechtes Beispiel wirkende Übeltat die Kirche schwer gekränkt hat, bloß mit Worten zurechtgewiesen wird, nein, er muß eine Zeitlang der Gemeinschaft am heiligen Abendmahl verlustig gehen, bis er einen glaubhaften Beweis seiner Reue geliefert hat. Denn Paulus übt gegenüber jenem Korinther nicht bloß eine Zurechtweisung mit Worten, sondern er schließt ihn aus der Kirche aus und tadelt die Korinther, daß sie ihn so lange geduldet hätten (1. Kor. 5,1-7). Dies Verfahren hat die alte, bessere Kirche, als die rechtmäßige (Art der) Kirchenleitung noch in Kraft stand, festgehalten. Denn wenn jemand eine Übeltat begangen hatte, aus der ein Anstoß erwachsen war, so gebot man ihm erstens, sich der Teilnahme am heiligen Abendmahl zu enthalten, und zweitens, sich sowohl vor Gott zu demütigen als auch vor der Kirche seine Buße zu bezeugen. Dabei gab es feierliche Gebräuche, die man den Gefallenen als Zeichen ihrer Buße aufzuerlegen pflegte. Sobald der Sünder sie derart vollbracht hatte, daß der Kirche Genugtuung gegeben war, wurde er durch Handauflegung wieder zu Gnaden angenommen. Diese Wiederaufnahme wird von Cyprian häufig als „Friede“ bezeichnet (Brief 57). Cyprian gibt uns auch eine kurze Beschreibung einer solchen Zeremonie. Er berichtet: „Sie (die Sünder) tun eine gebührende Zeit hindurch Buße; dann kommen sie zum (Sünden-) Bekenntnis und empfangen durch die Handauflegung des Bischofs und des Klerus das Recht zur Gemeinschaft (am Abendmahl)“ (Brief 16,2; 17,2). Allerdings übte der Bischof mit dem Klerus, wie Cyprian an anderer Stelle berichtet, die Leitung bei diesem Versöhnungsakt in der Weise aus, daß dazu zugleich die Einwilligung des Volkes (d.h. der Gemeinde) erforderlich war.
Simon W.

Der Pilgrim
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IV,12,7

Von dieser Zucht wurde niemand ausgenommen, so daß sich zusammen mit Leuten aus dem Volke auch Fürsten darein fügten, sie auf sich zu nehmen. Und das mit Recht; denn es stand ja fest, daß es sich hier um die Zucht Christi handelte, dem alle Zepter und Kronen der Könige billigerweise unterstellt werden müssen. Ein Beispiel bietet uns Theodosius. Als ihm Ambrosius wegen eines in Thessalonich angerichteten Blutbades die Berechtigung zur Gemeinschaft (am heiligen Abendmahl) entzogen hatte, da warf er alle Zeichen seiner königlichen Würde, die er an sich trug, zu Boden, beweinte öffentlich in der Kirche seine Sünde, in die er durch die Treulosigkeit anderer geraten war, und bat unter Seufzen und Tränen um Verzeihung (Ambrosius, Brief 51,13; Rede beim Leichenbegängnis des Theodosius 28.34). (So war es richtig:) Denn große Könige dürfen es sich nicht zur Schande anrechnen, wenn sie sich vor Christus, dem König der Könige, demütig niederwerfen, und es darf ihnen nicht mißfallen, daß sie von der Kirche gerichtet werden. Denn da sie an ihrem Hofe nahezu nichts zu hören bekommen als lauter Schmeichelworte, so haben sie es mehr als nötig, vom Herrn durch den Mund der Priester zurechtgewiesen zu werden. Ja, sie sollen vielmehr wünschen, daß die Priester ihrer nicht schonen – damit der Herr ihrer schone! (Ebenda 11,6). An dieser Stelle übergehe ich die Frage, durch wen solche Rechtsprechung zu üben sei; denn davon war schon an anderer Stelle die Rede (vgl. Kap. 11, Sekt. 6). Ich füge nur hinzu: wenn es sich darum handelt, einen Menschen in den Bann zu tun, so ist dabei das rechte Verfahren jenes, das Paulus uns zeigt, nämlich daß die Ältesten den Bann nicht allein üben, sondern unter Vorwissen und Billigung der Kirche, und zwar in der Weise, daß die Menge des Volkes die Handlung nicht regiert, sondern sie als Zeuge und Wächter unter Augen hat, damit nicht etwa einige wenige etwas in Willkür unternehmen. Der ganze Gang der Handlung aber soll, neben der Anrufung des Namens Gottes, jenen gemessenen Ernst an sich tragen, bei dem man die Gegenwart Christi spürt, damit es keinem Zweifel unterliegt, daß er selbst bei seinem Gericht die Leitung ausübt.



IV,12,8

Doch dürfen wir es nicht übergehen, daß der Kirche eine solche Strenge geziemt, die sich mit dem Geiste der Milde verbindet. Denn wir müssen uns, wie es Paulus gebietet, allezeit fleißig davor hüten, daß der, gegen den man mit Strafe vorgeht, „in allzu große Traurigkeit versinke“ (2. Kor. 2,7). Denn wenn das geschähe, so würde aus der Arznei das Verderben werden. Aber die Regel für eine maßvolle Handhabung der Zucht läßt sich besser aus dem dabei obwaltenden Zweck entnehmen. Beim Bann geht es doch darum, daß der Sünder zur Buße geleitet wird und üble Beispiele weggeräumt werden, damit Christi Name nicht in üblen Ruf kommt und andere nicht zur Nachahmung angereizt werden. Wenn wir das im Auge behalten, so werden wir leicht entscheiden können, wie weit die Strenge gehen und wo sie aufhören soll. Sobald also der Sünder der Kirche ein Zeichen seiner Bußfertigkeit gibt und durch dieses Zeichen, soweit es bei ihm steht, das Ärgernis ausräumt, darf man ihn unter keinen Umständen weiter drängen; denn wenn man ihn drängt, so geht die Strenge bereits über das Maß hinaus. In diesem Stück läßt sich auf keinerlei Weise die maßlose Strenge der Alten entschuldigen, die mit der Weisung des Herrn durchaus nicht im Einklang stand und außergewöhnlich gefährlich war. Denn wenn sie dem Sünder bald für sieben, bald für vier, bald für drei Jahre, bald für das ganze Leben eine öffentliche Buße und die Enthaltung vom heiligen Abendmahl auferlegten – was konnte daraus folgen, als entweder eine furchtbare Heuchelei oder die schlimmste Verzweiflung? Ebenso: daß niemand, der zum zweiten Male in Sünde gefallen war, zur „zweiten Buße“ zugelassen wurde, sondern daß man ihn bis zum Ende seines Lebens aus der Kirche verstieß, das war weder nützlich noch sinngemäß. Daher wird jeder, der die Sache mit gesundem Urteil erwägt, zu der Einsicht kommen, daß die Alten es hier an Weisheit haben fehlen lassen. Doch mißbillige ich hier mehr den allgemeinen Brauch, als daß ich alle verklagte, die ihn angewandt haben. Denn es steht fest, daß manche ihr Mißfallen daran gehabt haben; sie duldeten ihn aber, weil sie ihn nicht bessern konnten. Jedenfalls erklärt Cyprian, daß er nicht aus eigenem Antrieb so streng gewesen ist. „Unsere Geduld, Gutwilligkeit und Menschlichkeit“, sagt er, „steht allen offen, die da kommen. Ich wünsche, daß sie alle in die Kirche zurückkommen. Ich möchte wohl, daß alle unsere Streitgenossen innerhalb des Lagers Christi und der Wohnstatt Gottes, des Vaters, zusammengeschlossen würden. Ich vergebe alles, ich übersehe vieles. Aus dem Eifer und Wunsch heraus, die Bruderschaft zusammenzuführen, untersuche ich auch die Verfehlungen, die gegen Gott begangen sind, nicht mit völlig scharfem Gericht. Durch mein mehr als zulässiges Vergeben der Missetaten verfehle ich mich fast selber, mit bereitwilliger und völliger Liebe komme ich allen denen entgegen, die in Bußfertigkeit zurückkehren und ihre Sünde durch demütige und schlichte Genugtuung bekennen“ (Brief 59, an Cornelius). Chrysostomus ist schon etwas härter, aber er sagt doch: „Wenn Gott so gütig ist, wozu will dann sein Priester so hart erscheinen?“ Zudem wissen wir, welche Gutwilligkeit Augustin gegenüber den Donatisten hat walten lassen, so daß er sich nicht scheute, solche, die aus der Abspaltung zurückkehrten, wieder ins Bischofsamt aufzunehmen, und zwar unmittelbar nach ihrer Umkehr. Da sich aber die entgegengesetzte Gepflogenheit durchgesetzt hatte, so waren sie gezwungen, von ihrem eigenen Urteil Abstand zu nehmen, um sich ihr anzuschließen.



IV,12,9

Wie aber im ganzen Leibe der Kirche eine solche Sanftmut erforderlich ist, daß sie die Gefallenen mit Milde und nicht bis zur äußersten Strenge straft, sondern lieber nach der Weisung des Paulus ihre Liebe gegen sie bekräftigt (2. Kor. 2,8), so muß sich auch jeder einzelne für sich allein dieser Milde und Freundlichkeit einfügen. Es ist also nicht unsere Sache, solche, die aus der Kirche ausgeschlossen sind, aus der Zahl der Auserwählten zu tilgen oder an ihnen zu verzweifeln, als ob sie bereits verloren wären. Wir haben wohl das Recht zu dem Urteil, daß sie nun von der Kirche und infolgedessen auch von Christus abgeschnitten sind – aber nur für so lange Zeit, als sie in ihrer Abspaltung verharren! Selbst wenn sie dann auch dem Anschein nach mehr Hartnäckigkeit als Milde an den Tag legen, so wollen wir sie doch dem Urteil des Herrn anbefehlen und dabei für die Zukunft Besseres von ihnen erhoffen, als wir gegenwärtig zu sehen bekommen, auch deshalb nicht ablassen, für sie zu Gott zu bitten. Und wir wollen, um es mit einem Wort zusammenzufassen, nicht die Person, die sich allein in Gottes Hand und Gewalt befindet, zum Tode verdammen, sondern nur aus dem Gesetz des Herrn heraus darüber urteilen, welcher Art eines jeglichen Werke sind. Wenn wir dieser Regel folgen, so bleiben wir bei dem göttlichen Urteil stehen, statt das unsere vorzubringen. Mehr Freiheit sollen wir uns im Urteilen nicht anmaßen, wenn wir nicht Gottes Macht Grenzen setzen und seiner Barmherzigkeit ein Gesetz auferlegen wollen. Denn so oft es ihm gefällt, da werden die Schlechtesten in Beste verwandelt, da werden Fremde in die Kirche eingefügt und Draußenstehende in sie aufgenommen. Und das tut der Herr, um so die Meinung der Menschen zu verspotten und ihren Vorwitz zu dämpfen. Denn wenn dieser nicht in seine Schranken verwiesen wird, so wagt er, sich das Recht zum Urteilen über das gebührende Maß hinaus anzumaßen.



IV,12,10

Denn wenn Christus verheißt, was die Seinen auf Erden gebunden hätten, das solle auch im Himmel gebunden sein (Matth. )S,16), so beschränkt er dadurch die Vollmacht zum „Binden“ auf das Strafurteil der Kirche, und kraft dieses Strafurteils werden die Gebannten nicht etwa in ewiges Verderben und ewige Verdammnis verstoßen, sondern sie hören, daß ihr Lebenswandel und ihre Sitten verurteilt werden, und damit wird ihnen für den Fall, daß sie nicht umkehren, ihre eigene ewige Verdammnis zur Kenntnis gebracht. Denn das ist der Unterschied zwischen Verfluchung (anathema) und Bann, daß die Verfluchung jegliche Vergebung ausschließt und den Menschen zu ewigem Verderben verwünscht und verdammt, während sich der Bann rächend und strafend eher gegen seinen Lebenswandel richtet. Und obwohl auch der Bann den Menschen straft, so tut er es doch so, daß er ihn durch die warnende Erinnerung an seine künftige Verdammnis zum Heile zurückruft. Wo das erreicht ist, da liegt die Aussöhnung und die Wiederaufnahme in die Gemeinschaft schon bereit. Die Verfluchung aber wird höchst selten oder überhaupt nicht angewandt. Obwohl uns also die kirchliche Zuchtordnung nicht gestattet, mit den Gebannten vertrauteren Umgang oder näheren Verkehr zu pflegen, so müssen wir doch mit allen uns möglichen Mitteln danach streben, daß sie sich zu einem besseren Wandel bekehren und zur Gemeinschaft und Einheit der Kirche zurückkehren. So lehrt es auch der Apostel. „Betrachtet solche Leute nicht als Feinde“, sagt er, „sondern vermahnet sie als Brüder“ (2. Thess. 3,15; ungenau). Wenn wir diese Milde nicht einzeln wie auch gemeinsam walten lassen, so besteht Gefahr, daß wir von der Zucht alsbald in Quälerei abgleiten!
Simon W.

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IV,12,11

Insonderheit gehört auch das zur maßvollen Handhabung der Zucht, was Augustin in seiner Auseinandersetzung mit den Donatisten betont: wenn amtlose Leute sehen, daß die Versammlung der Ältesten die Sünden nicht besonders nachdrücklich straft, so dürfen sie sich deshalb nicht gleich von der Kirche abscheiden, oder wenn die Hirten selbst nicht in der Lage sind, nach dem Wunsch ihres Herzens alles auszufegen, was der strafenden Besserung bedürfte, so dürfen sie deshalb nicht ihr Amt von sich werfen oder die ganze Kirche durch ungewöhnliche Schärfe in Wirren stürzen. Denn es ist sehr richtig, wenn er schreibt: „Wer durch Zurechtweisung bessert, was er kann, und, was er nicht zu bessern vermag, unter Wahrung des Friedensbandes ausschließt, und endlich das, was er unter Wahrung des Friedensbandes nicht ausschließen kann, in Billigkeit rügt und mit Standhaftigkeit erträgt – der ist vom Fluche frei und ledig“ (Gegen den Brief des Parmenian II,1,3). Die Ursache dafür gibt er an anderer Stelle an: es soll eben jede gottesfürchtige Art und Gestaltung der kirchlichen Zucht ihr Augenmerk stets auf die „Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens“ richten (Eph. 4,3), das uns der Apostel durch gegenseitiges „Vertragen“ zu „halten“ aufgegeben hat (Eph. 4,2f.); wird dies Band nicht „gehalten“, so beginnt die Arznei der Strafe nicht nur überflüssig, sondern auch verderblich zu werden und hört deshalb auf, eine Arznei zu sein (Ebenda III,1,1). „Wer das mit Fleiß bedenkt“, sagt er, „der vernachlässigt über der Erhaltung der Einheit nicht die Strenge der Zucht, aber er bricht auch nicht durch maßloses Strafen das Band der Gemeinschaft entzwei“ (Ebenda III,2,15). Er gibt zwar zu, daß nicht nur die Hirten darauf dringen müßten, daß in der Kirche keine Sünde bestehen bleibt, sondern daß auch jeder einzelne (also auch der, der nicht Hirte ist) mit aller Kraft danach streben muß. Auch verschweigt er nicht, daß einer, der es unterläßt, die Bösen zu ermahnen, zurechtzuweisen und zu strafen, vor dem Herrn schuldig ist, auch wenn er ihnen nicht günstig gesinnt ist und nicht mit ihnen zusammen sündigt; denn – das verkennt er nicht – wenn solch ein Mensch nun einmal ein Amt bekleidet, kraft dessen er sie auch von der Gemeinschaft am Sakrament fernhalten könnte, und tut das nicht, so sündigt er nicht aus fremder, sondern aus eigener Schuld. Nur wünscht er, daß dies unter Anwendung jener Vorsicht geschehe, die auch der Herr verlangt, damit nicht beim Ausraufen des Lolchs zugleich das Korn beschädigt wird (Ebenda III,1,2; Matth. 13,29). Von da aus kommt er mit einem Wort des Cyprian zu dem Ergebnis: „Der Mensch soll also in Barmherzigkeit strafen, was er vermag, was er aber nicht zu strafen vermag, das soll er geduldig ertragen und mit Liebe darüber seufzen und klagen“ (Ebenda III,2,15; Cyprian, Brief 59,16).



IV,12,12

Augustin hat nun mit seinen Worten den Starrsinn der Donatisten im Auge. Diese bemerkten in den Kirchen Sünden, die die Bischöfe zwar mit Worten tadelten, aber nicht mit dem Bann straften, weil sie nicht glaubten, auf diesem Wege etwas ausrichten zu können; und deshalb fuhren sie wüst gegen die Bischöfe als Verräter der Zucht los und schieden sich von der Herde Christi in gottloser Spaltung ab. Ebenso machen es heute die Wiedertäufer: sie erkennen keine Gemeinde als diejenige Christi an, wenn an ihr nicht in jedem Betracht eine engelgleiche Vollkommenheit sichtbar ist, und machen nun unter dem Vorwand ihres Eifers jegliche Erbauung zunichte. Solche Leute, sagt Augustin, „lassen sich nicht etwa vom Haß gegen die Ungerechtigkeiten der anderen, sondern vom Eifer um ihre eigenen Streitereien leiten und setzen nun alles daran, um schwache Leute, die sie mit dem Ruhm ihres Namens betört haben, entweder ganz zu sich hinüberzuziehen oder sie doch jedenfalls abzuspalten. Geschwollen von Hoffart, rasend vor Halsstarrigkeit, heimtückisch in ihren Lästerungen und ruhelos in ihrem Aufruhr, möchten sie nun doch nicht, daß man ihnen nachweisen könnte, daß ihnen das Licht der Wahrheit fehlt, und deshalb verstecken sie sich im Schatten einer rücksichtslosen Strenge; und was nach der Weisung der Heiligen Schriften in recht glimpflicher Behandlung, unter Wahrung der Lauterkeit der Liebe und unter Aufrechterhaltung der Einheit des Friedens geschehen soll, um die brüderlichen Gebrechen zu strafen, das reißen sie an sich, um den Frevel der Kirchenspaltung zu begehen und um eine Gelegenheit zum Abscheiden zu haben. So ‚verstellt sich’ der Satan ‚zu einem Engel des Lichts’ (2. Kor. 11,14), indem er nämlich eine angeblich gerechte Strenge zum Anlaß nimmt, ein grausames Wüten anzustiften, und zwar in keiner anderen Absicht, als um das Band des Friedens und der Einheit zu zerstören und zu zerreißen; denn wenn dies Band fest ist unter den Christen, so verlieren alle seine Kräfte ihre Macht, um Schaden zu stiften, alle Fallstricke seiner heimtückischen Nachstellungen zergehen, und all seine Zerstörungspläne fallen dahin“ (Gegen den Brief des Parmenian III,1,1. 3).



IV,12,13

Dabei empfiehlt Augustin von allem dies eine: wenn die Menge von einer Sünde wie von einer ansteckenden Krankheit befallen ist, so ist die strenge Barmherzigkeit einer kräftigen Zucht vonnöten. „Denn die Ratschläge zur Abscheidung“, sagt er, „sind eitel, verderblich und frevlerisch; sie werden nämlich gottlos und hoffärtig und bewirken eher eine Verwirrung der schwachen Guten, als eine Besserung der beherzten Bösen“ (Ebenda III,2,14). Und was er an dieser Stelle anderen vorschreibt, das hat er selbst treulich befolgt. Denn in einem Schreiben an den Bischof Aurelius von Karthago beklagt er es, daß in Afrika die Prunksucht ungestraft um sich greife, obwohl sie doch in der Schrift so scharf verurteilt werde, und rät, man solle ein Konzil der Bischöfe einberufen und ein Mittel dagegen schaffen (Brief 22,1,4). Dann fährt er fort: „Solche Dinge behebt man meines Erachtens nicht mit Härte, nicht mit Schärfe, nicht in gebieterischer Weise, sondern mehr durch Unterweisung als durch Weisung, mehr durch Mahnen als durch Drohen. Denn so muß man mit dem großen Haufen derer, die sich vergehen, verfahren. Strenge dagegen muß man gegen die Sünde weniger walten lassen“ (Ebenda 1,5). Trotzdem ist er dabei, wie er selbst nachher auseinandersetzt, nicht der Meinung, daß die Bischöfe deshalb durch die Finger sehen oder schweigen müßten, weil sie nicht in der Lage wären, öffentliche Schandtaten strenger zu bestrafen (Gegen den Brief des Parmenian, III,2,15). Nein, er will, daß man bei der Art und Weise der Strafe solche Mäßigung walten läßt, daß man dem Leibe, soweit es möglich ist, Gesundheit schafft statt Verderben (Ebenda). Und deshalb kommt er schließlich zu folgendem Ergebnis: „Wir dürfen also einerseits die Weisung des Apostels, die Bösen abzusondern, in keinem Betracht vernachlässigen, wenn das ohne die Gefahr einer Verletzung des Friedens vor sich gehen kann; denn nur in dieser Weise wollte er, daß es geschähe. Andererseits aber müssen wir auch darauf halten, daß wir durch gegenseitiges Ertragen danach trachten, ‚zu halten die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens’“ (Ebenda III,2,16; 1. Kor. 5,3-7; Eph. 4.2.3).



IV,12,14

Der übrige Teil der Zucht, der nicht eigentlich unter die Schlüsselgewalt fällt, besteht darin, daß die Hirten das Volk (die Gemeinde), je nach Erfordernis der Zeit, zum Fasten, zu feierlichen Gebeten oder zu anderen Übungen der Demut, der Buße und des Glaubens ermahnen sollen, deren Zeit, Art und Form im Worte Gottes nicht vorgeschrieben, sondern dem Urteil der Kirche überlassen wird. Die Übung auch dieses Stücks der Kirchenzucht ist segensreich, und sie ist dementsprechend in der Alten Kirche schon seit der Zeit der Apostel stets gebräuchlich gewesen. Allerdings haben nicht einmal die Apostel den ersten Anfang damit gemacht, sondern sie haben das Vorbild dazu aus dem Gesetz und den Propheten entnommen. Denn wie wir da lesen, wurde jedesmal, wenn sich ein ernsterer Fall ereignete, das Volk zusammengerufen, und dann wurden öffentliche Gebete und Fasten angesetzt. Die Apostel haben sich also einem Brauch angeschlossen, der dem Volke Gottes nicht neu war und von dem sie vorhersahen, daß er sich segensreich auswirken werde. Ähnlich ist es mit den anderen Übungen bestellt, durch die das Volk zu seiner Pflicht ermuntert oder bei Pflicht und Gehorsam erhalten werden kann. Beispiele dafür treten uns in den heiligen Geschichten immer wieder entgegen, und es ist nicht nötig, sie aufzuzählen. Zusammenfassend müssen wir festhalten: jedesmal, wenn sich ein Streit über Religionsfragen erhebt, der von einer Synode oder einem kirchlichen Gericht entschieden werden muß, wenn es darum geht, einen Diener zu wählen, kurz, wenn eine schwierige oder bedeutungsvolle Sache vorliegt oder wenn umgekehrt die Zorngerichte des Herrn, wie Pestilenz, Krieg oder Hungersnot, in die Erscheinung treten, dann ist es eine heilige und für alle Zeiten heilbringende Ordnung, daß die Hirten das Volk zu öffentlichen Fasten und außerordentlichen Gebeten ermahnen. Wenn jemand die Beispiele, die man aus dem Alten Testament vorbringen kann, nicht annimmt, weil sie nach seiner Meinung auf die christliche Kirche weniger paßten, so steht es jedenfalls fest, daß auch die Apostel so gehandelt haben. Freilich wird sich meiner Ansicht nach schwerlich jemand finden, der wegen der Gebete Bedenken erhebt. Wir wollen also einiges über das Fasten sagen; denn es gibt sehr viele Leute, die nicht begreifen, welchen Nutzen es hat, und die deshalb der Meinung sind, es sei nicht so nötig, ferner sind andere da, die es als etwas überflüssiges gänzlich verwerfen, und endlich verfällt man, wenn man die Übung des Fastens nicht richtig versteht, leicht in Aberglauben.



IV,12,15

Ein heiliges und rechtmäßiges Fasten hat nun einen dreifachen Zweck. Denn wir wenden es an, (1.) um das Fleisch zu zähmen und zu unterwerfen, damit es sich nicht ungebunden gehen läßt, oder (2.), um zu Gebeten und heiligen Betrachtungen besser bereitet zu sein, oder endlich (3), um ein Zeichen unserer Demütigung vor Gott zu geben, wenn wir unsere Schuld vor ihm bekennen wollen. Der erstgenannte Zweck kommt bei dem öffentlichen Fasten nicht besonders häufig in Betracht, weil nicht alle Leute von gleicher leiblicher Verfassung und Kraft sind; dieser Zweck paßt also mehr für das persönliche Fasten des einzelnen.
Der zweite Zweck findet sich beim öffentlichen wie beim privaten Fasten; denn die gesamte Kirche hat solche Bereitung zum Beten ebenso nötig wie jeder einzelne unter den Gläubigen für sich allein.
Auch von dem dritten Zweck gilt Ähnliches. Denn es wird zuweilen vorkommen, daß Gott ein bestimmtes Volk mit Krieg, Pestilenz oder irgendwelcher Not schlägt. Unter solch gemeinsamer Züchtigung soll sich das ganze Volk als schuldig anerkennen und auch seine Schuld bekennen. Trifft aber die Hand des Herrn einen einzelnen Menschen, so soll er allein oder mit seiner Hausgenossenschaft das gleiche tun. Nun beruht solches Anerkennen und Bekennen der Schuld zwar vornehmlich auf der inneren Regung des Herzens. Aber wo das Herz die rechte Empfindung hat, da kann das kaum geschehen, ohne daß es auch in eine äußere Beteuerung ausbricht, und zwar namentlich dann, wenn es zur allgemeinen Erbauung dient, daß alle miteinander durch öffentliches Bekenntnis ihrer Sünde Gott den Lobpreis der Gerechtigkeit zollen und jeder den anderen durch sein Beispiel dazu ermuntert.
Simon W.

Der Pilgrim
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IV,12,16

Daher findet das Fasten, weil es ein Zeichen der Demütigung ist, im öffentlichen Leben häufiger Anwendung als bei den einzelnen Menschen – obwohl es, wie gesagt, in beiden Fällen im Gebrauch steht. Was also die Zucht betrifft, um die es sich ja hier handelt, so wird es wohl, sooft es gilt, wegen eines wichtigen Anliegens zu Gott zu beten, angezeigt sein, mit dem Gebet zusammen auch ein Fasten anzusetzen. So geschah es, als die Antiochener dem Paulus und dem Barnabas die Hände auflegten: um den Dienst dieser Männer, der von so großer Bedeutung war, Gott desto besser ans Herz zu legen, verbanden sie mit ihrem Gebet das Fasten (Apg. 13,3). Ebenso haben diese beiden Männer nachher, als sie für die Kirchen hin und her Diener einsetzten, die Gewohnheit gehabt, unter Fasten zu beten (Apg. 14,23). Mit dieser Art von Fasten verfolgten sie keinen anderen Zweck, als eifriger und freier zum Beten zu werden. Denn wir machen ja unzweifelhaft die Erfahrung, daß bei vollem Bauche der Geist nicht derart zu Gott emporgerichtet ist, daß er von ernstlicher, heißer Empfindung zum Gebet getrieben werden und in ihm verharren könnte. So ist es auch zu verstehen, wenn Lukas von der Hanna berichtet, sie habe dem Herrn „mit Fasten und Beten gedient“ (Luk. 2,37). Denn damit macht er das Fasten nicht etwa zu einem Bestandteil des Gottesdienstes, sondern gibt nur zu verstehen, daß die heilige Frau sich auf diese Weise zu beständigem Eifer im Gebet geübt habe. Von dieser Art war auch das Fasten des Nehemia, als er Gott mit gespanntem Eifer um die Befreiung seines Volkes bat (Neh. 1,4). Aus diesem Grunde sagt Paulus, die Gläubigen täten recht daran, wenn sie sich zeitweilig des ehelichen Umgangs enthielten, um desto freier „zum Fasten und Beten Muße zu haben“ (1. Kor. 7,5); er verbindet hier das Fasten als ein Hilfsmittel mit dem Gebet und macht dadurch darauf aufmerksam, daß es an und für sich nur soweit Bedeutung hat, als es diesem Zweck dienstbar ist. Außerdem gibt er an dieser Stelle (Vers 3) den Eheleuten die Weisung, sich gegenseitig „die schuldige Freundschaft“ zu leisten (d.h.: was in Vers 5 gesagt ist, stellt eine Ausnahme dar!), und daraus ergibt sich deutlich, daß er (Vers 5) nicht von den täglichen Gebeten redet, sondern von solchen, die eine besonders ernste Aufmerksamkeit erfordern.



IV,12,17

Auf der anderen Seite: wenn Pestilenz oder Hungersnot oder Krieg zu wüten beginnen oder wenn sonst einem Land oder Volk ein Verderben zu drohen scheint, so ist es auch in solchem Falle die Amtspflicht der Hirten, die Kirche zum Fasten zu ermahnen, um den Herrn demütig um Abwendung seines Zorns zu bitten. Denn wenn er eine Gefahr auftreten laßt, so kündigt er damit an, daß er sich zur Strafe bereitet und gleichsam wappnet. Wie sich also früher die Angeklagten mit lang herabhängendem Barte, mit ungeschorenem Haupthaar und im Trauergewand demütig vor ihrem Richter niederzuwerfen pflegten, um von ihm Barmherzigkeit zu erlangen, so ist es sowohl der Ehre Gottes und der allgemeinen Erbauung dienlich als auch für uns selbst nützlich und heilsam, daß wir ihn in erbarmungswürdiger Haltung um Abwendung seiner Strenge bitten, wenn wir vor seinem Richterstuhl als Angeklagte erscheinen. Und daß dies im Volke Israel gebräuchlich gewesen ist, das läßt sich leicht aus den Worten des Joel entnehmen; denn wenn er gebietet, man solle mit Posaunen blasen, die Gemeinde zusammenrufen, ein Fasten ausschreiben und so weiter (Joel 2,15f.), so spricht er wie von Dingen, die durch allgemeine Übung in Aufnahme gekommen waren. Kurz vorher hatte er gesagt, über die Schandtaten des Volkes solle jetzt Untersuchung gehalten werden, er hatte auch angekündigt, daß der Tag des Gerichtes bereits bevorstehe, und er hatte die Schuldigen zur Rechenschaft gerufen (Joel 2,1). Und dann ruft er laut, das Volk solle zu Sack und Asche, zu Weinen und Fasten eilen, das heißt: es solle sich auch mit äußeren Zeichen vor dem Herrn niederwerfen (Joel 2,12). Nun paßten Asche und Sack vielleicht mehr für jene Zeiten; aber die Zusammenberufung des Volkes, das Weinen und das Fasten und was sonst dergleichen ist, das gehört unzweifelhaft in gleicher Weise auch in unsere Zeit, und zwar jedesmal, wenn es die Lage unserer Verhältnisse erfordert. Denn es ist doch eine heilige Übung zur Demütigung der Menschen wie auch zum Bekenntnis solcher Demut – und weshalb sollten wir es da weniger anwenden als die Alten in gleicher Not? Wir lesen doch, daß nicht nur die israelitische Kirche, die nach Gottes Wort gestaltet und eingerichtet war, zum Zeichen der Trauer gefastet hat (1. Sam. 7,6; 31,13; 2. Sam. 1,12), sondern daß auch die Einwohner von Ninive das gleiche getan haben, die doch keine andere Unterweisung besaßen als allein die Predigt des Jona (Jona 3,5). Was für ein Grund besteht also, daß wir nicht dasselbe tun sollten? Aber, so könnte man einwenden, es handelt sich doch hier um eine äußerliche Zeremonie, die mit den anderen zusammen in Christus ihr Ende gefunden hat! Nein, das Fasten ist, wie es das stets gewesen ist, für die Gläubigen auch heute noch ein sehr gutes Hilfsmittel und eine segensreiche Mahnung, sich selber aufzumuntern, damit sie Gott in ihrer allzu großen Sorglosigkeit und Lässigkeit nicht mehr und mehr reizen, wenn sie von seinen Geißeln gezüchtigt werden. Deshalb sagt Christus, als er seine Apostel wegen ihrer Unterlassung des Fastens entschuldigt, auch nicht etwa, das Fasten sei abgeschafft, sondern er bestimmt es für notvolle Zeiten und verbindet es mit der Trauer; „es wird die Zeit kommen“, sagt er, „daß der Bräutigam von ihnen genommen wird“ (Matth. 9,15; Luk. 5,34f.).



IV,12,18

Damit aber an dem Namen kein Irrtum entsteht, so wollen wir bestimmen, was Fasten bedeutet. Denn unter Fasten verstehen wir nicht etwa einfach Enthaltsamkeit im Essen und Trinken, sondern etwas anderes. Gewiß soll das Leben der Frommen dermaßen von Einfachheit und Schlichtheit regiert werden, daß es, soweit das möglich ist, in seinem ganzen Verlauf eine bestimmte Art von Fasten an den Tag legt. Aber es gibt außerdem noch ein anderes, zeitliches Fasten, wobei wir uns etwas von der gewohnten Lebensweise abziehen, und zwar entweder für einen Tag oder für bestimmte Zeit, und wobei wir uns im Essen und Trinken eine Enthaltsamkeit auferlegen, die schärfer und strenger ist als

die sonst gewöhnliche. Dies Fasten besteht nun in drei Stücken: in der Zeit, in der Art der Speisen und in der Einschränkung (bezüglich der Menge). Unter der „Zeit“ verstehe ich dies, daß wir die Handlungen, um derentwillen das Fasten verordnet wird, nüchtern vollbringen. So zum Beispiel: wenn jemand um des öffentlichen Gebets willen fastet, so soll er sich dazu einfinden, ohne gegessen zu haben. Die „Art“ besteht darin, daß wir alle Leckereien beiseite lassen und, mit gewöhnlicher, einfacher Nahrung zufrieden, unseren Gaumen nicht mit köstlicher Speise reizen. Das (sparsame) Bedachtnehmen auf das „Maß“ bedeutet, daß wir uns spärlicher und leichter ernähren, als wir es sonst gewohnt sind, und unsere Nahrung nur der Notdurft, nicht aber zugleich dem Ergötzen dienen lassen.



IV,12,19

Stets aber müssen wir uns in erster Linie davor hüten, daß sich irgendwelcher Aberglaube einschleicht, wie das vor unserer Zeit zum großen Schaden der Kirche eingetreten ist. Denn es wäre viel besser, wenn überhaupt keinerlei Fasten geübt würde, als wenn man es zwar fleißig übt, aber unterdessen mit falschen und schädlichen Vorstellungen verdirbt, in die die Welt leicht hineingleitet, wenn die Hirten nicht mit größter Treue und Vorsicht dagegen auftreten. Zuerst haben sie die Pflicht, stets darauf zu dringen, was Joel lehrt: „Zerreißet eure Herzen und nicht eure Kleider“ (Joel 2,13). Das bedeutet: sie müssen das Volk darauf aufmerksam machen, daß Gott dem Fasten an und für sich keinen großen Wert beimißt, wenn nicht eine innerliche, Regung des Herzens dabei ist, ein wahres Mißfallen an der Sünde und an sich selbst wahre Demütigung und wahrer Schmerz, wie er aus der Furcht Gottes entsteht. Ja, sie müssen darauf hinweisen, daß das Fasten aus keinem anderen Grunde von Nutzen ist, als weil es als untergeordnetes Hilfsmittel zu jenen inneren Empfindungen hinzutritt. Denn Gott verabscheut nichts mehr, als wenn ihm die Menschen Zeichen und einen äußeren Schein statt der Unschuld des Herzens vorhalten und ihn dadurch zu betrügen versuchen. Deshalb fährt Jesaja mit äußerster Schärfe gegen die Heuchelei los, daß die Juden meinten, Gott sei schon Genüge geschehen, sobald sie bloß gefastet hätten, so sehr sie auch Gottlosigkeit und unreine Gedanken in ihrem Herzen nährten. „Sollte das ein Fasten sein“, sagt er, „das der Herr erwählt hat …?” (Jes. 58,5; ungenau). Solch heuchlerisches Fasten ist also nicht nur eine nutzlose und überflüssige Bemühung, sondern der furchtbarste Greuel. Noch vor einem zweiten Übel, das mit diesem ersten verwandt ist, müssen wir uns aufs höchste in acht nehmen, nämlich, daß das Fasten nicht etwa für ein verdienstliches Werk oder für eine Erscheinungsform des Gottesdienstes gehalten werde. Denn es ist doch an und für sich ein Mittelding und hat keinerlei Bedeutung als allein um der Zwecke willen, auf die es sich beziehen soll, und deshalb ist es der verderblichste Aberglaube, wenn man es mit den Werken durcheinandermengt, die Gott geboten hat und die an und für sich, nicht erst im Blick auf etwas anderes, notwendig sind. Von dieser Art war einst der Aberwitz der Manichäer, und bei ihrer Widerlegung setzt Augustin deutlich genug auseinander, daß das Fasten einzig und allein von den oben genannten Zwecken her beurteilt werden darf und daß es von Gott nur dann gutgeheißen wird, wenn es sich auf diese bezieht (Von den Gebräuchen der Manichäer II,13; Gegen den Manichäer Faustus XXX,5). Der dritte Irrtum ist zwar nicht gar so gottlos, aber trotzdem gefährlich. Er besteht darin, daß man das Fasten als eine der wichtigsten Pflichten ansieht und es dann gar zu hartnäckig und streng fordert und mit maßlosen Lobsprüchen derart erhebt, daß die Menschen meinen, sie hätten etwas ganz Hervorragendes getan, wenn sie gefastet hätten. In diesem Stück wage ich die Alten nicht völlig zu entschuldigen (und zu behaupten), daß sie nicht gewisse Samenkörner des Aberglaubens ausgestreut und der hernach aufgekommenen Tyrannei eine Gelegenheit gegeben hätten. Freilich begegnen uns zuweilen auch gesunde und verständige Aussagen über das Fasten, aber später findet man dann von Zeit zu Zeit maßlose Lobsprüche darüber, die es unter die vornehmsten Tugenden erheben.
Simon W.

Der Pilgrim
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IV,12,20

Und dann hat sich allenthalben das abergläubische Halten des vierzigtägigen Fastens durchgesetzt (also ein Fasten während der Passionszeit, vierzig Tage vor Ostern), weil einerseits das Volk der Meinung war, Gott damit einen ganz besonders hervorragenden Gehorsam zu leisten, und weil es andererseits von den Hirten als heilige Nachfolge Christi empfohlen wurde. Und dabei liegt es doch auf der Hand, daß Christus nicht in der Absicht gefastet hat, um anderen ein Beispiel vorzuzeichnen, sondern um dadurch, daß er die Predigt des Evangeliums damit (d.h. mit einem vierzigtägigen Fasten) begann, durch die Tat zu beweisen, daß dies Evangelium nicht eine menschliche Lehre darstellte, sondern vom Himmel ausgegangen war (Matth. 4,2). Es ist auch ein Wunder, daß sich eine solch grobe Phantasterei bei Leuten mit scharfem Urteil einschleichen konnte, obwohl sie mit so vielen und so klaren Gründen widerlegt wird. Denn Christus fastet nicht häufiger – und das hätte doch geschehen müssen, wenn er ein Gesetz für solch ein jährlich wiederkehrendes Fasten hätte erlassen wollen -, sondern nur ein einziges Mal, als er sich zur Verkündigung des Evangeliums rüstet. Auch fastet er nicht nach menschlicher Weise, was er doch billigerweise hätte tun müssen, wenn er Menschen zur Nachahmung hätte auffordern wollen, sondern er läßt vielmehr ein Werk sichtbar werden, mit dem er alle Menschen zur Bewunderung fortreißt, statt sie zum Trachten nach Nacheiferung anzureizen. Und schließlich ist es mit diesem Fasten nicht anders bestellt als mit jenem, das Mose geübt hat, als er aus der Hand des Herrn das Gesetz empfing (Ex. 24,18; 34,28). Denn da jenes Wunder an der Person des Mose dazu gegeben war, die Autorität des Gesetzes zu bekräftigen, so konnte es bei Christus nicht unterbleiben, damit nicht Eindruck entstünde, als stehe das Evangelium hinter dem Gesetz zurück. Von jener Zeit an aber ist es nie jemandem in den Sinn gekommen, unter dem Vorwand einer Nachahmung des Mose eine solche Form des Fastens (wie er sie geübt) im Volke Israel einzuführen. Auch hat sich unter den heiligen Propheten und Vätern kein einziger diesem Fasten des Mose angeschlossen, obgleich sie doch zu allen frommen Übungen Neigung und Eifer genug hatten. Denn was von Elia berichtet wird, nämlich er habe vierzig Tage ohne Speise und Trank zugebracht (1. Kön. 19,8), das diente keinem anderen Zweck, als daß das Volk erkennen sollte, daß er zum Schützer des Gesetzes erweckt war, von dem gemeinhin das ganze Israel abgewichen war. Es war also lauter verkehrte, abergläubische Nachahmung, daß man dies Fasten mit dem Titel und der Deckfarbe der Nachfolge Christi schmückte. Allerdings bestand dazumal in der Art und Weise des („vierzigtägigen“) Fastens eine außerordentliche Verschiedenheit, wie Cassiodor im neunten Buche seiner (Kirchen-) Geschichte (Historia tripartita IX,38) auf Grund des Socrates berichtet. Denn die Römer hatten, so sagt er, bloß drei (Fast-) Wochen, aber in diesen fasteten sie ununterbrochen mit Ausnahme des Sonntags und des Samstags. Die Illyrer und Griechen hatten sechs Wochen, andere wieder sieben, aber dann wurde das Fasten durch Zwischenzeiten unterbrochen. Nicht weniger groß war die Verschiedenheit im Bezug auf die Unterscheidung der Speisen: die einen nährten sich (in der Fastenzeit) ausschließlich von Brot und Wasser, andere setzten Gemüse hinzu, wieder andere verschmähten auch Fisch und Geflügel nicht, wieder andere machten überhaupt keinen Unterschied in den Speisen. Diese Verschiedenheit erwähnt auch Augustin in seinem zweiten (tatsächlich im ersten) Brief an Januarius (Brief 54).



IV,12,21

Dann sind schlimmere Zeiten gekommen, und zu dem unangebrachten Eifer des Volkes gesellte sich einerseits die Unwissenheit und mangelnde Bildung der Bischöfe, andererseits ihre Herrschsucht und tyrannische Härte. Man hat gottlose Gesetze erlassen, die die Gewissen mit verderblichen Fesseln binden. So hat man das Essen von Fleisch verboten, als ob es den Menschen befleckte. Eine frevlerische Meinung wurde an die andere gereiht, bis man in einen Abgrund aller Irrtümer geraten ist. Und um nun ja keine Schlechtigkeit ungeschehen zu lassen, hat man angefangen, unter dem völlig albernen Vorwand der Enthaltsamkeit mit Gott seinen Spott zu treiben. Denn man sucht den Ruhm des Fastens in den ausgesuchtesten Leckerbissen, keine Köstlichkeiten sind dann genug, nie ist die Fülle, die Vielfältigkeit und der Wohlgeschmack der Speisen größer (als ausgerechnet in der Fastenzeit). Mit solchem kostbaren Aufwand meint man dann Gott recht zu dienen! Ich schweige noch davon, daß sich Leute, die als die Allerheiligsten angesehen werden wollen, nie schmählicher überladen (als beim „Fasten“). Kurzum, diese Leute halten es für den höchsten Gottesdienst, sich (in der Fastenzeit) des Fleisches zu enthalten – und dann mit dessen Ausnahme an Leckereien aller Art Überfluß zu haben! Und umgekehrt gilt es ihnen als die schlimmste Gottlosigkeit, die kaum mit dem Tode gesühnt werden kann, wenn jemand zu seinem Schwarzbrot auch nur ein kleines Stücklein Speck oder altes Fleisch genießt. Hieronymus erzählt, daß es schon zu seiner Zeit einige Leute gegeben hat, die durch dergleichen Albernheiten mit Gott ihren Spott trieben: das waren Leute, die nur ja kein Öl zu ihrer Nahrung gebrauchen wollten, sich aber eben deshalb von allen Seiten die kostbarsten Speisen zubringen ließen, ja, die sich, um der Natur Gewalt anzutun, des Wassertrinkens enthielten, aber dafür sorgten, daß sie wohlschmeckende, köstliche Tränklein bekamen, die sie dann nicht aus einem Becher, sondern aus einer Muschel tranken (Brief 52,12; an Nepotian). Dieser Mißstand herrschte dazumal nur bei einigen wenigen Menschen, heutzutage ist er bei allen reichen Leuten üblich: sie fasten allein zu dem einen Zweck, dabei um so köstlicher und glänzender zu schmausen! Aber ich will an diesen Gegenstand, der nicht eben mit Ungewißheit beladen ist, nicht viel Worte verschwenden. Ich behaupte nur dies: weder bei dem Fasten noch bei den anderen Teilen der Zucht besitzen die Papisten etwas Rechtschaffenes, Aufrichtiges oder recht Gestaltetes und Geordnetes, so daß sie etwa einen Anlaß zu hoffärtigem Selbstruhm hätten, als ob bei ihnen etwas übrig wäre, das Lob verdiente.



IV,12,22

Jetzt folgt der zweite Teil der Zucht, der sich in besonderer Weise auf den „Klerus“ bezieht. Dieser Teil ist in den „Canones“ (Regeln) enthalten, welche die alten Bischöfe sich selbst und ihrem Stande (d.h. dem Klerus) auferlegt haben. So etwa: ein Kleriker darf sich nicht der Jagd widmen, auch nicht dem Würfelspiel, er darf nicht an Zechgelagen teilnehmen, kein Kleriker darf Geldgeschäfte und Kaufmannschaft betreiben, keiner darf bei ausgelassenen Tänzen zugegen sein, und dergleichen mehr. Zu diesen Regeln fügte man dann auch Strafen hinzu, durch welche die Autorität der „Canones“ ihre Sicherung erfuhr, damit sie niemand ungestraft verletzte. Zu diesem Zweck wurde nun jedem einzelnen Bischof die Leitung seines Klerus anvertraut: er sollte die ihm unterstellten Kleriker nach diesen „Canones“ regieren und bei ihrer Amtspflicht halten. Zu diesem Zweck waren auch jährliche Aufsichtsbesuche (inspectiones, Visitationen) und Synoden eingerichtet: wenn jemand in seiner Pflicht nachlässig war, so sollte er vermahnt werden, und wenn sich jemand vergangen hatte, so sollte man ihn nach dem Maß seines Vergehens strafen. Auch die Bischöfe selbst hatten Jahr für Jahr ihre Provinzialsynode, in alter Zeit sogar jährlich zwei, und auf diesen Synoden wurde über sie Gericht gehalten, wenn sie etwas gegen ihre Pflicht unternommen hatten. Denn wenn ein Bischof gegen seinen Klerus zu hart oder zu gewalttätig war, so bestand für diesen das Recht, sich auf jene Synode zu berufen, und zwar auch dann, wenn sich nur ein einziger beschwerte. Die strengste Strafe bestand darin, daß der, der sich vergangen hatte, seines Amtes entsetzt und eine Zeitlang vom Abendmahl ausgeschlossen wurde. Bei diesen Synoden handelte es sich um eine dauernde Ordnung, und deshalb pflegte man nie eine auseinandergehen zu lassen, ohne Ort und Zeit der folgenden festzusetzen. Ein allgemeines Konzil einzuberufen war nämlich allein Sache des Kaisers, wie alle alten Ausschreibungen bezeugen. Solange diese Strenge in Kraft blieb, verlangten die Kleriker mit dem Wort nicht mehr vom Volke, als sie mit eigenem Beispiel und Werk leisteten. Ja, sie waren gegen sich selbst viel schärfer als gegen den gemeinen Mann. Und in der Tat gehört es sich so, daß das Volk mit milderer und sozusagen loserer Zucht regiert wird, die Kleriker dagegen untereinander schärfere Strafen üben und sich selbst viel weniger durch die Finger sehen als anderen. Wie nun das alles in Abgang gekommen ist, das brauche ich nicht zu berichten; denn heutzutage kann man sich nichts Zügelloseres und Ungezogeneres denken als den Klerikerstand, und er ist in eine solche Ungebundenheit geraten, daß das ganze Erdenrund darüber schreit. Damit man nun aber nicht den Eindruck gewinnt, als sei bei ihnen das ganze alte Wesen begraben, so täuschen sie, das gebe ich zu, die Augen einfältiger Leute mit Schattenbildern, die aber mit den alten Sitten ebensowenig zu tun haben wie die Nachahmung, die die Affen treiben, mit dem, was Menschen mit Verstand und Bedacht tun. Es gibt bei Xenophon eine denkwürdige Stelle, an der er lehrt, daß die Perser, obwohl sie von den Einrichtungen ihrer Vorfahren schmählich abgekommen und von der harten Lebensweise in Weichheit und Vergnügungen verfallen waren, dennoch die früheren Gebräuche eifrig bewahrten, um jene Schande zu verdecken. Während sich nämlich zur Zeit des Kyrus die Enthaltsamkeit und Mäßigkeit so weit auswirkte, daß es nicht nötig war und auch als Schande galt, auszuschneuzen, erhielt sich bei den Späteren zwar die heilige Scheu, die es verbot, die Nase zu schneuzen, aber unterdessen galt es als erlaubt, den stinkenden Speichel, den sie von ihrer Völlerei bekommen hatten, herunterzuschlucken und bis zum Verfaulen in sich zu behalten. Ebenso betrachteten sie es auf Grund alter Vorschrift als unschicklich, Krüge an den Tisch zu bringen, dagegen hielten sie es für erträglich, sich dermaßen an Wein zu überladen, daß man sie betrunken von dannen tragen mußte. Die Vorschrift besagte, daß man einmal (am Tage) essen durfte, und das hatten diese braven Nachfolger auch nicht abgeschafft – nur so, daß sie nun ihre Gelage vom Mittag bis zur Mitternacht durchgehen ließen! Einen Tagesmarsch nüchtern zu machen, das galt bei ihnen als dauernde Gepflogenheit – aber, um Ermüdung zu vermeiden, so nahmen sie sich aus gewohnter Übung die Freiheit und den Brauch, den Marsch nicht über zwei Stunden auszudehnen! (Xenophon, Cyropaedia, VIII, 8). Wenn nun die Papisten ihre entarteten Regeln zum Vorwand nehmen, um den Nachweis zu erbringen, daß sie mit den heiligen Vätern verwandt wären, so wird dies Beispiel jedesmal ihre lächerliche Nachahmung genugsam an den Tag kommen lassen, so daß kein Maler in der Lage wäre, sie lebenswahrer zum Ausdruck zu bringen.



IV,12,23

In einer einzigen Sache sind die Papisten mehr als hart und unerbittlich, nämlich darin, daß sie den Priestern die Ehe nicht gestatten wollen. Was für eine straflose Freiheit zur Hurerei sich bei ihnen breitmacht, das brauche ich nicht zu sagen. Sie sind im Vertrauen auf ihren stinkigen „Zölibat“ auch für alle Schandtaten gefühllos geworden. Dies Verbot aber zeigt deutlich, wie verderbenbringend alle Menschensatzungen sind; denn es hat nicht nur die Kirche der rechtschaffenen und brauchbaren Hirten beraubt, sondern eine greuliche Schmutzflut von Freveltaten herbeigeführt und viele Seelen in den Schlund der Verzweiflung gestürzt. Auf jeden Fall ist das Verbot der Priesterehe aus gottloser Tyrannei erfolgt, nicht nur im Gegensatz zum Worte Gottes, sondern auch gegen jegliche Billigkeit. Zunächst war es den Menschen in keiner Weise erlaubt, zu verbieten, was der Herr frei gelassen hatte. Und dann: es ist so klar, daß es eines langen Nachweises nicht bedarf, daß Gott in seinem Wort Vorsorge gegen jeden Bruch dieser Freiheit getroffen hat. Ich übergehe es, daß Paulus an mehreren Stellen den Willen äußert, daß ein Bischof „eines Weibes Mann“ sei (1. Tim. 3,2; Tit. 1,6). Aber was hätte Nachdrücklicheres gesagt werden können, als wenn er auf Antrieb des Heiligen Geistes ankündigt, „in den letzten Zeiten“ würden gottlose Menschen auftreten, „die da gebieten, nicht ehelich zu werden“, und wenn er diese Menschen nicht nur „verführerisch“, sondern „Teufel“ nennt (1. Tim. 4,1.3)? Es ist also eine Weissagung, es ist ein heiliges Offenbarungswort des Heiligen Geistes, mit dem er die Kirche von Anfang an gegen solche Gefahren wappnen wollte, daß das Verbot der Ehe eine Teufelslehre ist! Die Papisten aber meinen, sie wären fein säuberlich entkommen, indem sie diesen Spruch verdrehen und auf Montanus, die Nachfolger des Tatian, die Enkratiten und andere Ketzer der Alten Kirche beziehen. Nur diese, so sagen sie, haben den Ehestand verdammt, wir dagegen verdammen ihn durchaus nicht, sondern halten nur den „kirchlichen Stand“ von ihm fern, weil wir der Meinung sind, daß er sich für diesen nicht recht gehört. Als ob diese Weissagung sich nicht selbst dann, wenn sie in jenen Ketzern erfüllt wäre, auch auf diese Leute bezöge! Und als ob diese kindische Spitzfindigkeit, daß sie erklären, sie träfen ja gar kein Verbot, weil sie es eben nicht für alle treffen, auch nur wert wäre, angehört zu werden! Denn das ist doch genau so, als wenn ein Tyrann von einem seiner Gesetze behaupten wollte, es sei gar nicht unbillig, weil es in seiner Unbilligkeit eben nur einen Teil der Bürgerschaft bedrückte!
Simon W.

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IV,12,24

Sie machen nun den Einwurf, es müsse doch irgend ein Kennzeichen geben, an dem sich der Priester von dem Volke unterscheide. Als ob der Herr nicht auch vorgesehen hätte, mit welcherlei Zierat die Priester sich auszeichnen sollten! Damit beschuldigen sie doch den Apostel, er habe den kirchlichen Stand in Verwirrung gebracht und die kirchliche Ehre verletzt, indem er es wagte, bei dem Umriß, in dem er uns das vollkommene Bild eines Bischofs gezeichnet hat, unter den anderen Gaben, die er bei einem Bischof fordert, auch den Ehestand zu nennen. Ich weiß, in welcher Weise die Papisten diese Stellen (1. Tim. 3,2; Tit. 1,6) auslegen; nämlich so: man dürfe einen Mann, der eine zweite Frau gehabt habe, nicht zum Bischof wählen. Ich gebe auch zu, daß diese Auslegung nicht neu ist. Aber daß sie falsch ist, das ergibt sich bereits aus dem Zusammenhang mit aller Klarheit. Denn Paulus gibt gleich darauf eine Vorschrift, von welcher Art die Ehefrauen der Bischöfe und Diakonen sein sollten (1. Tim. 3,11). Paulus nennt unter den Tugenden eines Bischofs auch die Ehe – die Papisten erklären sie beim kirchlichen Stande für ein unerträgliches Laster! Und zudem geben sie sich, mit Gottes Gunst zu reden, mit solcher allgemeinen Herabsetzung der Ehe nicht zufrieden, sondern nennen sie in ihren Rechtssatzungen auch eine „Unreinigkeit“ und „Befleckung“ (So Siricius, Brief 1, an Himerius; Decretum Gratiani I, 82,3f.)! Nun möge jeder bei sich selbst erwägen, aus was für einer Werkstatt das stammt! Christus würdigt den Ehestand solcher Ehre, daß er nach seinem Willen ein Ebenbild seiner heiligen Verbindung mit der Kirche ist. Was hätte wohl Herrlicheres gesagt werden können, um die Würde des Ehestandes zu preisen? Mit welcher Frechheit will man also einen Stand „unrein“ und „befleckt“ nennen, in dem ein Gleichnis der geistlichen Gnade Christi hervorleuchtet?



IV,12,25

Obwohl nun aber ihr (Ehe-) Verbot so deutlich zu Gottes Wort im Widerspruch steht, finden sie doch in der Schrift etwas, um es zu verteidigen. Die levitischen Priester, so sagen sie, mußten sich doch, sooft die Reihe des Dienstes an sie kam, ihrer Frauen enthalten, um die heiligen Handlungen rein und unbefleckt zu verrichten. Da nun aber unsere heiligen Handlungen viel edler sind und zudem alle Tage stattfinden, so wäre es sehr ungebührlich, wenn sie von Verheirateten verrichtet würden. Als ob der Dienst am Evangelium die gleiche Stellung hätte wie einst das levitische Priestertum! Denn die levitischen Priester waren gleichsam ein Abbild und sollten Christus bedeuten, der als der Mittler zwischen Gott und den Menschen (1. Tim. 2,5) einst durch seine vollkommene Reinheit den Vater mit uns versöhnen sollte. Da sie aber als sündige Menschen das Bild seiner Heiligkeit nicht in jeder Hinsicht zur Darstellung bringen konnten, so erhielten sie, um es doch wenigstens mit einigen Umrissen nachzubilden, das Gebot, sich über die Sitten der Menschen hinaus zu reinigen, wenn sie in das Heiligtum eingingen; denn dann stellten sie ja im eigentlichen Sinne ein Abbild Christi dar, weil sie, gleichsam als Friedensbringer, zur Versöhnung des Volkes mit Gott in der „Hütte“ erschienen, die ein Gleichnis des himmlischen Richterstuhls war. Diese Stellung haben die Kirchenhirten heutzutage nicht, und deshalb ist es vergebens, wenn man sie mit jenen Priestern vergleicht. Deshalb erklärt der Apostel, ohne eine Ausnahme zu machen, die Ehe sei bei allen etwas „Ehrliches“, der Hurer und Ehebrecher aber warte Gottes Gericht (Hebr. 13,4). Und die Apostel haben es selbst durch ihr Beispiel erhärtet, daß der Heiligkeit keiner auch noch so hervorragenden Amtsstellung durch die Ehe Eintrag geschieht. Denn, wie Paulus bezeugt, haben sie nicht nur ihre Frauen behalten, sondern sie auch mit sich umhergeführt (1. Kor. 9,5).



IV,12,26

Ferner war es auch eine verwunderliche Schamlosigkeit, daß sie jene (äußerliche) Schicklichkeit eines keuschen Lebens als etwas Notwendiges ausgaben – zu höchster Schmähung der Alten Kirche, die überreich war an herrlicher Erkenntnis Gottes, aber doch noch mehr durch ihre Heiligkeit hervorragte. Denn wenn sie sich schon nicht um die Apostel kümmern – sie pflegen sie ja zuweilen wacker zu verachten -, so möchte ich doch immerhin gern wissen, was sie mit all den Vätern der Alten Kirche machen wollen, die ohne Zweifel beim Stande der Bischöfe die Ehe nicht nur geduldet, sondern sogar gebilligt haben. Die haben dann wohl eine „schnöde Entweihung“ der heiligen Handlungen gefördert; denn die Geheimnisse des Herrn empfingen ja bei ihnen nicht die „rechte“ Verehrung! Man hat zwar auf der Synode von Nicäa darüber verhandelt, den Zölibat vorzuschreiben – wie es ja nie an abergläubischen Leutchen fehlt, die sich stets etwas Neues erdenken, um sich dadurch Bewunderung zu verschaffen. Aber was hat man in Nicäa beschlossen? Nun, man ist der Meinung des Paphnutius beigetreten, der erklärte, Keuschheit sei der Umgang mit der eigenen Frau (Historia tripartita II,14). Es blieb also der heilige Ehestand bei ihnen bestehen, und das hat ihnen keine Schande gebracht, auch hat man nicht geglaubt, daß dadurch ihr Amt mit irgendeinem Makel behaftet würde.



IV,12,27

Hernach sind Zeiten gekommen, in denen eine gar zu abergläubische Bewunderung des Zölibats mehr und mehr zugenommen hat. Daher rührten auch die immer neu und ohne Maß hergesungenen Lobsprüche über die Jungfräulichkeit, die soweit gingen, daß man allgemein der Überzeugung war, es gäbe keine andere Tugend, die mit ihr zu vergleichen wäre. Und obwohl der Ehestand nicht als Unreinheit verdammt wurde, so hat man seine Würde doch dermaßen herabgesetzt und seine Heiligkeit derart verdunkelt, daß einer, der sich der Ehe nicht enthielt, nicht mit genügend wackerem Willen zur Vollkommenheit zu streben schien. Daher kommen dann auch jene Kirchensatzungen, in denen man zunächst untersagte, daß die, die den Rang eines Priesters erreicht hatten, die Ehe eingingen, und dann auch verordnete, daß in den Priesterstand nur Ehelose aufgenommen wurden oder aber solche, die zusammen mit ihrer Frau auf den ehelichen Umgang verzichteten. Das ist, wie ich gestehe, auch in alter Zeit mit großem Beifall aufgenommen worden, weil es dem priesterlichen Stande Ehrfurcht zu verschaffen schien. Wenn mir aber unsere Widersacher die alte Zeit vorhalten, so antworte ich erstens, daß sowohl unter den Aposteln als auch einige Jahrhunderte nach ihnen die Freiheit bestanden hat, daß die Bischöfe verheiratet waren, von dieser Freiheit, so antworte ich ferner, haben die Apostel selbst und auch andere Hirten von erstrangiger Autorität, die später ihre Stelle einnahmen, ohne Schwierigkeiten Gebrauch gemacht. Das Beispiel der älteren Kirche aber, so sage ich weiter, muß bei uns verdientermaßen mehr gelten, als daß wir das, was damals mit Lob angenommen und im Gebrauch war, für uns als unerlaubt oder unschicklich ansehen könnten. Zweitens gebe ich unseren Widersachern zur Antwort: jene Zeit, die aus maßloser Hochschätzung der Jungfräulichkeit den Ehestand recht unbillig zu behandeln begann, hat den Priestern das Gesetz des Zölibats doch nicht dergestalt auferlegt, als ob es etwas an und für sich Notwendiges wäre, sondern sie hat es getan, weil sie die Ehelosen über die Verheirateten stellte. Und schließlich sage ich: man hat den Zölibat nicht so gefordert, daß man solche, die nicht in der Lage waren, Enthaltsamkeit zu üben, mit Zwang oder Gewalt dazu genötigt hätte. Denn obwohl man die Hurerei mit den strengsten Gesetzen strafte, traf man für die, welche die Ehe eingingen, nur die Bestimmung, sie sollten ihr Amt niederlegen.



IV,12,28

Sooft also die Verteidiger dieser neuen Tyrannei zum Schutz für ihren Zölibat die alte Zeit als Vorwand zu benutzen suchen, muß man ihnen die Forderung entgegenhalten, sie sollten bei ihren Priestern die alte Keuschheit wiederherstellen und die Ehebrecher und Hurer entfernen, sollten es auch nicht geschehen lassen, daß die Leute, bei denen sie einen ehrbaren und keuschen Gebrauch des ehelichen Verkehrs nicht zugeben wollen, sich nun ungestraft in Zuchtlosigkeit jeder Art hineinstürzen. Man muß ihnen sagen, sie sollten jene in Abgang geratene Zucht wiederherstellen, durch die aller Ausschweifung gesteuert wird, und sie sollten die Kirche von jener so schmachvollen Schandbarkeit befreien, von der sie nun schon lange entstellt ist. Haben sie das zugestanden, so muß man sie wiederum daran mahnen, nicht eine Sache als notwendig auszugeben, die an und für sich frei ist und vom Nutzen für die Kirche abhängt. Ich sage das nun aber nicht etwa, weil ich der Meinung wäre, man sollte überhaupt unter irgendwelcher Bedingung jenen Kirchensatzungen Raum geben, die dem Kirchenstande das Joch des Zölibats auf den Hals legen, sondern ich sage es, damit verständigere Leute erkennen, mit welcher Frechheit unsere Feinde den heiligen Ehestand bei den Priestern in Verruf bringen, und das, indem sie den Namen der Alten Kirche als Vorwand brauchen! Was nun die Kirchenväter betrifft, so haben auch diese, wenn sie auf Grund ihres eigenen Urteils reden, die Ehrbarkeit des Ehestandes nicht in solcher Boshaftigkeit herabgesetzt, mit Ausnahme des Hieronymus. Wir wollen uns mit einem einzigen Wort des Chrysostomus begnügen; denn er war ja der vornehmste Bewunderer der Jungfräulichkeit, und es ist deshalb nicht anzunehmen, daß er in Lobeserhebungen des Ehestandes verschwenderischer gewesen wäre als andere. Er sagt nun: „Die erste Stufe der Keuschheit ist reine Jungfräulichkeit, die zweite eine treue Ehe. Keusche eheliche Liebe ist also eine zweite Gestalt der Jungfräulichkeit“ (Predigt über die Auffindung des Kreuzes).
Simon W.

Der Pilgrim
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Dreizehntes Kapitel: Von den Gelübden, durch deren unbesonnenes Aussprechen sich jedermann jämmerlich in Stricke gelegt hat



IV,13,1

Es ist zwar eine beklagenswerte Sache, daß die Kirche, der doch um den unschätzbaren Preis des Blutes Christi die Freiheit erkauft worden ist, dermaßen von grausamer Tyrannei unterdrückt ist und unter einem gewaltigen Haufen von Menschensatzungen fast verschüttet liegt. Jedoch zeigt unterdessen auch der persönliche Aberwitz jedes einzelnen, daß Gott dem Satan und seinen Dienern nicht ohne gerechteste Ursache soweit die Zügel hat schießen lassen. Denn es war noch nicht genug, daß man (allgemein) unter Außerachtlassung der Herrschaft Christi alle und jegliche Lasten ertrug, die einem von falschen Lehrern auferlegt wurden, nein, es hat sich auch jeder einzelne noch seine eigenen Lasten obendrein verschafft und sich so, indem er sich selber eine Grube aushob, nur noch tiefer sinken lassen. Das ist geschehen, indem man sich um die Wette Gelübde ausdenkt, so daß von diesen her zu den alle gemeinsam umschlingenden Fesseln auch noch eine größere und härtere Verpflichtung tritt. Da wir nun dargelegt haben, daß durch die Vermessenheit derer, die in der Kirche unter dem Namen von „Hirten“ die Herrschaft ausgeübt haben, die Verehrung Gottes verdorben worden ist, indem sie die armen Seelen mit ihren unbilligen Gesetzen in Stricke gelegt haben, wird es nicht unangebracht sein, hier einen ähnlich gearteten Mißstand anzufügen, damit es offenbar wird, daß die Welt in der Bosheit ihres Wesens mit allen ihr zur Verfügung stehenden Widerständen allezeit die Hilfsmittel von sich gestoßen hat, mit denen sie hätte zu Gott geführt werden sollen. Damit es nun deutlicher zutage tritt, daß sich aus den Gelübden ein sehr schlimmer Schaden ergeben hat, muß der Leser die bereits oben aufgestellten Grundsätze festhalten. Wir haben nämlich erstens dargelegt, daß alles, was man für eine fromme und heilige Gestaltung des Lebens (an Anweisungen) verlangen mag, im Gesetz zusammengefaßt ist. Zweitens haben wir gelehrt, daß der Herr, um uns desto besser davon abzuhalten, uns neue „Werke“ zu ersinnen, alles Lob der Gerechtigkeit in dem schlichten Gehorsam gegen seinen Willen beschlossen hat. Ist das aber wahr, so ist damit unmittelbar das Urteil gegeben, daß aller ersonnene Gottesdienst, den wir uns selbst zusammendichten, um uns bei Gott ein Verdienst zu erwerben, ihm durchaus nicht wohlgefällig ist, so sehr wir auch unsere Lust daran haben mögen. Und fürwahr, der Herr verwirft diesen „Gottesdienst“ nicht nur klar und deutlich an vielen Stellen, sondern er ist ihm ernstlich ein Greuel. Hieraus ergibt sich nun mit Bezug auf die Gelübde, die außerhalb des ausdrücklichen Wortes Gottes geschehen, die Frage, welche Stellung ihnen beizumessen ist, ob ein Christenmensch sie rechtmäßig leisten kann und wie weit er an sie gebunden ist. Denn was unter den Menschen ein „Versprechen“ heißt, das nennt man im Blick auf Gott ein Gelübde. Menschen versprechen wir nun das, was ihnen nach unserem Dafürhalten angenehm sein wird oder was wir ihnen pflichtmäßig zu leisten schuldig sind. Es gehört sich also, daß wir bei den Gelübden eine noch viel größere Aufmerksamkeit walten lassen, weil sie sich ja an Gott selber richten, mit dem wir doch in höchstem Ernste zu verkehren haben. Hier hat sich nun zu allen Zeiten der Aberglaube auf wunderliche Weise breitgemacht, so daß die Menschen ohne Urteil und ohne Unterschied alles, was ihnen in den Sinn oder auch in den Mund kam, sogleich Gott gelobten. Daher kommen jene albernen Gelübde, ja, jene ungeheuerlichen Widersinnigkeiten bei den Heiden, mit denen sie auf gar zu freche Weise mit ihren Göttern Spott getrieben haben. Und wollte Gott, daß nicht auch die Christen diese Vermessenheit der Heiden nachgeahmt hätten! Das gehörte sich zwar durchaus nicht, aber wir sehen doch, daß mehrere Jahrhunderte hindurch nichts weiter verbreitet war als diese Schelmerei, daß das Volk in allgemeiner Verachtung des Gesetzes voll und ganz in wahnwitzigem Eifer entbrannt war, alles zu geloben, was ihm im Traum Wohlgefallen hatte. Ich will nicht häßlich übertreiben, will auch nicht im einzelnen aufzählen, wie schwer und auf wie vielfältige Weise man hier gesündigt hat, sondern ich habe es nur richtig gefunden, dies im Vorbeigehen auszusprechen, damit es deutlicher zutage tritt, daß wir keineswegs eine Untersuchung über eine überflüssige Sache anstellen, wenn wir uns jetzt die Gelübde vornehmen.



IV,13,2

Wenn wir nun bei unserem Urteil darüber, welche Gelübde rechtmäßig und welche verkehrt sind, nicht in die Irre geraten wollen, so müssen wir drei Fragen erwägen. (1.) Wer ist der, dem wir solch Gelübde leisten? (2.) Wer sind wir, die wir ein Gelübde tun? (3.) In welcher Gesinnung sprechen wir ein Gelübde aus? Die erste Frage will uns darauf hinweisen, daß wir es mit Gott zu tun haben, der solches Wohlgefallen an unserem Gehorsam hat, daß er alle „selbsterwählte Geistlichkeit“, so köstlich und glanzvoll sie auch in den Augen der Menschen sein mag, für verflucht erklärt (Kol. 2,23). Wenn aller eigenwillige Gottesdienst, den wir uns selbst ohne Gottes Gebot ausdenken, vor ihm ein Greuel ist, so ergibt sich daraus, daß ihm kein anderer Gottesdienst wohlgefällig sein kann als der, den sein Wort gutheißt. Deshalb wollen wir uns nicht soviel willkürliche Freiheit herausnehmen, daß wir es wagen, Gott etwas zu geloben, das kein Zeugnis darüber besitzt, wie es von ihm beurteilt wird. Denn wenn das Wort des Paulus: „Was … nicht aus dem Glauben geht, das ist Sünde“ (Röm. 14,23), sich auf alle und jegliche Werke erstreckt, so hat es jedenfalls in besonderer Weise seine Bedeutung, wo man seine Gedanken geraden Weges auf Gott selber richtet. Ja, wenn wir auch bei den geringsten Dingen – Paulus redet ja an jener Stelle von der Unterscheidung der Speisen – zu Fall kommen und in die Irre geraten, wo uns die Gewißheit des Glaubens nicht voranleuchtet, wieviel Bescheidenheit müssen wir dann erst walten lassen, wo wir an eine Sache von allerhöchster Wichtigkeit herantreten? Denn es gebührt sich doch, daß uns nichts ernster am Herzen liegt als die Pflichten der Religion. Wir müssen also bei unseren Gelübden in erster Linie behutsam darauf achten, daß wir uns niemals daran geben, etwas zu geloben, ohne daß unser Gewissen zunächst sicher davon überzeugt ist, daß es keinen unbesonnenen Schritt tut. vor der Gefahr der Unbesonnenheit wird es aber dann sicher sein, wenn es Gott den sein läßt, der ihm vorangeht und ihm gleichsam aus seinem Wort heraus eingibt, was gut oder was unnütz ist zu tun.



IV,13,3

Bei dem zweiten Punkt, den wir nach unseren obigen Ausführungen hier zu erwägen haben, geht es darum, daß wir (1.) unsere Kräfte messen, (2.) unseren Beruf im Auge behalten und (3.) das Gnadengeschenk der Freiheit, das uns Gott gewährt hat, nicht beiseite lassen. Denn wer etwas gelobt, das nicht in seinem Vermögen steht oder das seinem Beruf widerspricht, der ist vorwitzig, und wer Gottes Freundlichkeit verachtet, die ihn zum Herrn über alle Dinge einsetzt, der ist undankbar. Wenn ich so rede, so meine ich damit nicht, es wäre irgend etwas dergestalt in unsere Hand gelegt, daß wir es, gestützt auf das Vertrauen zu unserer eigenen Kraft, Gott zu geloben vermöchten. Denn es war in höchstem Maße wahrheitsgemäß, wenn man auf dem Konzil zu Orange (529) den Beschluß faßte, wir könnten Gott nichts rechtmäßig geloben, als was wir aus seiner Hand empfangen hätten, weil ja alles, was wir ihm darbrächten, seine reine Gabe sei (Kap. 11). Aber da uns das eine aus Gottes Freundlichkeit gegeben, das andere aus seiner Billigkeit verweigert ist, so soll jeder nach der Weisung des Paulus das Maß der ihm gewährten Gnade berücksichtigen (Röm. 12,3; 1. Kor. 12,11).

(1.) Ich habe also hier nichts anderes im Sinn, als daß man seine Gelübde dem Maß angleicht, das einem Gott durch sein Geschenk vorgezeichnet hat, damit man nicht mehr wagt, als er zugestanden hat, und dabei ins Verderben rennt, indem man sich gar zu viel anmaßt. Ich will es an einem Beispiel deutlich machen. Bei Lukas werden Meuchelmörder erwähnt, die ein Gelübde taten, keine Speise zu sich zu nehmen, ehe sie den Paulus umgebracht hätten (Apg. 23,12). Selbst wenn es sich hier nun nicht um einen frevelhaften Ratschlag gehandelt hätte, so wäre doch der Vorwitz dieser Männer in keiner Weise zu ertragen, weil sie ja Leben und Tod eines Menschen ihrer eigenen Gewalt unterstellten. Ebenso wurde auch Jephthah für seine Torheit bestraft, als er in überstürztem Eifer ein unbedachtes Gelübde tat (Richt. 11,30f.). Bei dieser Gruppe von Gelübden steht der Zölibat in wahnwitziger Vermessenheit an oberster Stelle. Denn die Priester, Mönche und Nonnen vergessen ihre Schwachheit und trauen sich zu, sie seien in der Lage, den Zölibat innezuhalten. Welches Offenbarungswort aber hat die denn gelehrt, sie sollten ihr ganzes Leben in beständiger Keuschheit verbringen, wie sie ja solche Keuschheit bis zum Ende ihres Lebens geloben? Sie vernehmen doch über den allgemeinen Zustand der Menschen Gottes Stimme, die da spricht: „Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei“ (Gen. 2, 18)! Sie erkennen es, und wollte Gott, sie erführen es nicht auch, daß die Sünde, die in uns bleibt, nicht ohne sehr scharfe Stacheln ist. Woher nehmen sie denn die Zuversicht, jenen allgemeinen Beruf (der uns in die Ehe weist) für ihr ganzes Leben von sich zu werfen? Und das, wo doch die Gabe der Enthaltsamkeit zumeist nur für bestimmte Zeit gewährt wird, je, wie es die Gelegenheit erfordert! Sie sollen nicht erwarten, daß ihnen Gott in solcher Halsstarrigkeit als Helfer zur Seite stehen werde, nein, sie sollen sich lieber an das Wort erinnern: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen“ (Deut. 6,16; Luthertext richtig: Einzahl). Das aber heißt Gott versuchen, wenn man sich gegen die Natur stemmt, die er uns eingegeben hat, und wenn man seine gegenwärtigen Gaben verachtet, als hätten sie mit uns nichts zu tun. Die Papisten aber tun nicht nur dies, sondern sie wagen es auch noch, die Ehe eine Befleckung zu nennen, obwohl es Gott nicht im Widerspruch zu seiner Majestät befunden hat, sie einzurichten, obwohl er sie bei allen für ehrbar erklärt hat (Hebr. 13,4), obwohl Christus, unser Herr, sie mit seiner Gegenwart geheiligt und sich herbeigelassen hat, sie mit seinem erstem Wunder zu ehren (Joh. 2,2.6-11). Und jene entehrende Bezeichnung für die Ehe brauchen die Papisten nur, um mit wunderlichen Lobreden jedweden Zölibat zu erheben. Als ob sie nicht selbst mit ihrem Lebenswandel einen deutlichen Beweis dafür erbrächten, daß Zölibat und Jungfräulichkeit zwei verschiedene Dinge sind! Trotzdem nennen sie ihr Leben in höchster Unverschämtheit „engelgleich“. Damit tun sie den Engeln ganz sicher furchtbares Unrecht an, indem sie Hurer, Ehebrecher und noch etwas viel Schlimmeres und Gemeineres mit ihnen vergleichen. Hier bedarf es nun in der Tat durchaus keines Beweises, da sie durch die Sache selbst klar und deutlich überführt werden. Denn wir sehen es offen vor uns, mit was für furchtbaren Strafen der Herr allerorten solche Anmaßung und solche aus gar zu großem Selbstvertrauen stammende Verachtung seiner Gaben ahndet. Dabei will ich aus Schamgefühl die verborgeneren Dinge noch mit Schonung übergehen; denn schon das, was man von ihnen weiß, geht zu weit.

(2.) Unzweifelhaft dürfen wir nichts geloben, was uns daran hindern könnte, unserem Beruf zu dienen. Das wäre z.B. der Fall, wenn ein Hausvater das Gelübde täte, Weib und Kind zu verlassen und andere Lasten auf sich zu nehmen, oder wenn einer, der geschickt ist, ein obrigkeitliches Amt zu führen, und auch dazu erwählt wird, das Gelübde tun wollte, amtlos zu bleiben.

(3.) Wir sprachen dann auch davon, daß wir unsere Freiheit nicht verachten sollen. Was das bedeutet, ist einigermaßen schwierig, wenn es nicht näher entfaltet wird. Hierüber möge man also folgende kurze Ausführungen vernehmen. Da uns Gott zu Herren über alle Dinge gesetzt und sie uns dergestalt Untertan gemacht hat, daß wir sie alle zu unserem Vorteil gebrauchen sollen, so haben wir keinen Anlaß zu der Erwartung, es werde ein Gott wohlgefälliger Dienst sein, wenn wir uns zu Knechten der äußeren Dinge machen, die uns doch als Hilfen dienen sollen. Das sage ich deshalb, weil manche Leute das Lob der Demut daraus zu erlangen trachten, daß sie sich in die strenge Innehaltung vieler Satzungen verstricken, von denen wir doch nach Gottes nicht grundlosem Willen frei und ledig sein sollen. Wollen wir also dieser Gefahr entgehen, so müssen wir stets bedenken, daß wir von der Ordnung, die der Herr in der christlichen Kirche eingerichtet hat, in keiner Weise abweichen dürfen.
Simon W.

Der Pilgrim
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IV,13,4

Jetzt komme ich auf das zu sprechen, was ich oben an dritter Stelle nannte: es kommt sehr darauf an, in welcher Gesinnung man ein Gelübde tut, wenn anders man wünscht, daß es Gott wohlgefällig sei. Denn der Herr sieht das Herz an und nicht die äußere Erscheinung, und daher kommt es, daß ihm die gleiche Sache bei verändertem Vorsatz unseres Herzens bald gefällt und angenehm ist, bald auch heftig mißfällt. Wenn man ein Gelübde leistet, keinen Wein zu trinken, und dabei so tut, als ob darin irgendwelche Heiligkeit läge, so ist man ein abergläubischer Mensch; hat man aber bei solchem Gelübde einen anderen, nicht verkehrten Zweck im Auge, so kann es niemand mißbilligen. Es gibt nun, soweit ich zu beurteilen vermag, vier Zwecke, auf die unsere Gelübde rechtmäßig gerichtet sein können; zwei von ihnen beziehe ich zu besserer Unterweisung auf die Vergangenheit, die beiden übrigen auf die Zukunft. Auf die Vergangenheit beziehen sich erstens die Gelübde, mit denen wir unsere Dankbarkeit gegen Gott für empfangene Wohltaten bezeugen, zweitens solche, mit denen wir um begangener Missetaten willen an uns selber Strafe üben, um Gottes Zorn abzubitten. Die Gelübde der ersten Art wollen wir, wenn man will, als Übungen der Dankbarkeit (Dankgelübde) bezeichnen, die der zweiten Art als Übungen der Buße (Bußgelübde). Ein Beispiel für die erste Gruppe haben wir in dem Zehnten, den Jakob gelobte, wenn der Herr ihn wohlbehalten aus der Verbannung in die Heimat zurückführen würde (Gen. 28,20.22). Ein weiteres Beispiel bieten uns die Friedensopfer des Alten Bundes, wie sie fromme Könige und Feldherrn, die im Begriff standen, einen gerechten Krieg zu führen, darzubringen gelobten, wenn sie den Sieg erlangen würden, oder jedenfalls, wie sie sie unter dem Druck einer größeren Not gelobten, wenn der Herr sie frei machen würde. In diesem Sinne müssen wir alle Stellen in den Psalmen verstehen, die von Gelübden handeln (Ps. 22,26; 56,13; 116,14.18). Derartige Gelübde können auch heutzutage bei uns in Übung stehen, sooft uns der Herr aus einer Niederlage oder aus einer schweren Krankheit oder aus irgendeiner anderen Gefahr errettet hat. Denn dann steht es nicht im Widerspruch zu der Pflicht eines frommen Menschen, Gott ein Gelübdeopfer als feierliches Zeichen seiner Dankbarkeit zu weihen, um seiner Freundlichkeit gegenüber nicht undankbar zu erscheinen. Um zu zeigen, von welcher Art die Gelübde der zweiten Gruppe sind, wird ein einziges bekanntes Beispiel genügen. Wenn jemand durch seine Schlemmerei in eine Schandtat geraten ist, so besteht kein Hindernis dagegen, daß er sich zur Strafe für seine Unmäßigkeit eine Zeitlang alle Leckerbissen versagen könnte und das dann auch unter Anwendung eines Gelübdes täte, um sich dadurch mit einem festeren Bande zu verpflichten. Damit stelle ich aber für solche, die sich in solcher Weise vergangen haben, kein bleibendes Gesetz auf, sondern ich zeige nur, was diejenigen tun dürfen, die zu der Überzeugung gekommen sind, daß ihnen ein derartiges Gelübde von Nutzen sei. Ich sehe also ein solches Gelübde als erlaubt an, jedoch so, daß ich es unterdessen frei bleiben lasse.



IV,13,5

Die Gelübde, die sich auf die Zukunft beziehen, haben teilweise (1.), wie gesagt, den Zweck, daß wir vorsichtiger werden, teilweise (2.) sollen sie uns auch gleichsam als Ansporn dienen, um uns zu unserer Pflicht aufzumuntern.

(1.) Wenn jemand sieht, daß er zu einem bestimmten Laster dermaßen geneigt ist, daß er sich bei einer sonst nicht schlechten Sache nicht im Zaum zu halten vermag, sondern gleich in etwas Böses gerät, so tut er nichts Widersinniges, wenn er sich durch ein Gelübde den Gebrauch dieser Sache für eine Zeitlang entzieht. Wenn also zum Beispiel jemand erkennt, daß ihm dieser oder jener leibliche Zierat gefährlich ist, und wenn er dann doch, von der Gier verlockt, heftig danach verlangt, was könnte der Besseres tun, als daß er sich einen Zaum anlegt, das heißt: sich den Zwang zum Verzicht auferlegt und sich dadurch von allen Bedenken befreit?

(2.) Oder ebenso: wenn jemand vergeßlich oder träge ist zur Erfüllung der notwendigen Pflichten der Frömmigkeit, weshalb soll der nicht ein Gelübde tun und dadurch sein Gedächtnis auffrischen und seine Faulheit austreiben? In diesen beiden Arten von Gelübden, das gebe ich zu, kommt eine Art Kindererziehung zum Vorschein; aber eben deshalb, weil sie Stützen für die Schwachheit sind, werden sie von Unerfahrenen und Unvollkommenen nicht ohne Nutzen angewandt. Wir werden also sagen, daß Gelübde, die einem unter diesen Zwecken dienen, vor allem in äußerlichen Dingen, rechtmäßig sind, wenn sie nur auf Gottes Billigung gestützt sind, zu unserem Beruf passen und nach dem Vermögen begrenzt sind, das uns die von Gott uns dargereichte Gnade verleiht.



IV,13,6

Nun ist es auch nicht schwer, aus dem Obigen zu entnehmen, was wir allgemein von den Gelübden zu halten haben. Ein Gelübde ist allen Gläubigen gemeinsam: das ist bei der Taufe gesprochen, und es wird von uns bekräftigt und gleichsam unverbrüchlich verbürgt, wenn wir den Katechismus lernen (daraufhin unseren Glauben bekennen) und das Abendmahl empfangen. Denn die Sakramente sind gleichsam Verschreibungen, in denen der Herr uns seine Barmherzigkeit und daraus das ewige Leben schenkt und wir ihm wiederum Gehorsam versprechen. Die Formel oder jedenfalls der Hauptinhalt dieses Gelübdes sieht so aus: wir schwören dem Satan ab und begeben uns Gott zu Knechten, um seinen heiligen Geboten zu gehorchen, nicht aber den bösen Gelüsten unseres Fleisches zu folgen. Da dieses Gelübde ein Zeugnis von der Schrift her besitzt, ja, von allen Kindern Gottes gefordert wird, so darf man nicht daran zweifeln, daß es heilig und heilsam ist. Dem steht auch nicht entgegen, daß niemand in diesem Leben den vollkommenen Gehorsam gegen das Gesetz leistet, den Gott von uns verlangt. Denn dieses Gelübde ist in den Gnadenbund mit eingeschlossen, in dem auch die Vergebung der Sünden und die Heiligung des Geistes enthalten ist, und deshalb ist das versprechen, das wir dabei ablegen, mit dem Flehen um Vergebung und dem Verlangen nach Hilfe verbunden. Bei der Beurteilung der besonderen Gelübde ist es erforderlich, die drei oben genannten Regeln im Gedächtnis zu behalten; von daher wird man mit Sicherheit entscheiden können, von welcher Art jedes einzelne Gelübde ist. Trotzdem aber soll man nicht meinen, ich wollte die Gelübde, von denen ich behaupte, daß sie heilig sind, dergestalt anempfehlen, daß ich den Wunsch hätte, sie geschähen alle Tage. Denn obwohl ich es nicht wage, eine Vorschrift über Zahl oder Zeit der Gelübde zu geben, so wird man doch, wenn man meinem Rate folgt, solche Gelübde nur in mäßiger Zurückhaltung und zeitlicher Begrenzung leisten. Denn wenn man immer wieder dazu übergeht, zahlreiche Gelübde zu tun, dann wird eben durch solche fortgesetzte Wiederholung die ganze Religion gemein werden, und man wird sehr leicht in Aberglauben verfallen. Bindet man sich durch ein fortwährendes Gelübde, so wird man es entweder (bloß) mit viel Beschwernis und Ärger ableisten oder auch, durch die lange Dauer ermüdet, von Zeit zu Zeit zu durchbrechen wagen.



IV,13,7

Nun ist es nicht verborgen, mit was für einem großen Aberglauben sich die Welt in diesem Stück manche hundert Jahre lang herumgeschlagen hat. Der eine tat das Gelübde, keinen Wein mehr zu trinken, als ob der Verzicht auf den Wein einen Gottesdienst darstellte, der Gott an und für sich wohlgefällig wäre. Der andere verpflichtete sich für bestimmte Tage zum Fasten oder zum Verzicht auf Fleisch, weil er sich in eitlem Wahn vormachte, in diesen Dingen läge mehr als in anderen ein einzigartiger Gottesdienst. Manche Gelübde tat man auch, die noch viel kindischer waren – wenn es auch nicht Kinder waren, die sie leisteten! Man hielt es nämlich für große Weisheit, auf ein Gelübde hin Wallfahrten zu heiligen Stätten zu unternehmen und zuweilen auch die Reise zu Fuß oder mit halbnacktem Leibe zurückzulegen, um sich mit der Ermüdung desto mehr Verdienst zu erwerben. Wenn wir solche und ähnliche Gelübde, um welche die Welt eine Zeitlang mit unglaublichem Eifer entbrannt war, nach den oben aufgestellten Regeln prüfen, so werden sie nicht nur sinnlos und läppisch befunden werden, sondern auch erfüllt von offenkundiger Gottlosigkeit. Denn wie das Fleisch auch urteilen mag, so ist vor Gott doch nichts mehr ein Greuel als selbstersonnener Gottesdienst. Dazu kommen dann noch jene verderblichen und verfluchten Wahnmeinungen, daß die Heuchler, sobald sie solch Possenzeug fertiggebracht haben, nun des Glaubens sind, sie hätten sich eine ungewöhnliche Gerechtigkeit erworben, den wesentlichen Bestand der Frömmigkeit in dem Einhalten solch äußerlicher Dinge erblicken und alle anderen Menschen verachten, die sich anscheinend um dergleichen Sachen weniger Mühe geben.



IV,13,8

Die einzelnen Formen (solcher falschen Gelübde) aufzuzählen wäre ohne Belang. Da nun aber die Klostergelübde eine höhere Wertschätzung genießen, weil es den Anschein hat, sie wären durch das öffentliche Urteil der Kirche gebilligt, so muß ich auf sie doch noch kurz eingehen. Zunächst: damit niemand das Mönchtum, wie es heute ist, unter dem Vorwand alter Herkunft verteidigt, so muß ich darauf hinweisen, daß früher in den Klöstern eine wesentlich andere Lebensweise geherrscht hat. In die Klöster begaben sich solche Leute, die sich zu höchster Strenge und Geduld üben wollten. Denn eben solche Zucht, wie sie nach unseren Berichten bei den Lakedämoniern unter den Gesetzen des Lykurg bestanden haben soll, herrschte auch unter den Mönchen, ja, eine noch viel strengere. Sie schliefen auf dem Erdboden, tranken nur Wasser, aßen Brot, Kräuter und Wurzeln, ihre vornehmsten Leckerbissen bestanden in Öl und Erbsen. Auf alle köstlicheren Lebensmittel und auf alle feinere Wartung des Leibes verzichteten sie. Diese Schilderung könnte übertrieben erscheinen, wenn es nicht von Zeugen so berichtet würde, die es gesehen und erfahren haben, nämlich von Gregor von Nazianz, Basilius und Chrysostomus. Was ich nun eben berichtete, das waren aber nur die Anfängerübungen, mit denen sich die Mönche zu wichtigeren Aufgaben vorbereiteten. Denn die Mönchsgenossenschaften waren damals gleichsam Pflanzstätten des kirchlichen Standes (d.h. des „Klerus“). Ein hinreichend deutlicher Beweis dafür sind einerseits die oben genannten Männer (Gregor, Basilius, Chrysostomus) – denn sie sind allesamt in Klöstern erzogen und dann von da aus in das Bischofsamt berufen worden -, andererseits aber auch zahlreiche andere bedeutende und hervorragende Männer ihrer Zeit. Und Augustin bezeugt, daß es auch zu seiner Zeit üblich gewesen ist, daß die Klöster der Kirche ihre Kleriker lieferten; denn er redet die Mönche von der Insel Capraria folgendermaßen an: „Euch aber, ihr Brüder, ermahnen wir in dem Herrn, daß ihr eurem Vorsatz treu bleibet und bis ans Ende dabei beharret; und wenn einst eure Mutter, die Kirche, eures Dienstes begehren wird, so übernehmt ihn nicht in herrschsüchtiger Überheblichkeit und verschmäht ihn auch nicht in schmeichlerischer Bequemlichkeit, sondern leistet Gott mit sanftmütigem Herzen Gehorsam. Stellet auch nicht eure Muße über die Erfordernisse der Kirche; denn wenn es keine guten Leute gegeben hätte, die ihr in ihren Geburtswehen hätten dienend beistehen wollen, so hättet ihr auch keine Möglichkeit gehabt, zur Welt zu kommen“ (Brief 48; an Eudoxius). Er spricht hier nämlich von dem Amt, durch das die Gläubigen geistlich wiedergeboren werden. Ebenso schreibt er an Aurelius: „Wenn Leute das Kloster verlassen und man dann solche zum Kriegsdienst des Klerikeramtes erwählt, so bietet man ihnen selbst Gelegenheit zum Fall und läßt dem Stande der Kleriker empörendstes Unrecht widerfahren. Denn wir pflegen doch aus dem Kreise derer, die im Kloster bleiben, nur die besterprobten und tüchtigsten in den Klerus aufzunehmen. Sonst müßte es schon zugehen, wie der Volksmund sagt: ‚Ein schlechter Pfeifer ist ein guter Musikant in der Kapelle’, und man müßte von uns spottend sagen: ‚Ein schlechter Mönch ist ein guter Kleriker’. Es wäre doch gar zu beklagenswert, wenn wir die Mönche zu einer so verderbenbringenden Hoffart wollten emporsteigen lassen und die Kleriker einer so harten Schmähung für würdig erachteten. Denn manchmal gibt auch ein guter Mönch kaum einen guten Kleriker, nämlich wenn er zwar genügend Enthaltsamkeit besitzt, aber es doch an der notwendigen Gelehrsamkeit fehlen läßt“ (Brief 60; an Aurelius). Aus diesen Stellen ergibt sich deutlich, daß sich fromme Männer unter der klösterlichen Zucht auf die Leitung der Kirche vorzubereiten pflegten, um dann mit besserer Eignung und besserer Bildung solch wichtiges Amt zu übernehmen. Nicht, daß alle zu diesem Ziel gelangt wären oder auch nur hätten gelangen wollen – denn die Mönche waren zum größeren Teil wissenschaftlich ungebildete Leute -, sondern es wurden diejenigen ausgewählt, die dazu geeignet waren.
Simon W.

Der Pilgrim
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IV,13,9

Es gibt aber vor allem zwei Stellen, an denen Augustin die Gestalt des alten Klosterlebens schildert. Das geschieht einmal in seinem Buche „Von den Sitten der katholischen Kirche“, in welchem er den Schmähungen der Manichäer die Heiligkeit des Mönchsberufs entgegenstellt, und dann zum anderen in einem weiteren Buch, dem er den Titel „Von dem Werk der Mönche“ gegeben hat und in dem er gegen einige entartete Mönche, die diese Einrichtung zu verderben begannen, scharf losfährt. Ich will also hier den wesentlichen Inhalt der von ihm uns gebotenen Berichte wiedergeben, und zwar so, daß ich dabei auch, soweit es angeht, seine eigenen Worte gebrauche. Er sagt: „Unter Verachtung der Lockungen dieser Welt schließen sich die Mönche zu einem gemeinsamen Leben von höchster Keuschheit und Heiligkeit zusammen, sie führen ihr Dasein nun miteinander, leben in Gebeten, Lesungen und Lehrgesprächen, sind von keiner Hoffart aufgeblasen, von keiner Halsstarrigkeit aufrührerisch und von keinem Neid scheelsüchtig. Keiner hat irgendwelchen eigenen Besitz, keiner fällt irgend jemand zur Last. Mit den Händen erarbeiten sie sich, was dazu dient, ihren Leib zu erhalten, und was ihren Geist doch nicht von Gott fernhalten kann. Ihr Werk stellen sie unter die Leitung von solchen, die sie ‚Dekane’ nennen. Diese ‚Dekane’ aber ordnen alles mit großer Sorgfalt an und geben wiederum einem Manne Rechenschaft, den sie als ‚Vater’ bezeichnen. Diese ‚Väter’ sind nun nicht nur von höchster Heiligkeit in ihren Sitten, sondern auch von hervorragender Kenntnis der göttlichen Lehre und ausgezeichnet in allen Dingen; sie sorgen ohne jeglichen Hochmut für die anderen, die sie ‚Söhne’ nennen, und zwar durch ihre große Autorität im Gebieten und durch deren große Willigkeit im Gehorchen. Gegen Ende des Tages – und das ist eine Zeit, wo sie noch nichts zu sich genommen haben! – kommen sie nun zusammen, jeder aus seiner Behausung, um den Worten jener ‚Väter’ zu lauschen, und es versammeln sich bei jedem ‚Vater’ dreitausend oder wenigstens tausend Menschen – Augustin redet vornehmlich von Ägypten und vom Osten. Danach stärken sie dann den Leib, soweit es für Wohlergehen und Gesundheit erforderlich ist, und dabei hält jeder einzelne seine Begehrlichkeit im Zaum, um sich auch bei den spärlichen und äußerst schlichten Nahrungsmitteln nicht gehen zu lassen, die zur Verfügung stehen. So verzichten sie nicht nur auf Fleisch und Wein, um ausreichend in der Lage zu sein, ihre Begierden zu bändigen, sondern auch auf solche Dinge, die um so mehr dazu dienen, den Magen und den Gaumen zu heftiger Begehrlichkeit zu reizen, je mehr sie manchem als rein erscheinen. Denn unter diesem Namen („rein“) pflegt man ja die schmählichste Begierde nach auserlesenen Speisen lächerlich und schändlich zu verteidigen, weil sie doch mit dem Fleischgenuß nichts zu tun habe. Was über den notwendigen Lebensunterhalt hinaus vorhanden ist – und es bleibt bei ihrer Hände Arbeit und bei ihrer Einschränkung im Essen sehr viel übrig -, das wird mit einer Sorgfalt an die Bedürftigen ausgeteilt, die noch größer ist als jene, mit der es die, welche diese Verteilung vornehmen, erworben haben. Denn es kommt ihnen nicht entscheidend darauf an, daß sie an solchen Dingen Überfluß haben, sondern sie mühen sich in jeder Weise darum, daß das, woran sie Überfluß haben, nicht bei ihnen verbleibt“ (Von den Sitten der katholischen Kirche 31,67). Dann erwähnt er die Strenge der Mönche, für die er selbst in Mailand und an anderen Orten Beispiele zu sehen bekommen hatte, und sagt: „Unterdessen wird niemand zu harten Übungen gedrängt, die er nicht zu ertragen vermag, keinem wird etwas auferlegt, dessen er sich weigert, es wird auch keiner von den anderen verdammt, weil er bekennt, nicht in der Lage zu sein, um es ihnen gleichzutun; denn sie bedenken, wie sehr uns die Liebe anempfohlen wird, sie behalten im Gedächtnis, daß dem Reinen alles rein ist … (Tit. 1,15). All ihren Fleiß verwenden sie wachsam darauf, nicht etwa bestimmte Arten von Speisen zu verwerfen, als ob sie befleckt wären, sondern die Gier zu bändigen und die brüderliche Liebe zu erhalten. Sie gedenken an das Wort: ‚Die Speise dem Bauche und der Bauch der Speise …’ (1. Kor. 6,13). Jedoch üben viele Starke die Enthaltsamkeit um der Schwachen willen. Viele haben keine Ursache, dergleichen zu tun; (sie tun es aber) weil es ihnen gefällt, sich mit recht einfacher und ganz billiger Speise zu erhalten. So kommt es, daß die gleichen Leute, die bei voller Gesundheit Enthaltsamkeit üben, die betreffenden Speisen im Falle der Krankheit ohne Bedenken annehmen, wenn es ihr Gesundheitszustand erfordert. Viele trinken keinen Wein; aber sie meinen nicht, sich damit zu beflecken; denn sie sorgen in größter Freundlichkeit dafür, daß den Schwachen und denen, die ohne ihn die Gesundheit ihres Leibes nicht zu erhalten vermögen, Wein gereicht wird; auch ermahnen sie manche Leute, die den Wein töricht ablehnen, in brüderlicher Weise, sie sollten nicht durch eitlen Aberglauben eher schwächer als heiliger werden. So wenden sie allen Fleiß daran, Frömmigkeit zu üben, und dabei wissen sie, daß sich die Übung des Leibes nur auf kurze Zeit erstreckt. Vor allem aber wird die Liebe gewahrt; der Liebe wird der Lebensunterhalt, der Liebe das Reden, der Liebe die Kleidung und der Liebe der Gesichtsausdruck dienstbar gemacht. Zu einer Liebe kommt man zusammen, und zu einer Liebe verschwört man sich; sie zu verletzen, das gilt als Frevel, wie wenn man Gott selber schändete, wer sich ihr widersetzt, der wird ausgestoßen und gemieden, wer sie bricht, der darf nicht einen einzigen Tag mehr bei ihnen bleiben“ (Ebenda 33,70-73). Mit diesen Worten scheint mir jener heilige Mann wie in einem Bilde den einstigen Zustand des Klosterlebens dargestellt zu haben, und deshalb hat es mich nicht verdrossen, sie hier trotz ihrer erheblichen Ausführlichkeit einzufügen; denn ich habe bemerkt, daß ich trotz meines Strebens nach kurzer Zusammenfassung noch mehr ins Weite geraten würde, wenn ich diese Mitteilungen aus verschiedenen Schriftstellern zusammentragen wollte.


IV,13,10

Ich habe nun hier die Absicht, nicht etwa diesen ganzen Fragenkreis durchzusprechen, sondern nur im Vorbeigehen aufzuzeigen, was für Mönche die Alte Kirche besessen hat, und auch, wie damals der Mönchsberuf ausgesehen hat, damit verständige Leser auf Grund des Vergleichs ein Urteil darüber gewinnen können, wie frech die Leute handeln, die zur Stützung des gegenwärtigen Mönchtums auf die alte Zeit verweisen. Bei der Schilderung, die uns Augustin von dem heiligen und rechtmäßigen Mönchtum entwirft, hat er den Willen, daß alles scharfe Fordern solcher Dinge fernbleibt, die uns von dem Worte des Herrn frei überlassen werden. Nun gibt es aber nichts, was heutzutage mit größerer Strenge verlangt würde. Denn man hält es für eine unsühnbare Freveltat, wenn jemand in der Farbe oder dem Aussehen des Gewandes, in der Art der Speisen oder in anderen wertlosen und unbedeutenden Zeremonien auch nur im mindesten von der Vorschrift abweicht. Augustin betont mit Nachdruck, daß die Mönche nicht das Recht haben, von anderer Leute Gut ein müßiges Leben zu führen. Er erklärt, daß ein solcher Fall zu seiner Zeit in keinem wohlgeordneten Kloster vorgekommen sei (Von dem Werk der Mönche 23,27). Unsere heutigen Mönche dagegen sehen das wichtigste Stück ihrer Heiligkeit im Müßiggang! Denn wenn man ihnen den Müßiggang wegnimmt – wo soll dann jenes „beschauliche Leben“ (contemplativa vita) bleiben, vermöge dessen sie, wie sie sich rühmen, alle anderen Menschen übertreffen und näher an die Engel herankommen? Und schließlich: Augustin fordert ein Mönchtum, das nichts anderes sein soll als eine Übung und eine Stütze für die (Erfüllung der) Verpflichtungen der Frömmigkeit, die allen Christenmenschen ans Herz gelegt werden. Er erklärt doch die Liebe für die höchste, ja, geradezu für die einzige Regel des Mönchslebens, und wieso können wir nun da annehmen, er würde eine Rotterei loben, in der sich einige wenige Menschen miteinander verbinden und sich dadurch von dem gesamten Leibe der Kirche absondern? Nein, im Gegenteil: er will doch, daß die Mönche den übrigen Christen mit ihrem Beispiel voranleuchten, um die Einheit der Kirche zu bewahren! In beiden Stücken ist unser gegenwärtiges Mönchtum dermaßen anders geartet, daß man kaum etwas Verschiedeneres, um nicht zu sagen: Widersprechenderes, finden wird. Denn unsere Mönche geben sich nicht mit jener Frömmigkeit zufrieden, nach der Christi Jünger auf seinen Befehl hin in beständigem Streben allein trachten sollen, und ersinnen sich ich weiß nicht was für eine neue, um im Trachten nach ihr vollkommener zu sein als alle anderen.



IV,13,11

Wenn sie das bestreiten, so möchte ich gern von ihnen wissen, warum sie denn allein ihren Stand für würdig erachten, als „vollkommen“ bezeichnet zu werden, und warum sie diesen Ehrentitel allen anderen Berufungen Gottes absprechen. Es ist mir auch jene sophistische Antwort nicht unbekannt, man nenne das Mönchtum nicht darum so, weil es die Vollkommenheit in sich beschlösse, sondern weil es von allen der beste Stand sei, um die Vollkommenheit zu erlangen. Wenn sich die Mönche beim Volke rühmen wollen, wenn sie unkundige und unwissende junge Menschlein in ihre Stricke ziehen, ihre Vorrechte verteidigen und ihre Würde zur Unehre anderer Leute emporheben wollen, dann erklären sie rühmend, sie seien im Stande der Vollkommenheit! Wenn man ihnen dann so nahe zusetzt, daß sie diese eitle Anmaßung nicht mehr aufrechterhalten können, dann nehmen sie ihre Zuflucht zu dem Schutzgraben (d.h. zu der Hilfsbehauptung), sie hätten allerdings die Vollkommenheit noch nicht erreicht, lebten aber in dem Stande, in dem sie mehr als andere Leute nach ihr trachteten. Währenddessen aber bleibt im Volke jene Bewunderung bestehen, als ob allein das Klosterleben engelgleich, vollkommen und von allen Gebrechen gereinigt sei! Unter diesem Vorwand treiben sie den gewinnsüchtigsten Handel – und jene Einschränkung (ihrer Ansprüche) bleibt unterdessen in einigen wenigen Büchern begraben! Wer bemerkt nicht, daß dies ein unerträglicher Spott ist? Aber wir wollen mit ihnen so verfahren, als ob sie ihrem Beruf nicht mehr zusprächen, als sie es dann tun, wenn sie ihn den Stand zur Erlangung der Vollkommenheit nennen. Denn wenn sie ihm diesen Namen geben, so unterscheiden sie ihn doch damit unzweifelhaft wie mit einem besonderen Kennzeichen von jeder anderen Art der Lebensführung. Und wer will es dulden, daß diese große Ehre einer Einrichtung beigelegt wird, die nirgendwo auch nur mit einer einzigen Silbe gutgeheißen ist, und daß man der nämlichen Ehre alle Berufungen Gottes unwürdig erachtet, die doch mit seinem heiligen Munde nicht nur geboten, sondern auch mit den herrlichsten Lobsprüchen ausgezeichnet sind? Und dann, das möchte ich doch fragen, was geschieht doch Gott für ein schlimmes Unrecht, wenn man allen Arten der Lebensgestaltung, die von ihm angeordnet und durch sein Zeugnis gepriesen sind, ich weiß nicht was für eine erdichtete vorzieht?



IV,12,12

Nun, sie mögen sagen, was ich eben vorgebracht habe, nämlich daß sie sich mit der von Gott vorgeschriebenen Regel nicht zufriedengeben, das sei eine Lästerung. Aber selbst wenn ich schweige, so klagen sie sich doch selber mehr als genug an. Denn sie lehren doch offen, sie nähmen eine größere Last auf sich, als sie Christus den Seinen auferlegt habe, weil sie nämlich gelobten, die „evangelischen Ratschläge“ zu halten, nämlich daß wir unsere Feinde lieben, keine Vergeltung begehren, nicht schwören sollten und so fort (Matth. 5,33ff.) – und an diese „evangelischen Ratschläge“ seien doch die Christen nicht allesamt gebunden! Was für eine „alte Zeit“ wollen sie uns nun hierbei als Vorwand zeigen? Denn dergleichen ist niemals einem von den Alten in den Sinn gekommen; sie erklären doch alle wie aus einem Munde, daß Christus nicht ein einziges Wort gesprochen hat, dem wir nicht notwendig zu gehorchen hätten! Und daß nun namentlich jene Worte, die nach dem Geschwätz dieser wackeren Ausleger bloß Ratschläge Christi darstellen sollen, tatsächlich Weisungen seien, das lehren die Alten allenthalben ohne jegliches Bedenken. Aber weil ich schon oben dargelegt habe, daß es sich hier um einen höchst verderbenbringenden Irrtum handelt, so mag es hier genug sein, kurz angedeutet zu haben, daß sich das Mönchtum, so wie es heute ist, auf eine Meinung gründet, die allen Frommen verdientermaßen ein Greuel sein muß, nämlich darauf, daß man sich einbildet, es gäbe irgendeine vollkommenere Lebensregel als jene allgemeine, die Gott der gesamten Kirche vorgeschrieben hat. Alles, was auf dieses Fundament gebaut wird, das kann nicht anders als abscheulich sein.
Simon W.

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