A. Zahn"Abriss einer Geschichte der evangelischen Kirche auf dem europäischen Festlande im neunzehnten Jahrhundert"

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A. Zahn"Abriss einer Geschichte der evangelischen Kirche auf dem europäischen Festlande im neunzehnten Jahrhundert"

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12. Die reformierte Kirche.

Literatur: Die reformierte Kirchenzeitung 1851 ff.

Die reformierte Kirche hat in Deutschland den Ruhm, an längsten die Einflüsse des Unglaubens abgewehrt zu haben. Von ihrer Disziplin und Confession de foi beeinflusst haben noch am Ende des 18. Jahrhunderts die ref. Franzosen in Brandenburg die Predigt des väterlichen Glaubens gepflegt. Als die neue Zeit anbrach, waren es wieder reformierte Prediger, welche für ganze Landesteile zum Segen wurden, so der Prediger und Professor Krafft in Erlangen († 1845), „der Regenerator der protestantischen Kirche Bayerns“, die Pastoren Merle d’Aubigné in Hamburg, Geibel, der Vater des Dichters, in Lübeck, Mallet in Bremen, Palmié und Riquet in Stettin, G. D. Krummacher in Elberfeld, Fr. Adolf Krummacher, der Parabeldichter, Generalsuperintendent in Bernburg († 1845).103 Das Wuppertal mit seinem calvinistischen Gepräge hat den ganzen Osten Deutschlands durch die Vermittlung des Oberhofpredigers G. F. A. Strauß († 1863), des Schwiegersohnes der hochbegabten ref. Wilhelmine von der Heydt104, befruchtet. Fr. W. Krummachers in Redekunst und Phantasie glänzende Tätigkeit war nur darum so bedeutsam, weil sie das Gold der Erfahrung einfacher Weber und Bauern des Wuppertales in sich aufnahm. Als die Union eine Menge reformierter Gemeinen auflöste und auch in Rheinland und Westfalen die noch zu Recht gelassenen auf einen schwankenden Boden ihres Bekenntnisses und ihrer Verfassung stellte, bildete sich in Elberfeld am 30. März 1847 die freie niederländisch-reformierte Gemeine, als die einzige Erbin alter Rechte der ref. Kirche des bergischen Landes, unter der ausgezeichneten Leitung des Holländers Dr. th. Hermann Friedrich Kohlbrügge und der Ältesten Karl und Daniel von der Heydt und erreichte mit Korporationsrechten durch die Gnade des wohlwollenden Fr. Wilhelm IV. ausgestattet, eine seltene in Deutschland nie dagewesene Blüte, namentlich auch durch die aus ihrer heilbringenden Gemeinschaft hervorgehende Elberfelder Armenverwaltung eine Wohltat für alle Welt spendend. Als Kohlbrügge, in Holland von der lutherischen Kirche ausgestoßen, von der reformierten nicht aufgenommen, nach langen Jahren des Harrens auf seinen Gott, die Gemeine in Elberfeld 1847 übernommen hatte, begann für diese eine schöne Zeit. Er allein hat es vollbracht, was niemand vor ihm in Deutschland versucht hatte – und dies in der schwierigen, kaum zu bändigenden Elberfelder Bevölkerung eine freie Gemeine hinzustellen, die unter der Zucht des Wortes in Freiwilligkeit der Liebe und Selbstbesteuerung (in den ersten 12 Jahren hatte sie eine Summe von 111 500 Talern für ihre Bedürfnisse aufgebracht), in musterhafter Armenpflege, von Friedrich Wilhelm IV. freudig begrüßt, als eine Stadt auf dem Berge da lag, die jeder, der die still verborgene, nie von sich Lärm machende besuchte, mit tiefster Belehrung verließ. In ihrer Kirchenordnung, in ihrem Ältesten- und Diakonen-Dienst, in der gewaltigen, allein Gott verherrlichenden Predigt war sie das letzte herrliche Abendrot der ref. Kirche Deutschlands. Sie hat die ref. Kirche Hollands und Österreichs befruchtet, in Amerika und in der Schweiz Schüler empfangen und ist die bevorzugte Stätte gewesen, wo in diesem Jahrhundert unverkümmert und unverkürzt in voller Kraft und in der tiefsten Erkenntnis die Rechtfertigungslehre bezeugt worden ist. Als Kohlbrügge am 5. März 1875 starb, trugen den einsamen Mann doch eine große Zahl von Predigern aus Deutschland, Holland und der Schweiz zu Grabe. Kohlbrügge in der Abendmahlslehre calvinisch fühlte sich mehr von Luthers Exegese angezogen, die er oft noch durch einen unvergleichlichen psychologischen Feinsinn, der überall den Gegensatz des menschlichen Geistes gegen Gott und seine Gnade erkannte, zu vertiefen verstand. Es ist die Theologie des Glaubens und der Gnade mit dem Widerspiel der Sichtbarkeit. Besondere Ansichten hat K. nicht gehabt. Wenn er stark betont, dass Christus „im Fleische gekommen ist“, so will er nur damit sagen, dass Christus in dem Gebiete der Sünde und des Todes aufgetreten und in diesem Gebiete zur Sünde gemacht sei, er blieb aber dabei immer der Heilige Gottes und ganz unsträflichen Geistes. Der Heilige in der Gleichheit des Fleisches von Sünde, aber doch stets eben in dieser scheinbaren Unmöglichkeit der ohne Sünde Versuchte. Irvingitische Irrlehre liegt ihm ganz fern. Christum ins Fleisch ziehen ist tröstlich, sagt Luther. Seine Passionspredigten sind das bedeutendste, was je über diesen Gegenstand geschrieben ist. Als ihn Leo kennen lernte, sagte er:
Ich erwartete einen groben Holzschnitt und fand einen feinen Kupferstich. Der Mann muss nie ein unvorsichtiges Wort sprechen.
Seine Bedeutung als Vater und Regent der Gemeine trat noch mehr ans Licht, als man die hohe Autorität nach seinem Tode entbehrte. Aber das, was früher die ref. Kirche des bergischen Landes geziert hatte, war doch noch einmal in dem Kreise der Gemeine zusammengefasst worden. Übrigens hat sich die Gemeine bis auf die Gegenwart mit etwa 1300 Mitgliedern erhalten. 1887 bestand sie 40 Jahre.

Kohlbrügge in seiner äußeren Erscheinung eine hohe ernste Gestalt mit durchdringendem Blick hat eine kleine ref. Schule gegründet, die unter der Mithilfe des Professors Joh. Wichelhaus in Halle sich ausbreitete. Johannes Wichelhaus wurde am 13. Januar 1819 in Mettmann geboren, wo sein Vater Pastor war. Seine Mutter war eine geb. v. d. Heydt aus Elberfeld. Er studierte in Bonn und Berlin. Als er sich 1840 in Bonn habilitieren wollte, legte man ihm eine Eidesformel vor, welche ihn auf die Symbole der Kirche verpflichtete. In großer Gewissensnot wehrte er diesen Zwang ab, der bald nachher bei zwei anderen Lizentiaten gar nicht erwähnt wurde. Man trieb Unionspolitik. In Halle gelang ihm dann die Promotion, doch auch hier nicht ohne große Schwierigkeit. Er hat dort ein einsames Privatdozenten-Leben geführt: von der Fakultät gehässig in die Ecke geschoben, obwohl der einzige Theologe, der in diesem Jahrhundert an der Universität Halle-Wittenberg die Lehre Luthers verkündete mit der Devise: Fleißiges Sprachstudium der biblischen Bücher, Autorität der hl. Schrift, wahre und bestimmte Fassung der Grundlehren nach den Bekenntnissen der Reformation. Endlich 1854 erfolgte, nachdem er sich würdig und glänzend gerechtfertigt, durch den Minister Raumer seine Ernennung zum außerordentlichen Professor. Er starb schon am 14. Febr. 1858 an dem Gegensatz einer Theologie, die den Namen der Gläubigkeit trug, ohne sie zu besitzen: ein verborgener Märtyrer, der in seinem Kommentar zur Leidensgeschichte, in seinen Vorlesungen zum N. T. und zur biblischen Dogmatik in weihevoller Weise die Wahrheiten der Reformation ausgesprochen hat, die in Halle keine Stätte fanden.105 Trotz aller Lutherstudien ist die Theologie Halles von Gesenius bis Beyschlag nur ein Protest gegen die Reformation, dabei ohne Einfluss in der jetzt sozialistisch regierten Stadt. Unserer Richtung gehören auch die vortrefflichen Commentare zu neun Briefen Pauli von Karl v. d. Heydt an. Er war in Elberfeld Kommerzienrat und lebte in seiner Muße dem sorgfältigen Studium des N. T. In Halle ist hier auch Georg von Polenz zu nennen, ein Nachkomme jenes preußischen Bischofs von Polenz, der Geschichtsschreiber des französischen Calvinismus in mühevoller Breite. Das Studium Calvins hatte ihn zum Calvinisten gemacht und er bekannte: Nicht ich habe Gott gesucht, sondern er hat mich gesucht. Vergeblich bemühte er sich in der großen Kirche eine kleine Gemeinschaft der Heiligen zu finden und konnte einem Amerikaner auf die Frage: Wo kommen die Christen in Halle zusammen? –nur antworten: Nirgends.

Man nennt noch andere ref. Theologen, wie den bienenfleißigen. viel und leicht schreibenden, in heftigem Kampf mit Vilmar in Hessen das gute Recht des ref. Bekenntnisses verteidigenden Heinrich Heppe († 1879), der wohl eine Menge reformierten Altertums kundig aufgrub, aber in seiner ganzen theologischen Richtung melanchthonisch-synergistisch war, weshalb er auch mehr Melanchthonisnius in der ref. Kirche Deutschlands fand, als der Wahrheit gemäß in ihr war. Es ist da auch eine große Täuschung untergelaufen. Der bedeutendste Melanchthonianer Christoph Pezel war entschieden Vertreter der Erwählung und der Heidelberger Katechismus ist von seinen eigenen Verfassern, Schülern Calvins, so erklärt und von der ref. Kirche bis in dieses Jahrhundert so aufgefasst worden, bis Unionsideen und Irrlehren ihn verfälschten. Auch im Genfer Katechismus findet sich das System der Prädestination nicht, ist er darum nicht calvinisch? Sind auch die Dordrechter Erklärung in Deutschland nicht rechtlich als Symbol angenommen, so galten sie doch auch hier als der vollgültige Ausdruck der ref. Lehre. Fast alle berühmten Dogmatiker im 16. und 17. S. lehren in ihrem Sinne. Seit 1654 stehen sie auch in dem Confessionum Syntagma, das in Marburg als Lehrnorm galt. Heppe hat viel unnötige Verwirrung angerichtet: auch er, ein moderner Theologe, der sich selbst in der Vergangenheit beweist. Tritt neben ihn August Ebrard in Erlangen als ref. Theologe, so verdient er diesen Namen gewiss wegen vieler mit leichtem Geschick in anregender Darstellung und zähem Fleiß, in reicher Vielseitigkeit bis zum begeisterten dichterischen Aufschwung hervorgebrachter Werke aus dem Gebiete der biblischen Apologetik und der vortrefflich gekannten Geschichte der ref. Kirche, aber nicht wegen seiner dogmatischen Stellung, die der Heppes ähnlich sich vergeblich mit dem Namen des „großen“ ref. Theologen Amyraut decken will, da dieser ja die Dordrechter Erklärung anerkannt hat. Amyraut war kein Synergist und Arminianer. In dem Kommentar von Ebrard zum Römerbrief waltet ein wilder Fanatismus gegen die freie Gnade. Heppe und Ebrard haben sich ihr Leben lang mit der ref. Lehre beschäftigt, aber den eigentlichen Herzschlag derselben: die freie Gnade, die grundlose Barmherzigkeit haben sie nicht verstanden. Beide stehen wie alle modernen Theologen mehr auf dem Standpunkt eines Pighius und Erasmus als eines Calvin und Luther. Sehr unnötig dabei ist aber die altreformierte Lehre gegen besseres Wissen zu fälschen. Man kann getrost unser Jahrhundert das der fortgesetzten theologischen Täuschung nennen. Die Prädestination ist die Grundanschauung nicht nur der ref. Dogmatik, sondern auch aller ref. Bekenntnisschriften. Die Conf. Helv. II bekennt mit der ganzen Kirche: „Der Glaube ist ein reines Geschenk Gottes, welches Gott allein aus seiner Gnade seinen Auserwählten nach seinem Maß und wann und wem und wie viel er selbst will, verleiht.“ Nur wer so lehrt, ist ref. Theologe. Weder a Lasco, noch Bullinger, der ja die Züricher Erklärung von 1561 unterzeichnet hat, noch irgend sonst jemand von Autorität hat wie Ebrard den freien Willen gelehrt. Auch die ref. Theologen beim Leipziger Gespräch bekennen die Electio ganz im Sinne Calvins, nur die Reprobatio fassen sie infralapsarisch. Die Verwirrungen Ebrards haben auch dem ref. Bunde geschadet, der neuerdings Calvinisten und Arminianer unter einer falschen Flagge segeln lässt. Die ref. Kirchenzeitung findet die Prädestination nicht im Heidelberger. Damit verlässt sie die Lehrtradition der ganzen ref. Kirche. Ebrard † 1888. Von ihm „Lebensführungen: In jungen Jahren“, 1888. Die Zeit von 1818 bis 1841. Vergl. Ref. Kirchenztg. in diesem Jahre. Der Schule Kohlbrügges reiht sich in seiner Stellung Karl Sudhof in Frankfurt a. M. († 1865) an, der dogmatisch und geschichtlich Vortreffliches geleistet und auch an dem Roman von Ebrard: „Einer ist Euer Meister“ wesentlich mitgearbeitet hat. Sein Buch: Fester Grund christlicher Lehre (1857) ist auch mit seinen Beilagen unentbehrlich. Gillet in Breslau († 1879), Dr. th. & ph. Karl Krafft und Geyser († 1878) in Elberfeld, Thelemann in Detmold, Cuno in Eddigehausen in Hannover, Dr. th. Emil Wilhelm Krummacher († 1886), Louis Bonnet in Frankfurt a. M. († 1892), Lic. th. F. W. Dilloo in Soldin († 1892), sind hier noch als gelehrte und eifrige Lehrer der ref. Kirche zu erwähnen. Der seit 1854 in Erlangen lehrende J. J. Herzog († 1882) hat mit Vorsicht und Gelehrsamkeit eine milde ref. Theologie vertreten, stets bemüht, in seiner Realencyklopädie ref. Erscheinungen zur Geltung kommen zu lassen. Eine der ausgezeichnetsten kirchengeschichtlichen Arbeiten hat K. B. Hundeshagen, in Bern, Heidelberg und Bonn Professor, († 1872) in seinen Beiträgen zur Kirchenverfassungsgeschichte (1864) geleistet; auch sein „deutscher Protestantismus“ erregte einmal (1849; 3. Auflage) die Teilnahme größerer Kreise. Riehm und Christlieb haben über ihn Mitteilungen gemacht (1873). Cuno hat mit vorzüglicher Kunde einen weiten Blick auf vergangene Herrlichkeit der ref. Kirche in dem Buche gegeben: Gedächtnissbuch deutscher Fürsten und Fürstinnen ref. Bekenntnisses, 1883 ff. Von ihm auch Franciscus Junius der Ältere, 1891. Man hat den großen Bremer Homileten Gottfried Menken106 († 1831) auch zu den ref. Theologen gerechnet, doch er verwirft die Genugtuungslehre und hat falsche Vorstellungen von der Heiligung, so dass einmal eine echt reformierte Frau des Wuppertals ihn mit dem ketzerischen Mystiker Collenbusch als Irrlehrer abwies. Wir erinnern hier auch an die ref. Göbel (Karl und Max). Von letzterem die Gesch. des christlichen Lebens in der rheinisch-westphälischen Kirche, 1859 ff.

Seit 1851 hatten wir eine Kirchenzeitung mit oft wertvollen Beiträgen, eine unentbehrliche Quelle: nach Daltons Betrachtung aus der Ferne: einsam dastehend, außerhalb des Hauses völlig unbekannt, wie tief im Walde verloren das baufällige Häuschen eines armen alten Forsthüters. Ritschl schrieb nach seiner Schablone eine Geschichte des Pietismus in der ref. Kirche und wusste nichts von der Kirchenzeitung. Etwas haben wir uns bei dieser Zurücksetzung doch in diesem Jahrhundert gewehrt. Wir erhielten unsere „Zentraldogmen“ dargestellt durch den Deterministen Schweizer, aber doch korrekt; unsere alten „Väter“ erschienen wieder auf dem Plane durch das Unternehmen von Hagenbach und anderen; wir feierten das Gedächtnis des Heidelberger Katechismus 1863 mit einem Predigtbuch und dem Lobe des Katechismus; wir erinnerten uns 1864 an Calvins Tod und er106 Sein Leben von Gildemeister, 1861. Über Bremer Verhältnisse in diesem Jahrhundert handelt S. Fr. Iken: Kirchliche Arbeiten in Br. in d. Jahrh., 1889. zählten von den Wohltaten der Réfugiés.107 Wir hatten auch zuweilen eine Konferenz und eine schwache Vertretung in den Konsistorien und im Oberkirchenrat (Snethlage); als in Frankfurt 1854 der abgefallene Sohn unserer Kirche F. W. Krummacher die ref. Kirche tadelte und ihr anriet, sich auf den apostolischen Amtsbegriff zu besinnen, da erhob sich am Schluss der redekundige, warmherzige Mallet aus Bremen, einer der wenigen treuen Lehrer unserer Kirche in diesem Jahrhundert, und zeichnete in seiner „den heiseren Löwen“ beschämenden Weise die ref. Kirche als eine arme, leidende, barmherzige, die nach einem reinen Herzen und nach Frieden trachte. Wir konnten kecklich rühmen, dass der brandenburgisch-preußische Staat eine Schöpfung Calvins sei108 aber was half es uns: Bei der in Worten brausenden Oktoberkonferenz in Berlin 1871 offenbarte Wangemann der Versammlung, dass alles, was jetzt in Deutschland gläubig sei, lutherisch wäre. Wir armen Reformierten hörten das mit dem Gefühl an, dass etwas Teures begraben werde, konnten aber mit dieser Allherrschaft des Luthertums uns nicht vereinen, wie gleich nachher gegenüber den Bedrängungen der Union Hofmann aus Erlangen seine Hoffnung darauf setzte, dass doch den Lutheranern der freie Himmel noch bliebe. Er selbst der seltsamste Vertreter des luth. Bekenntnisses. Die Rheinländer aber meinten, Wangemann kenne wohl nur Hinterpommern, wie einmal Scheibel nur Breslau kannte. Während die Kirche der Union sich die kirchlichen Verfassungsformen der ref. Kirche aneignete, sie mit fremden konsistorialen Einrichtungen verschmelzend, auch die calvinische Abendmahlslehre lieb gewann, bekämpfte sie doch überall die Prädestination, diesen heiligen, göttlichen Protest gegen alle den Menschen verherrlichende Systeme, die unser Jahrhundert erfüllen, in Schrift und Reformation tausendfach begründet, und in allen Zeiten religiöser Lebendigkeit behauptet, und tat nichts, ref. Besonderheiten zu pflegen. Versuchte sich einmal ein reformierter Theologe, es sei in Halle oder Göttingen, zu habilitieren, so wurde er mit Kränkung abgewiesen. Kritik und Unglauben ließ man üppig blühen. Dies bewirkte ein auffallendes Verschwinden ref. Kandidaten, die oft nur als ganz vereinzelte in großen Provinzen sich fanden, ließ die ref. Gemeinen verwaist dastehen und immer mehr abnehmen und erzwang zuletzt einen solchen Klageruf, wie er sich in der Schrift ausspricht: die Ursachen des Niederganges der ref. Kirche in Deutschland (1881). Die Union hatte für diesen Schmerz nur einige höhnische Bemerkungen, ohne Gefühl, dass sie da die Union kein Konfessionswechsel ist, namentlich den Boden der Berliner Domkirche mit Unrecht behaupte, denn mit welchem furchtbaren Ernst war diese einmal dem ref. Bekenntnis übergeben! Von Stöcker ist diese Gesetzlosigkeit als eine besondere Empfehlung der Union ausgeschrieben worden: sie färbe alles mild lutherisch. Die immer leerer werdende N. E. Kirchenzeitung hatte für alle ernsten ref. Bekenntnisse nur armseligen Spott. Ihr eigenes, ganz unevangelisches Bekenntnis, dass der Mensch die Gnade annehmen und verwerfen könne, illustrierten die Berliner kirchlichen Zustände. Als sich die Reformierten wieder im August 1884 in Marburg zu einem ref. Bunde aufrafften, nicht ohne die Teilnahme der großen Presbyterianischen Allianz des Auslandes, wurden sie von Kassel konsistorialisch angefahren, sich doch hübsch ruhig zu verhalten und der Redner des Tages konnte uns nur noch mit einem „Häuslein im Weinberg“ vergleichen, das aber große und wichtige Güter zu bewahren habe. Außer den bedeutenden Einflüssen von Kohlbrügge ist die Bildung einer synodalen Gemeinschaft in Hannover, die 1885 ihre erste ordentliche Gesamtsynode in Aurich unter dem geistigen Einflüsse des Generalsuperintendenten Bartels hielt, ein Lichtpunkt in der sonst vielfach dunklen und armen Gegenwart der ref. Kirche Deutschlands. Bartels sagte auf dieser Synode: „Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass auf den Landesuniversitäten sowohl außerhalb als innerhalb der Union das Bedürfnis der auf den Dienst an unseren Gemeinen sich vorbereitenden Studierten unberücksichtigt bleibt; was sich auf die reformierte Kirche und den Dienst in ihr bezieht, wird in der Regel ignoriert oder mit seltenen Ausnahmen schief und vorurteilsvoll behandelt“. Ein Ostfriese ruft auf einer synodalen Versammlung aus:
Ich habe auf der Universität nie etwas vom Heidelberger Katechismus gehört
. Nicht zu verwundern, da einmal A. Knapp in Stuttgart mit Staunen den Heidelberger findet und in eine Versammlung der Frommen bringt.109 In Anhalt,110 das nur noch in Köthen reformiert ist, erstrebt man zugleich mit dem Katechismus Luthers eine liturgische Einheit, doch nicht ohne lebhaften Protest; neuerdings ist der luth. Katechismus nicht als Bekenntnis aber als Lehrbuch eingeführt. In Niederhessen haben die Vilmarschen Einfälle und Gewaltstreiche verwirrend gewirkt und man will dort, um den Zustand auf eine entsprechende Formel zu bringen, eine ref. Kirche mit lutherischem Bekenntnis haben, obwohl der Rechtsstand nach dem Gutachten der Marburger theol. Fakultät vom Jahre 1885 außer allem Zweifel ist; in dem neuen Hessischen Ev. Kirchengesangbuch befinden sich keine Psalmen mehr und von reformierten Zeugnissen aus dem Lande hört man wenig, die Fakultät tut nichts für dasselbe. In Westfalen und Rheinland drückt der Kandidatenmangel; in der französisch-ref. Kirche Brandenburgs sind die Enkel der Hugenotten diesen wenig ähnlich und wie die Erinnerung an die Aufhebung des Ediktes von Nantes (1885) mit ihren erschütternden Märtyrerzügen in die Gegenwart blickte war derselben dies Leiden etwas Fremdes;111 die anderen hie und da wie vereinsamte Fähnlein noch bemerkbaren ref. Gemeinen kämpfen mühsam um ihre Existenz. Machte uns der Minister auf diesen und jenen ref. Professor in Preußen aufmerksam, so sagten wir: er sei nicht echt in der Farbe. Lic. Tollin, der Schwärmer für Servet, gründete einen Hugenotten-Verein, der auch nur Geschichtsblätter bot und Bücher sammelte. Gleich nach Beginn seiner akademischen Tätigkeit stirbt der gelehrte ref. Usteri in Erlangen.112

In Halle ist ein ref. Seminar gebildet worden. Der Lehrstuhl in Erlangen ist mit A. Müller nach langem Warten besetzt worden. Der Gegensatz des Luthertums wird oft noch so stark betont, dass nach den Augustkonferenzen in Berlin die ref. Kirche nicht die rechte Gotteserkenntnis habe und eigentlich auf deutschem Boden gar nicht zu existieren sich erfrechen sollte113 aber man bedenkt nicht, dass der Niedergang des Calvinismus in Deutschland der Niedergang des Protestantismus ist, an dessen Tore Rom mit Hohn und Verachtung klopft. – Es war erhebend, als bei der Feier des 200jährigen Bestehens der französischen Kolonie in Berlin (gegenwärtig 4894 Seelen) der Magistrat der Stadt dieselbe mit den Worten dankbar begrüßte, dass nach ihrem Vorbilde der Verfassung sich die
evangelische Landeskirche eingerichtet habe. Aber sonst sind wir weder reformiert noch lutherisch, sondern moderne Leute, die an die Stelle der Freiheit der Gnade die Freiheit des Menschen gesetzt haben. Unser scheinbarer Konfessionalismus ruft ein Altertum des Glaubens hervor, das uns und unseren Gemeinen als ein Anachronismus erscheinen muss. Still nach der prunkenden Lutherfeier ging der Tag Zwinglis (1. Januar 1884) über den deutschen Boden; Süddeutschland und Hessen verdanken ihm doch viel. In Straßburg ehrte ihn wenigstens Krauß mit einem guten Vortrag und in Tübingen, der Schreiber mit einem über Zwinglis Verdienste um die biblische Abendmahlslehre. Man scheint vergessen zu haben, dass Zwingli die große Entdeckung der symbolischen Form des Abendmahls gemacht hat. Wohltätig ist in der letzten Zeit die Arbeit eines ref. Schriftenvereins in Barmen, der manches gute Buch vor der Vergessenheit bewahrt. Sonst aber ist unsere Zeit nicht berufen, die ref. Kirche zu erneuern, oder wie man stolz sagt: wiederzuleben. Sie, die heilige Kirche der Märtyrer, hat eine Zeit lang auch Deutschland ihre reine Lehre und Zucht, ihr oft tränenreiches, leidendes Gesicht gezeigt, jetzt hat sie sich verhüllt und zurückgezogen: keine menschliche Hand wird ihre Decke heben und sie wiederbringen. Die wenigen reformierten Lehrer, die es in Deutschland noch gibt, stehen in enger Verbindung mit der deutsch-ref. Kirche von Amerika. Diese ist nach der Statistik von 1890 vereinigt unter einer Generalsynode, 8 Distriktssynoden und 56 Klassen; die Zahl ihrer Prediger beträgt 835, ihrer Gemeinen 1555, ihrer Glieder 200 498, noch nicht konfirmierte Glieder zählt sie 112 486; 59 008 Taufen wurden vollzogen; an der Feier des hl. Abendmahles beteiligten sich 155 118 Glieder; für wohltätige Zwecke wurden gesammelt Doll. 161 078, und für Unterhalt der Gemeinen die Summe von Doll. 874 053. Die Kirche hat drei theologische Seminare, von denen eines deutsch ist, und außerdem eine Anzahl Kollegien. Organ ist die ref. Kirchenzeitung in Cleveland. Redaktor Dr. th. L. Praikschatis. Man zählt 8 Millionen Reformierte auf dem Kontinent, 20 Millionen in der Welt. Vergl. Appendix bei Good, The Origin of the ref. Church in Germany, 1887.

103 F. A. Krummacher und seine Freunde von Möller. 1849. Unser Großvater. Ein Lebensbild von Maria Krummacher, 1890.
104 Über sie in den Frauenbriefen von A. Zahn. 1862. und in den Mittheilungen aus dem Leben desselben, 1885.
105 Mitteilungen aus seinem Leben habe ich in der zweiten Ausgabe seiner biblischen Dogmatik gegeben, 1884. Die Literatur Kohlbrügge betreffend findet man in dem Buche von mir: „Aus dem Leben eines ref. Pastors“. 2. Aufl. 1885. Nippold hat Kohlbrügge zu einem Neo-Coccejaner gemacht: ein Beweis, dass er nichts von ihm verstanden hat. Noch plumper und roher urteilt Ritschl aus unreinen Quellen.
106 Sein Leben von Gildemeister, 1861. Über Bremer Verhältnisse in diesem Jahrhundert handelt S. Fr. Iken: Kirchliche Arbeiten in Br. in d. Jahrh., 1889.
107 Vergl. die Schrift von mir: Die Zöglinge Calvins in Halle a. d. S. 1864.
108 Vergl. die Schrift von mir: Der Einfluss der ref. Kirche auf Preußens Größe, 1871.
109 Welche Mängel beeinträchtigen die theoretische und praktische Ausbildung der Diener der ref. Kirche auf deutschen Universitäten, von Stockmann, 1877.
110 Vergl. meine Schrift: Das gute Recht des ref. Bekenntnisses in Anhalt, 1866. A. Müller, Die ev. Landeskirche des Herzogtums Anhalt und d. luth. Katechismus, 1889. H. Dunker, Anhalts Bekenntnissstand, 1892 (Fälschung). Gerh. Heine, Die Katechismusfrage in Anhalt, 1890. Allihn, Alt oder Neu? 1892.
111 Schott, Die Aufhebung des Ediktes von Nantes, 1885. Muret, Gesch. der französischen Kolonie in Brandenburg Preußen, 1885.
112 Ein Lebensbild von ihm im Züricherischen Ev. Wochenblatt, 1890. Nr. 25 und 26.
113 Vergl. von mir: Sendschreiben an Herrn Professor Sohm, 1882.
Das Pferd wird gerüstet für den Tag des Kampfes, aber der Sieg kommt von dem HERRN. Spr. 21,31

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A. Zahn"Abriss einer Geschichte der evangelischen Kirche auf dem europäischen Festlande im neunzehnten Jahrhundert"

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A. Zahn" Abriss einer Geschichte der evangelischen Kirche auf dem europäischen Festlande im neunzehnten Jahrhundert"

13. Der Kampf mit Rom.(Teil.1)

Literatur: Nippold, Geschichte des Katholizismus, seit der Zeit der Restauration des Papstthums, 1883.

Obwohl die Schilderung des furchtbaren Wachstums der Macht Roms in die Geschichte der katholischen Kirche gehört, so haben wir doch hier einen kurzen Blick auf das Tun der evang. Kirche gegenüber dieser unerhörten modernen Erscheinung zu tun. Es zeigt sich gerade hier, wie wenig ernst und tief man zur Reformation zurückgekehrt war, denn evangelische Fürsten, Staatsmänner und Theologen erleiden nur Niederlagen. Unser Jahrhundert in der Zeit der Konkordats Verhandlungen hatte bei seinem Beginn in der ersten Auflage der Geschichte der Päpste von dem großen Ranke in der Vorrede die vollkommen blinde Bemerkung: „Die Zeiten, wo wir etwas fürchten konnten, sind vorüber“. Niebuhr aber hatte schon früher von der sinkenden Macht des Papsttums geredet. Nach dem Tode Leos XII. dachte Bunsen nur zuweilen an die Gefährlichkeit Roms in schlaflosen Nächten. Es folgte der Triumph über die preußische Regierung in dem Kölner Kirchenkonflikt wegen der gemischten Ehen; die ideal träumerischen Worte die Friedrich Wilhelm IV. bei der Grundsteinlegung des Kölner Domportals sprach: über Deutschland, über Zeiten rage, reich an Menschenfrieden, reich an Gottesfrieden, bis ans Ende der Tage zeigten nicht, dass man etwas gelernt habe.
Er hatte die unglückliche katholische Abteilung im Kultusministerium eingerichtet. Die Römlinge singen noch heute sein Lob. In Rheinland und Westfalen mehrten sich die Klöster: Zwingburgen des Wahnes.114 Der Sturm von 1848 ließ die Konservativen erlogene Hilfe bei Rom suchen. Die wankenden Throne glaubten hier Stütze zu haben. Eine Reihe von Konvertiten aus fürstlichen und adeligen Häusern, Gelehrte und Schriftsteller betraten die „Wege nach Rom“. Später fiel sogar die Königin Witwe in Bayern, die Tochter der edlen Prinzess Wilhelm von Preußen, durch die plumpe List eines Bauernpfarrers ab. Als eine Schmerzensmutter erwählte sie die schmerzhafte Himmelskönigin zu ihrer Patronin, doch konnte sie das grauenvolle Schicksal ihrer Söhne nicht abwenden und suchte vergeblich Trost in einer Wallfahrt nach Einsiedel und in einer Sühnkapelle an der Stätte, wo der See den wahnsinnigen Herrscher verschlungen. Das falsche Luthertum entließ manchen seiner Schüler in die „Objektivität“ Roms. Der liberale Pius IX. war gedemütigt bald ganz das Werkzeug der Jesuiten geworden. Was geschah von evangelischer Seite, als nun das Dogma der unbefleckten Empfängnis die Reihe der eitlen ruhmrednerischen Seligsprechungen vollendete? Friedrich Wilhelm IV. sagte: „Ist die ev. Kirche nicht zur Ruine geworden, so muss sie bei dieser Gelegenheit Zeugnis von ihrem Glauben ablegen. Wir müssen den Moment zu den heiligsten und aller rechtmäßigsten Eroberungen benützen. Die gesamte ev. Kirche muss sprechen und bekennen. Der deutsche Evangelische wird mit seiner deutschen Taktlosigkeit, Plumpheit, Glaubenslosigkeit, Romanismus, Rationalismus, die Irvingerei und Baptisterei werden die heilige Sache in wenig Monaten gründlich verpfuscht haben, dass Rom vor Wonne brüllen wird. Das einzige Resultat wird protestantische Schmach und Schande sein.“ Dazu kam es dann auch. Der König konnte so wenig die gesamte evangelische Kirche zu einer Tat bewegen, dass er selbst in Berlin kein Verständnis fand. Die Mariensäulen erhoben sich überall ohne alle Hinderung. Der eine Sieg feuerte zu einem anderen an. Die Jesuitenherrschaft war inzwischen in Rom eine allmächtige geworden. Zwar das badische, das württembergische Konkordat zeigte eine mannhafte deutsche Erhebung, die den Fall derselben brachte aber in Berlin ging man in Unkenntnis des Feindes weiter. Die Maulwurfsarbeit blühte; der Syllabus erklärte jeden Protestanten ohne das Wohlgefallen Gottes. Man rüstete den Entscheidungskampf auf märkischem Sande. Preußen wurde als der Hort des Protestantismus mehr als je ins Auge gefasst. Der Sieg von 1866 war von religiösen Interessen getragen. Die katholische Vormacht Deutschlands war nach Gottes Willen geschlagen worden. Man suchte neue Stärkung und die Eitelkeit des Papstes setzte die Unfehlbarkeitserklärung in Szene. Allein der Katholik Fürst Hohenlohe in München sah das kommende Unwetter. Die Völker der Reformation schliefen. Ihre Theologen beschäftigten sich mit der Kritik des Pentateuch. Doch hat der Ev. Oberkirchenrat, als sich der Papst an alle Protestanten wandte, eine schwächliche Zirkular-Verfügung an die Konsistorien erlassen (Oktober 1868). Einige waren dankbar, dass er überhaupt den Mund geöffnet habe. Julius Müller in dem Vorwort zu seinen dogmatischen Abhandlungen 1870 fürchtete nichts von den Katholiken, mit denen er sich in einer höheren Einheit verbunden fand. So äußerte damals sich Halle-Wittenberg, von wo man jetzt in völliger Ohnmacht lärmt. Unfehlbarkeitserklärung und Kriegserklärung fielen auf einen Tag: den großen 18. Juli 1870. Noch am 20. Juli war für Bismarck die Infallibilität ohne Interesse, auf die doch der Gesandte von Arnim so besorgt blickte. Der Krieg war ein Werk der Jesuiten durch die Kaiserin Eugenie gegen den überwältigten Napoleon. „C’est ma guerre“.115 Man wollte nun auch einen politischen Sieg. Gottes Macht wandte Rom zum Unheil, was es brütete. Das Evangelium siegte bei Gravelotte und Sedan in glanzvoller Herrlichkeit, obwohl die Soldaten kaum ahnten, als sie am blutigen Abend: Nun danket alle Gott anstimmten, wofür sie eigentlich zu danken hatten. Sie feierten unbewusst einen Triumph des evangelischen Liedes. Eine großartige Sühne war für die Selbstvergötterung des römischen Herrn geschehen. Auch für die Ludwigs XIV., denn im Schloss von Versailles rief man den zum Kaiser aus, dessen Vorfahren prätendierten, reformiert zu sein. Welch eine Wendung durch Gottes Führung! Zwanzig Tage nach Sedan war auch die weltliche Herrschaft des Papstes in Rom zerstört: der Unfehlbare ein Gefangener im Vatikan. Die zertretene Schlange nahte sich darauf gleich dem gefürchteten Adler, um nun schlau unter seinen Fittichen Hilfe zu suchen. Der von Gott emporgetragene Fürst verstand es noch nicht, dass er namentlich auch Rom geschlagen habe. Erzbischof Ledochowski aus Posen, eine persona gratissima am Berliner Hofe, der einst mit Hilfe der Königin die Einrichtung von Nonnenklöstern in Posen gegen die Bemühungen des Finanzministers v. d. Heydt durchgesetzt hatte, erschien, um für den Frieden zu wirken. Auch Antonelli rüstete sich zur Reise. Im Februar 1871 empfing der erste evangelische Kaiser eine Adresse, welche die Maltheser und viele andere Adelige zu Gunsten des heiligen Vaters nach Versailles brachten. Er erklärte: er sehe in der Besitzergreifung Roms einen Gewaltakt. Pius sagte darauf dem Kaiser seinen Dank für den Ausdruck der Freundschaft und erbat von Gott, dass er den Kaiser mit ihm durch das Band vollkommener Liebe verbinde. Rom zeigte sich indessen ohnmächtig, als es die französischen Bischöfe beeinflussen sollte. Damals, im März 1871, hat der ref. Presbyter Daniel von der Heydt an den Kaiser geschrieben: „Je völliger, je lauterer Eure Majestät den Verkehr mit dem römischen Papste, geschweige eine offene oder geheime Unterstützung seiner weltlichen oder geistlichen Macht als protestantischer Kaiser und König in der Furcht Gottes, heimgekehrt als der von dem großen Kurfürsten im Geist durch göttliche Offenbarung gesehene Rächer, von sich weisen, um so herrlicher wird sich der Gott Ihrer Väter zu Ihnen bekennen.“ Es erfolgte die Bildung des Zentrums, die Erweckung einer überall verbreiteten ultramontanen Presse, an ihrer Spitze die Germania, nach dem Mailänder Katholikenblatt ein Schwindelblatt, das den Strick verdient, und die Gesetzgebung von Bismarck und Falk.116 Wenn irgend eine Erscheinung in diesem Jahrhundert das ganze Jahrhundert charakterisiert hat, so der Kampf, den der Unglaube eines Virchow frivol genug den „Kulturkampf“ genannt hat. Er ging von der gerechten Empfindung des preußischen Staates, als einer Schöpfung der Reformation, aus, dass durch die Unfehlbarkeitserklärung die Grenzen zwischen Staat und Kirche verrückt seien, dass in dieser Welt der Staat den Vortritt vor der Kirche habe, die dadurch, dass die beiden katholischen Mächte geschlagen waren, die Ruhe völlig verloren hatte und nun in einer politischen, mit lauter antinationalen Kräften durchsetzen und unter der Leitung des schlauen, Preußen hassenden Welfen Windthorst stehenden Partei, die Antonelli nicht reichsfreundlich stimmen mochte, verlorenes Gebiet wieder erobern wollte. Der Kampf ist durchzogen worden von lauteren evangelischen Bekenntnissen, die, weil so selten in unseren Tagen, namentlich aus dem Munde der Großen, der Aufbewahrung wert sind. Am 7. August 1873 schrieb Pio Nono an den Kaiser: „Jeder, der die Taufe empfangen hat, gehört in irgend einer Hinsicht dem Papste an“, und er erhielt am unvergesslichen 3. September 1873 die wahrhaft kaiserliche Antwort: „Der evangelische Glaube, zu dem ich mich, wie Eurer Heiligkeit bekannt sein muss, gleich meinen Vorfahren und mit der Mehrheit meiner Untertanen bekenne, gestattet uns nicht, in dem Verhältnis zu Gott einen anderen Vermittler als unseren Herrn Jesus Christum anzunehmen.“ Bei der Aufhebung des Jesuitenordens 1875 sagte der Kaiser: „Ich glaube die Mission von oben dazu zu haben.“ Als das englische Volk dem Streite zujauchzte, hat Kaiser Wilhelm am 18. Februar 1874 an Lord Russel geschrieben:
Mir liegt die Führung in einem Kampfe ob, welchen schon frühere deutsche Kaiser Jahrhunderte hindurch mit wechselndem Glück gegen eine Macht zu führen gehabt haben, deren Herrschaft sich in keinem Lande der Welt mit dem Frieden und der Wohlfahrt der Völker verträglich erwiesen hat, und deren Sieg in unseren Tagen die Segnungen der Reformation, die Gewissensfreiheit und die Autorität der Gesetze nicht bloß in Deutschland in Frage stellen würde.


Am 15. April 1875 hat Bismarck im Herrenhause gesagt:
Endlich habe ich einmal aus der konservativen Seite des Hauses ein freies, fröhliches Bekenntnis zu unserem Evangelium der Reformation gehört. Es ist sehr gefährlich, wie v. Kleist-Retzow tut, nur immer von einer ‚Kirche‘ zu reden. Viele meiner alten Freunde kommen dahin, in krypto-katholisierender Richtung alles, was unserem vorwiegend evangelischen Staate feindlich geworden oder geblieben ist, als Freund und Bundesgenossen zu betrachten. Man sagt sich damit los von der Treue gegen König und Vaterland, von dem Evangelium. Folge ich dem Papst, geht für mich die Seligkeit verloren; der Papst hat sie für mich nicht. Er ist auch nicht in dem Sinne, wie der Graf v. Brühl andeutete, der Nachfolger Petri; Petrus war nicht unfehlbar, er sündigte, er bereute seine Sünde und weinte bitterlich über sie; von dem Papste, glaube ich, dürfen wir das nicht erwarten.
Neben diesen evangelischen Worten sind dann auch viele andere verhängnisvolle gesprochen worden, wie das berühmte am 14. Mai 1872: „Nach Canossa gehen wir nicht“; wie das über die vom Kronprinzen im Schreiben an den Papst (10. Juni 1878) hervorgehobene Unmöglichkeit, die Gesetze Preußens nach den Satzungen der römisch-katholischen Kirche abzuändern; wie jenes nach vielen Friedensverhandlungen und Zugeständnissen, als man schon ganz auf schiefer Ebene war, dass man jetzt auch keine Handbreit mehr nachgeben wolle (1885). Der Kampf ist begleitet worden von der Offenbarung der vollkommenen Gesetzlosigkeit des Menschen der Sünde in Rom, der schon den Stein sich lösen sah, der den Koloss zertrümmern werde, und in Bismarck den neuen Attila erblickte, von dem Attentat in Kissingen, das sich an die Schöße des Zentrums hing, von dem Aufstand und Ungehorsam der Bischöfe; auf protestantischer Seite von der treulosen Fahnenflucht der evangelischen Konservativen, die mit dem Papst das Christliche retten wollten und in allen ihren Blättern von der Kreuzzeitung ab bis zu der Allgem. Ev. Luth. Kirchenzeitung und den frommen Blätter in Schwaben den Kulturkampf in Verruf brachten als den Untergang aller Religion; von der Frivolität der Freisinnigen, die die glückliche Zeit gekommen sahen, da jede Kirche als Inhaberin einer Wahrheit beseitigt werde, und die sich über die Jagd des Schwarzwildes vergnügten: doch nur mit ihrem lauten Geschrei „wie ein zirpendes Heimchen vor den Mauern des Vatikans“. In eherner Einheit blieben allein die Päpstlichen, die mit jedem Jahr in den parlamentarischen Kämpfen an Einfluss gewannen bis zur völligen Herrschaft. Es sind die größten Missgriffe gemacht worden, indem man auch der evangelischen Kirche einen Teil der Gesetze gegen Rom auflud in falscher Parität, indem man eine nationale Erziehung und einen staatlichen Schutz des Klerus erzwingen wollte, indem man in das Gebiet der Messe und Sakramentsspendung eingriff und das katholische Volk empörte – indem man von vornherein nicht erkannte, dass der Protestantismus der Gegenwart waffenlos gegen Rom und die stumpfeste Waffe ein geehrter Liberalismus ist. Kaiser und Kanzler waren zuletzt Heerführer ohne Heer, und von den hohen Idealen des Anfangs sank man zu einem kleinlichen Feilschen um gewisse Vorteile pari passu herab, verließ die großen Positionen, um andere Pläne durchzuführen und wollte ebenso gewaltig, wie man zugegriffen, jetzt mit allen Mitteln den Kulturkampf aus der Welt geschafft wissen. Da war die Zeit für den friedliebenden Leo XIII. gekommen, der (nachdem er sich von dem Eindruck des geheimnisvoll schnellen Todes des wohlwollenden Kardinals Franchi [1. August 1878] erholt hatte) in dem kleinen Finger mit mehr Schlauheit begabt als sein plumper Vorgänger in seiner ganzen Person hatte, in diplomatischen Bemühungen zuletzt den vollen Sieg errang und durch seinen „jesuitischen Versucher“, den Bischof Kopp, im Herrenhause das als einen giftigen Mehltau erklären ließ, was einst der evangelische Kaiser im festen Vertrauen auf Gottes Hilfe aufgerichtet hatte. Es waren wieder Maitage (1886), als die Maigesetze von 1873 und ihre Nachfolger bei großer Heuchelei auf beiden Seiten stürzten. Die souveräne „Wurschtigkeit“, die sich überstürzende Schnelle,117 in der das geschah, konnten selbst die nicht mehr bewundern, die sonst alles bewunderten. Der kleine Welfe hatte doch alles erreicht. Seit 15 Jahren wollte der Kanzler nur Fehler in dieser Sache gemacht haben; der Strahlenkranz wurde mit eigener Hand zerrissen. Der Realpolitiker nahm bei dem starken Friedensbedürfnis des alten Kaisers die Lage, wie sie war: gegen Rom haben wir keine Macht als die des Vertrauens auf einen friedliebenden Papst. Der Eitelkeit desselben hatte man schon geschmeichelt, indem man ihn zum Schiedsrichter in der Frage der kümmerlichen Karolinen (eine Lumperei) machte, was dann zur Folge hatte, dass der „antichristliche“ Bismarck den Christusorden bekam. Nach dem verlogenen Friedensschluss wurde der Papst durch ein kostbares Pektorale geehrt, das ihm Kaiser Wilhelm sandte, und Bischof Kopp empfing von der von ihm verherrlichten Kaiserin Glasfenster mit Bildern von der h. Elisabeth. In aller Stille hatte die einflussreiche Frau schon vorher die goldene Rose vom Papst empfangen. Ein allgemeiner Schrecken ergriff nun diejenigen, die noch evangelisch empfanden. Selbst den ärgsten Schmähern des Kulturkampfes wurde es bange. Rom stand da in dem Staate der Reformation stärker als je, reichlich dotiert, ganz unabhängig in der Erziehung seines Klerus, mit devoter Begrüßung seiner neu ernannten Bischöfe, gnädig konnte man nun die noch deutungsfähige Anzeigepflicht zugestehen und von den beiden souveränen Gewalten auf Erden reden: erst dem Papst und dann dem Kaiser. Die alte Stadt am Rhein feierte dann in unerhörtem Bausche den Einzug ihres neuen Erzbischofs. So jammervoll war die Ordnung Gottes, der Staat, gegen die Anmaßung der römischen Hure unterlegen: ein bezeichnendes Ende dieses stolzen und doch so leeren Jahrhunderts. Die Norddeutsche Allgemeine Zeitung, als Organ des Kanzlers geachtet, warf zuletzt das leichtfertige Wort hin: Das katholische Dogma von der Unfehlbarkeit ist nicht Etwas, wodurch das protestantische Bewusstsein belastet wird (18. Juli 1886). Bald nach der Niederlage Preußens offenbarte sich der Mann des Vertrauens in Rom als der, der den Jesuitenorden, „diesen Diener der Gerechtigkeit“, wieder in alle seine Rechte einsetzte. Erschreckender noch als die Niederlage war der Ruin alles Charakters und sittlichen Urteils, der an den Tag trat. Die Konservativen konnten nicht eilig genug dem Staate bei seinem verhängnisvollen Schritte helfen, die Freisinnigen setzten sich schamlos auf den Schoß von Windthorst, ein wenig würdig benahmen sich allein die Nationalliberalen, doch fanden auch sie zuletzt den Kulturkampf abgeschmackt. Der große Streit erschien als ein Spiel der Politik und Diplomatie. Man will einen Moment gewinnen und verdirbt die Zukunft. Preußen wird nie mehr Rom angreifen. Es hat eine zu furchtbare Lehre empfangen, denn welcher Kluge fände im Vatikan nicht seinen Meister?

Unser Jahrhundert hat keinen Beruf, etwas für die Ehre Gottes zu tun. In der Zukunft wird sich das deutsche Leben in einen faden Liberalismus und wilden Sozialismus, die verkommenen Söhne des Protestantismus, und in einen mehr als je weltmächtigen Ultramontanismus scheiden. Bald zeigte sich auch, dass der Reichskanzler mit seinen Zugeständnissen nichts gewonnen hatte: das Zentrum blieb das Zentrum, selbst durch und durch verlogen, als der Papst gegen dasselbe zu Hilfe gerufen wurde: der Mann, dessen Programm dem des Staates schnurstracks entgegensteht und der, wenn er zur Herrschaft käme, vollständig mit der evang. Mehrheit in Preußen aufräumen müsste (Bismarck 16. April 1875).
Die Herrschaft des Diplomaten in der Tiara ist ein gerechtes Gericht über das protestantische Deutschland. Als ein kleiner Trost fiel in die verworrene Lage die frische nationale Erhebung bei den Wahlen Februar 1887. Der römische Klerus befand sich dabei von den Vogesen bis zur russischen Grenze in vollem Aufstand wider Kaiser und Reich und selbst gegen den Friedenspapst. Dieser empfing eine Öffentliche Belobung vor dem Reichstag. So stand die Lüge geschmeichelt da. Welch ein fremdes Gesicht machte doch das Preußen, dem Friedrich d. Gr. einst gewünscht hatte, dass es die protestantische Religion in Europa und in dem Reiche zur Blüte bringen sollte! Als im März 1887 Rom das letzte zurückerobert hatte und Bismarck, wie er sagte, einen ehrenvollen Frieden geschlossen, der auch die Seelsorgeorden zurückkehren ließ, da gab man im Schloss der Hohenzollern den päpstlichen Delegierten Galimberti in langem braunem Gewande, geschmückt mit dem roten Adlerorden 1. Klasse an dem 22. März (dem Tage, wo Gott das Siegel auf alle seine Wohltaten am Hause Brandenburg drückte), als einen Gegenstand allgemeiner Auszeichnung, während man in eben dieser Zeit den bescheidenen Bitten der ev. Kirche kühl bis ans Herz heran gegenüberstand.
Die Täuschung des Friedens wird noch größer sein als die des Streites. Die schließlich anerkannte Anzeigepflicht mit dem Einspruchsrecht für fest angestellte Pfarrer war „keinen Pfifferling wert“. Am Ende war der ganze Kampf nur ein Zwangsmittel gegen das Zentrum gewesen: der religiöse Gedanke war ganz erstorben. Es liegt in dem Geschehenen ein heiliger Pragmatismus: 1870 und 71 zeigten die Taten der freien Gnade Gottes gegen die unfehlbare Lüge: die Folgezeit das Tun der Menschen. Nachdem sich Preußen mit dem Vatikan versöhnt hatte, taten dies auch Hessen Darmstadt und Baden. Trotz alledem tobte die Katholikenversammlung in Trier (1887) in alter Frechheit, doch wartete sie auf ein großes Weltereignis, um den umgenähten Rock auszustellen. Zu dem Jubiläum des Papstes schickte man auch von Berlin Bischofsmütze und Messgewand. Will die protestantische Kritik, die die Bibel zerstört, ihre völlige Ohnmacht erkennen, so kann sie dies an der die Völker bezaubernden Finsternis Roms. Was vermag sie gegen dieselbe? In Süddeutschland lassen die geduldigen Schwaben von Rom sich friedlich ruhig scheren,118 (in einer einfachen Frage über die Schulinspektion unterlagen die Prälaten gegen Rom, dem auch der jetzige Regent zu Hilfe kam), während am Rhein die gemischten Ehen das reiche Land in die Fesseln des Papstes schlagen.119 Von 1880 an haben sich die Mitglieder der krankenpflegenden Orden von 5000 auf 7000 vermehrt. Allein 108 ultramontane Blätter zählt man in Rheinland-Westfalen. Seit 16 Jahren hat sich die römische Presse so entwickelt, dass in Preußen fast jede katholische Provinzialstadt ihr Blatt hat. 1876 zählte man 140 Zeitungen in Preußen, 1881 mehr als 200.120 Neuerdings hat das Aufhören des Kulturkampfes auch den Einfluss der römischen Presse vermindert. Dem westfälischen Bauernkönig v. Schorlemer-Alst schließt sich nicht nur die Gefolgschaft des katholischen Münsterlandes, sondern auch der protestantischen Grafschaft Mark an. Selbst in der evang. Provinz Sachsen ist die Lage der Mischehen eine traurige. Die Macht Roms ist das Gericht über die Kritik der heiligen Schrift. Sehr zu rühmen sind die polemischen Arbeiten von Nippold, Tschackert, Warneck und dem Neapolitaner Trede (Das Heidentum in der römischen Kirche, 1891), auch die wertvollen Arbeiten des Vereins für Reformationsgeschichte. Letzterer hielt 1886 seine erste Generalversammlung in Frankfurt a. M. mit 150-160 Besuchern. Unsere Geschichte sollten wir doch wenigstens vor den Lügen Roms retten! 1887 stiftete man einen evangelischen Bund gegen Rom. Man rühmte laut: der Herr ist in unserer Mitte. Als er „das evangelische Berlin“ aufrief, versammelten sich „beinahe 200 ausgezeichnete Männer“. Bei der ersten Generalversammlung in Frankfurt a. M. zählte er 10 000 Mitglieder. Er wuchs bis 74 000 Mitgliedern (1891) und unterstützte das Bundesdiakonissenhaus in Schwäbisch Hall. Viele Flugblätter und die Kirchliche Korrespondenz von Brecht (23 000 Ex.) gingen von ihm aus.
zu.114 Hinschius, Die Orden und Kongregationen der katholischen Kirche in Preußen, 1874.
zu.115 An English in Paris, 1892. Sie sah in Preußen die Vormacht des ihr verhassten Protestantismus
zu.116 An English in Paris, 1892. Sie sah in Preußen die Vormacht des ihr verhassten Protestantismus. Kulturk. in Pr., 1881. Wiermann, Gesch. d. Kulturk., 1886. Hahn, Fürst Bismarck, 1878 ff. Bismarck nach dem Kriege, 1883. Gegen Hahn F. X. Schulte, Geschichte der ersten sieben Jahre des preuß. Kulturk., 1879 und 1882. Ketteler, Die Anschauungen des Kultusm. Falk, 1873. Majunke, Gesch. d. Kulturk. in Preußen-Deutschland, 1886. Ein kurzer Abriss bei Hase, Lehrb., S. 690 ff.
zu.117 Das preußische Kirchengesetz vom 21. Mai 1886 von Hinschius, 1886. Derselbe hat auch Kommentare zu den übrigen Kuchengesetzen gegeben.
zu.118 Vergl. die Schrift von mir: Die ultramontane Presse in Schwaben, 1885. Von Pfarrern in Württemberg erscheinen jetzt Mitteilungen über die konfessionellen Verhältnisse im Lande, 1886 ff.
zu.119 In der Rheinprovinz wurden von 9750 in gemischten Ehen geborenen Kindern 3907 ev. getauft, von 2657 Paaren 1171 ev. getraut. In ganz Preußen steht das Verhältnis zu Gunsten der ev. Kirche. 55 Proz. der Kinder aus den Mischehen prot., nicht ganz 45 Proz. kath.
zu.120 Die Pressverhältnisse im Königreich Preußen von Woerl, 1881.
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Das Pferd wird gerüstet für den Tag des Kampfes, aber der Sieg kommt von dem HERRN. Spr. 21,31

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A. Zahn" Abriss einer Geschichte der evangelischen Kirche auf dem europäischen Festlande im neunzehnten Jahrhundert"

Beitrag von Joschie »

13. Der Kampf mit Rom.(Teil.2)

Das Jahr 1887 schloss in den Weihnachtstagen auch in Deutschland mit der glänzenden Feier des 50jährigen Priesterjubiläums des Papstes. Eine ernstere Feier war es, als der große Hohenzoller in Berlin entschlief: wie ein ergreifendes Abendläuten ging es durch die ganze Welt. Selbst die Römischen wagten es nicht, ihm die Seligkeit abzusprechen. Viel konnte das deutsche Volk lernen, als neben Wilhelms Frieden das tiefe Leid von Friedrich trat. In beidem Gottes sichtbare Hand. Als der Papst an Kaiser Friedrich ein Beileidsschreiben richtete, bestand seine Betrübnis darin, dass er nicht wenige und nicht geringe Beweise der geneigten Gesinnung von Kaiser Wilhelm empfangen habe und nicht geringere für die Zukunft erhoffe. Der Schlusssatz stellte dann noch das „Uns“ des Papstes vor die kaiserliche Majestät. Galimberti wurde mit dem Schreiben ehrenvoll in Berlin aufgenommen. Der Kultusminister von Gossler konnte ihm mitteilen, dass schon 4000 Ordensmitglieder beiderlei Geschlechtes nach Preußen zurückgekehrt seien. Als sich auch die Ultramontanen an die Schöße der Kaiserin Friedrich hängen wollten, hielt es Bismarck für gut, in den katholischen Osservatore Romano eine Notiz einfließen zu lassen, welche die Kaiserin einmal Renan in einer Unterredung ihre Übereinstimmung aussprechen ließ. Kaiser Wilhelm II. sprach in der Thronrede seine Befriedigung aus, dass die Beziehungen des Staates zur kath. Kirche in einer für beide Teile annehmbaren Weise sich gestaltet hätten. Er werde den kirchlichen Frieden im Lande zu erhalten bemüht sein. Rom sah dies als ungenügend an. Während auf dem Katholikentag in Freiburg der Zauber der römischen Geschlossenheit lag, bot die evang. Kirche in der Berufung A. Harnacks nach Berlin und in der Demütigung des Oberkirchenrates in dieser Sache das Bild beschämender Ohnmacht. Der Staat drang der Kirche einen Irrlehrer auf. Die katholischen Bischöfe hielten es bei den bevorstehenden Wahlen für den preußischen Landtag für gut, sich offen für das Zentrum auszusprechen und die Geistlichen mit dürren Worten zur Wahlagitation zu treiben. Dabei waren die Zänkereien in dem Falle des Pastor Thümmel nicht sehr erbaulich: der junge Held besaß viel Tapferkeit, doch wenig Weisheit. Es war ein Glück, dass die Begegnung des Kaisers mit dem Papste (Sept. 1888) der Kurie eine gewisse Enttäuschung brachte: selbst formell trat ein harter Zug in die gemachte Sache. Die Gießener Theologen machten sich zum Schluss des Jahres noch lächerlich, indem sie Bismarck zum Ehrendoktor der Theologie ernannten; da er nicht für Spekulation sei, so wäre er eigentlich auch ein Ritschlianer. Als der Kanzler in seinem Dankschreiben die bekannte Schmähsucht Gießens Duldsamkeit nannte, erstaunte man ebenso sehr, als dass er vom praktischen Christentum sprach, in dem Gießen unfruchtbar ist. Man konnte nun den Doktor in Friedrichsruh mit dem Doktor in Wittenberg vergleichen und ihre Erfolge gegen Rom.

Im Februar 1839 brachte Windthorst seinen Schulantrag ein: nur um damit Wahlpolitik zu treiben und sein Volk in Aufregung zu halten. Bei der Festsetzung des neuen Staatshaushaltes hatte doch die preußische Regierung gefühlt, dass man, nachdem man Rom alles gewährt hatte, auch der ev. Kirche etwas gewähren müsse. Man hat seit 1888 an 3 190 000 Mark jährlich als Rente für die Hinterbliebenen, Verbesserung der Gehalte und für Vikariate in fortschreitender Weise gegeben. Das Zentrum gewann noch zwei Siege im Reichstag in der Befreiung der katholischen Geistlichen vom Militärdienst und in der Aufhebung des Priesterausweisungsgesetzes. Auf evangelischer Seite liefen die stürmischen Anläufe von Pfarrer Thümmel in Remscheid nebenher, der mit Rom und rheinischen Richtern Händel hatte, selbst aber verschiedene Ansichten über die Person Christi für erlaubt hielt. Bei dem Prozess in Kassel fiel das Wort eines Staatsanwaltes, dass Luther in unseren Tagen dem Strafgesetz verfallen würde.

Am 7. Januar 1890 starb die Kaiserin Augusta aus dem protestantischen Hause Weimar, bis zuletzt von einer kathol. barmherzigen Schwester gepflegt. Eine Gegnerin Falks, hatte sie das volle Wohlgefallen der Römischen gehabt und alles versucht, um die Schärfe des Streites zu mildern. Dem Erzbischof Heinrich sandte sie ein tröstendes Eccehomo-Bild und bewirkte, dass er feierlich in seiner Kathedrale bestattet werden konnte. Den Ordensgenossenschaften war sie eine teilnehmende Freundin mit vielfachem Verständnis für das Wesen der katholischen Kirche. Wie ein freundliches Licht erschien sie in trüben Tagen. Nach dem Tode des Kaisers schenkte sie ein Portrait desselben an Leo: „es hängt immer vor meinen Augen“ rühmte derselbe. Windthorst hat noch in seinem Sterben gerühmt, wie gut er mit ihr gestanden. Die Hofprediger haben sie als evangelische Diakonissin verherrlicht.

Das Jahr 1890 leitete sich auch ein durch das schnelle Scheiden des lieblichen schwäbischen Dichters: die Poesie wich, um einer immer rauhen und streitsüchtigeren Gegenwart den Platz zu räumen. Aus hartnäckigem Eifer für ein Prinzip wollten die Römischen im preußischen Landtag nicht das große Geschenk einer jährlichen Rente von 500 000 M. aus dem Kapital der Sperrgelder annehmen, weil man ihnen nicht geben könne, was sie rechtmäßig besäßen. Vergeblich bemühte sich der Staat, das Geld ihnen in die Tasche zu stecken: die anderen Parteien sollten es bewilligen, das Zentrum könne es nicht nehmen. So diplomatisch aber ließen sich diese nicht missbrauchen, sondern stimmten wie das Zentrum. Es blieb die Summe ein Tauschobjekt für die Zukunft. Die Neuwahlen zum Reichstag zeigten das erschreckende Wachstum der Sozialisten, welche mit 1 200 000 Stimmen auftraten. Die allgemeine Unzufriedenheit, der steigende Abfall des Volkes von Gott spiegelte sich darin ab. Auch eine große irdische Autorität zeigte sich erschüttert. Seit dem Friedensschluss mit dem Papste schien den eisernen Kanzler das Glück verlassen zu haben als ob er von einer giftigen Frucht gegessen hätte. Der Geffken-Prozess, der Morier-Lärm, der Wohlgemuth-Handel, der Waldersee-Spektakel zeigten lauter Missgriffe und schon sprach man in der Umgebung des Kaisers das Wort aus: Man muss die Bismarcks sich selbst ruinieren lassen. Die Wahlen des Reichstags hatten wieder Windthorst zum Könige desselben gemacht und sein böser Schatten spielte dämonisch in die letzte Unterredung des Kaisers mit Bismarck hinein, in der es zum offenen Bruche kam. In einer Tragik, des Nachdenkens wert, trat der gewaltige Kanzler zurück, um aus seiner nicht begehrten Einsamkeit Zornesblitze in alle Welt ja senden. Der Diplomat hatte den jungen Herrscher diplomatisch behandeln wollen und war dabei zum Fall gekommen. Das Blut empörte sich gegen das Genie. Der Kämpfer gegen Rom ohne Gottes Wort121 überließ seinem stärksten Gegner, dem Welfen, das Feld, der nun der Regierung seine freundlichen Dienste anbot und Geld genug für militärische Zwecke schenkte. Da konnte ruhig ein römischer Bischof nach Berlin kommen: man beugte sich tief vor ihm. Die soziale Frage, so alt wie die Welt, aber durch den Geist der wachsenden Anmaßung zum Schibboleth der Tage gemacht, ließ auf Rom blicken als auf eine konservative Macht. Zu dem internationalen Kongress in Berlin berief man wohl den Fürstbischof Kopp, doch einen bewährten evangelischen Arbeiter, wie etwa v. Bodelschwingh, einzuladen, vergaß man. Kopp hat dann oft das große vorsichtige Wort geführt. Ein evangelischer Kongress wurde von Stöcker berufen und gewährte zum Schluss das komische Schauspiel, dass sich Stöckerianer und Ritschlianer umarmten, die sich früher nie geliebt hatten. A. Harnack erklärte dabei, dass er mit Mühe Philosemit sei, wofür ihm das Berliner Tageblatt eine sichere Gunst versprach. Er war seitdem der Theologe des Blattes. Das war nicht gerade imponierend im Vergleich mit Roms Bevorzugung. Alles sprach nun von der sozialen Not und die Feindschaft gegen Rom wurde müde, wenn auch der evangelische Bund noch so viele Flugschriften122 herausgab.

Nachdem Jansen mit seiner Truggeschichte Deutschland überschwemmt hatte (der erste Band in 25 000 Ex. verbreitet), konnte auch jetzt Majunke von Luthers Selbstmord erzählen. Die Regierung machte ihn dafür zum Schulinspektor. Von 1872 bis 1890 wuchsen die ordensartigen Niederlassungen in Preußen von 914-1027.

Der Katholikentag in Koblenz konnte mit vollem Bewusstsein der errungenen Siege auftreten und einen großen Höllenlärm machen, damit man sich ja vor ihm fürchte. „Wir sind alle Jesuiten und lassen uns für die Jesuiten totschlagen“, so forderte man die Rückkehr der Jesuiten, für die dann Petitionen in Masse betrieben wurden. „Der Papst und der Kaiser müssen in der sozialen Frage zusammengehen und nie wieder geschieden werden“: so band man den jungen Herrscher an das römische Joch. Dieser hatte nämlich dem Papst seine Befriedigung darüber ausgesprochen, dass beide in der sozialen Frage übereinstimmten. Immer mehr drängt sich Rom in den Vordergrund. Die Umwerbung des Kaisers durch die Ultramontanen ist ein verhängnisvolles Schauspiel. In der sozialen Frage arbeitete Rom mit Hochdruck und mit dem bekannten Selbstruhme, obwohl katholische Länder die unglücklichsten Arbeiterverhältnisse zeigten wie Belgien und man überall bei den Wahlen ohne Scheu sich mit Sozialisten gegen andere Parteien verband. Die Not des Volkes war auch hier nur der Vorwand der eigenen Verherrlichung. Als der Kaiser in Breslau war, ehrte er besonders den Fürstbischof Kopp, der in der Behandlung der sozialen Frage sein Vorbild wäre: dabei begegnete der evangelischen Geistlichkeit der Stadt das Gleichnis artige Unglück, sich in der Elisabethkirche einzuriegeln, so dass die Kaiserin bei ihrer Ankunft nicht die Kirche betreten konnte. Als der Evangelische Bund in Stuttgart tagte (er war zu 72 000 Mitgliedern gewachsen), hatten die begrüßenden Telegramme dreier deutscher Fürsten nur Teilnahme für die soziale Frage, welche der Bund auch behandeln wollte; von dem Kampf gegen Rom nahmen sie keine Notiz. Der Bund kommt mit seiner Kampfeslust zu spät: man gebraucht Rom. Er lief auch bei seiner letzten Versammlung in das seltsame Ende aus, dass man für die Altkatholiken sammelte, von denen ein Priester gegenwärtig war. Nippold hatte freilich ausgesprochen, dass von dem Märtyrertum der Altkatholiken Lebensströme
ohne gleichen in die ganze Kirche geflossen wären, aber man sah sie nicht, vielmehr ein stetes Versiechen der künstlichen Bewegung. Als der Kämpfer gegen Rom in Bayern, Minister v. Lutz, lebensmüde vom Schauplatz abtrat, schwand auch die Protektion Bayerns für die Altkatholiken, die nun nicht mehr die alte katholische Kirche waren. Der kühle Döllinger starb in seiner gelehrten Einsamkeit unversöhnt mit dem Vatikanum, aber ein guter Katholik wie immer, der für Luther nur einiges Verständnis gewonnen, weil er auch etwas von den Menschen geschmäht wurde: Luthers Gnadenlehre hatte er nie begriffen: ein Gelehrter ohne Armut des Geistes und ohne die Rechtfertigung des Sünders. Von vielen bewundert, auch von Protestanten, aber zu klein, um einer göttlichen Tat fähig ja sein. Eine Mache der Professoren ist schon jetzt der Altkatholizismus abgewelkt, obwohl ihm Nippold die evangelische Bruderhand von Eisenach reichte. Trotz aller Bemühungen der Kirche wuchs die Gottlosigkeit des Volkes in erschreckender Weise. Der Sozialismus führte an den Abgrund des Atheismus und erklärte laut auf seinem ersten von der Welt beschickten Kongress in Halle, dass er keine himmlische und irdische Autorität mehr anerkenne, wenn er auch die Religion durch das Wissen und nicht durch Kampf überwinden wolle. Den Turm des Zentrums müsse er vor allem unterminieren. Zu gleicher Zeit sprach es der Liberalismus in Berlin bei der Enthüllung des Lessingdenkmals aus: Die Bibel ist nicht die Religion, das Dogma nicht die Botschaft von Jesu Christo. Sultan, Kreuzritter und Jude gehören zusammen. Der Liberalismus will und kann nichts mehr lernen und so treiben Sozialisten und Liberale in derselben Irre.
Die Berliner Theologen kamen ihnen in Kaftan entgegen und taten das alte Dogma in Verruf, mit dem es für immer aus sei. Wie das neue sich gestalten sollte, wussten sie dabei selber nicht. Auch ihr Menschenfündlein wird die Hauptstadt nicht von dem tiefen Sumpf zurückziehen, den schamloser Naturalismus und freches Judentum immer mehr vertieft. Auch viele Kirchen und kleine Gemeinden ändern eine Zeit nicht, die jede Autorität verloren hat.
Dadurch, dass man sagt: es muss eine große Geisterbewegung entstehen, entsteht sie nicht und die Hoffnungen eines Idealisten wie Stöcker sind Schwärmereien. Die Jesuiten werden wohl nicht zurückkehren, aber wenn alles, was Katholik heißt, in Deutschland Jesuit ist, so ist es auch nicht nötig. Man kennt die Wege, um evangelische Städte zu romanisieren. Mit Hilfe von durchtriebenen Yankees hat man es in Stuttgart durchgesetzt, dass in der Karlsvorstadt ein prachtvolles Hospital erbaut wurde, obwohl kein Bedürfnis dafür vorhanden war, und als die Einweihung geschah, gratulierten auch evangelische Fürsten und überreichten eine Marienstatue. Unwissenheit und Gleichgültigkeit arbeiten überall Rom entgegen. Der Eifer ist erloschen, denn nur Luthers Not und Luthers Glaube machen tapfere und gläubige Leute. Rom kann sich sicher in Deutschland ausbreiten, denn es hat keine Feinde mehr zu fürchten. Die neueste Weisheit, die dem Protestantismus helfen sollte, die Theologie Ritschls, war ihren eigenen Schülern zur Hieroglyphe geworden: das Volk hatte nichts davon gewusst: der Gemeindebegriff war ganz katholisch; der Protestantismus besaß nichts als ein besseres Lebensideal. Wichtiger in dem Eingen der Kirche war, dass der Bonifaciusverein den Gustav-Adolf-Verein um 100 000 M. überflügelte und dass sich als Nachklang des evangelischen Bundes in Stuttgart ein großartiger erster schwäbischer Katholikentag in Ulm mit vielen Tausenden versammelte, der die soziale Frage wirklich in die Hand nahm, die Männerorden für Schwaben forderte und den „evangelischen Brüdern“ heuchlerisch die Hand reichte.

Rom kann sich freuen: unsere Fakultäten sorgen dafür, dass die Reformation getötet wird. Die Schrift wird profanisiert, die Rechtfertigungslehre vernachlässigt, die Jugend vergiftet. Aller Streit für die Reformation ohne göttlichen Beruf stärkt nur den Feind.

In den Tagen, in welchen angesehene Führer der evangelischen Kirche ihr Amt niederlegten:
Hermes, Hegel, Stöcker, dagegen aber der Kaiser sich als Episkopus der Kirche betonte, stiftete der geliebte Sohn des hl. Vaters einen großen Verein der Katholischen Deutschlands gegen die soziale Gefahr und feierte dann als libertatis ecclesiae defensor seinen 80. Geburtstag unter der Beglückwünschung der ganzen Welt, auch der des Präsidenten des Reichstages: letztere wäre, meinte er, die größte Ehre, die ihm zuteil geworden sei. Gewiss: stolz stand der alte Kämpe auf dem Boden da, auf welchem er seine großen Siege errungen und wo er nun noch den letzten einernten sollte: die Überlieferung der Sperrgelder in die Hände der Bischöfe, obwohl keine rechtlichen Empfänger im juristischen Sinne für dieselben da waren. Also eigentlich ein großartiges Geschenk. Der Staat drückte das letzte Siegel auf seine Schmach und von der Ehre, welche die Minister nach v. Gosslers Ausspruch auch hätten, war nichts zu merken. Das Zentrum war gekauft, oder besser der Staat an dasselbe verkauft. Wohl zürnte der Einsiedler in Friedrichsruhe, dass die Herausgabe der Sperrgelder eine schimpfliche Niederlage des Staates sei: es war nur wie ein fernes dumpfes Grollen von dem, der selbst die tiefsten Wunden in dem Streit empfangen. Während Rom so seinen letzten Triumph gewann, gruselte es dem deutschen Philister vor den Jesuiten und er erhob überall gegen dieselben sein Geschrei, während unser ganzes Leben schon lange jesuitisch vergiftet ist.

In den Wirren, welche die Sperrgeldvorlage brachte, welche nun auch die Konservativen, nachdem sie dieselbe in ihrem Sinn erträglich gemacht hatten, annahmen, fiel v. Gossler, nachdem ihn der Landtag wegen seiner unveränderten Stellung ausgelacht hatte. Er hat der ev. Kirche manchen Irrlehrer geschenkt. Mit ihm sollte noch ein Stärkerer fallen.

Am 13. März starb Ludwig Windthorst, als er den letzten Triumph eingeerntet hatte, noch in seinen Todesphantasien der lautredende Verteidiger der Aufhebung des Jesuitengesetzes. Man kann sagen, das Reugeld des gedemütigten und büßenden Staates lag auf seinem Sterbebette. Ein frühaufstehender Mann, voll verschlagener List und zäher Unermüdlichkeit, der große Feind des evangelischen Preußens, das er mit Recht durch jede Sicherung des ultramontanen Ansehens geschwächt sah. Der alte Fuchs hat noch vor seinem Tode den Kaiser und die Kaiserin leben lassen: so schloss die Komödie vortrefflich ab. Die Kaiserin aber sandte duftende Blumen an den Sterbenden, der Kaiser erkundigte sich persönlich, als müsste die spottende Ironie der Geschichte bis zuletzt auf dem bitteren Streite ruhen, der die tiefste Schmach Preußens bleiben wird.

Als Windthorst das feierliche Totenamt mit berauschender Pracht gehalten wurde, schmückten die Kränze der beiden mächtigsten deutschen Fürsten seinen Sarg und vor der Elite der Hauptstadt sprach es der Erzbischof aus: Er hat einen guten Kampf gekämpft. Und keiner der anwesenden Protestanten sank vor Scham in den Boden. Grimbart und Hinze umstanden klagend die Bahre des schlauen Reinecke. Der große „Patriot“ musste verherrlicht werden. Armes Preußen du stehst an einem Abgrund und doch wird Gott um der Väter willen dich nicht ganz preisgeben. In das lügenreiche Lob von Windthorst sandte der große Alte die Wahrheit hinein: Windthorst war der gefährlichste und verstellungskundigste Gegner unserer nationalen Entwicklung.

Das stolze neunzehnte Jahrhundert mit seinen wunderbaren Fortschritten, seiner Naturwissenschaft und Kritik hat sich am Ausgang vor der wahnsinnigen Lüge der Unfehlbarkeit gebeugt123 und die Partei zur Herrin gemacht, die für diese größte Torheit des Aberglaubens eingetreten war. In einem wilden Herumtasten nach dem, was geschehen soll, schwankt Preußen einher und ist in dieser Schwachheit für Rom ein geeignetes Spielzeug. Sein Ansehen als evangelische Vormacht ist tief erschüttert.

Bei den in Ohnmacht zusammengesunkenen Protestanten beschäftigten sich in diesen Tagen die theologischen Knaben in ihren kleinen Werkstätten mit dem Schmieden von neuen Dogmen, besser als die der Reformation. Andere machten aus dem Alten Testament ein Chaos.

Wie tief hat sich der Tag von Wittenberg geneigt. Das Volk las jetzt die ernsten Gedanken eines sächsischen Offiziers. Es gibt nichts Leereres. Sind das die letzten Atemzüge des Protestantismus in Deutschland? Gleichzeitig warfen evangelische Prinzessinnen ihren Glauben weg, als wäre er nichts. Die Kritik, die die Autorität der Bibel zerstört, und dabei Rom bestreiten will, sieht sich von Zeitgenossen umgeben, die keine Autorität mehr kennen. In unheilvollem Kampf sind Kaiser und Altkanzler gegeneinander und der Heros der Nation kommt mit einem Zigarrenarbeiter in Stichwahl. Es war ein wohltuendes Wort, das der Kaiser sagte bei der Grundsteinlegung der Lutherkirche in Berlin: „An einem 18. April sprach der tapfere Wittenberger Mönch: Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Der Kriegsmann Frundsberg rief ihm zu: Mönchlein, du tuest einen schweren Gang. Gott hat ihn diesen Gang gesendet zum Heil unsres Volkes, besonders unsrer Heimat.“

Wie stumpf man in Deutschland geworden war, zeigte die Wallfahrt zum h. Rock in Trier, dieser „Einrichtung der christlichen Kirche“: sie rief keinen großen Volksunwillen hervor. 44 Pilger waren in einer Minute an dem alten Kleide vorbeigejagt worden. Mehrere wunderbare Vorfälle geschahen, welche „bewiesen, dass Christus noch in den Herzen der Menschen herrsche“: so meinte Leo. Bischof Korum behauptete dies sogar vor einem öffentlichen Gericht: er wird uns das Nähere mitteilen. Beim Beginn des Jahres 1892 begrüßte der Kaiser den Papst und sprach von dem gesegneten Einfluss desselben. Die Verhandlungen über die Handelsverträge, die Polenfrage, den Welfenfond waren von der Gunst des Zentrums begleitet. Die Vorlage des Volksschulgesetzes rief das alte deutsche Elend wieder wach: von Bebel bis Bennigsen glaubte der deutsche Mann nichts mehr als die Moral der Wilden und hatte auf die höhnische Frage der Germania, man solle klipp und klar sagen, ob man an Christus den Sohn des lebendigen Gottes glaube, keine Antwort. Ein frecher Jude sprach es in einer liberalen Versammlung aus: Wir haben das volle Recht des Unglaubens und des Atheismus. Rom befand sich in einer „Hurrastimmung“, zog schnell den Jesuitenantrag zurück und den Konservativen wurde es nur wenig in der Gesellschaft Roms unheimlich. „Vergnügt blickte Windthorst vom Himmel.“ Der Theismus, den der Kanzler und der tapfere von Zedlitz vertraten, war durch die Abhängigkeit von Rom gebrochen: es gab nur Gegensätze zwischen Unglauben und Aberglauben. In einem verzerrten Widerspruch, indem man verbrannte, was man angebetet hatte, fiel der Entwurf. Doch war Bismarck edel genug, um nicht als Bancos Geist bei den Festen zu erscheinen, die die Minister in diesen heillosen Tagen feierten. Was nützt uns eine konfessionelle Volksschule, wenn wir sie als Geschenk von Rom empfangen. Immerhin war schon die edle Tapferkeit von Zedlitz es wert, dass ihn die Greifswalder zum Ehrendoktor der Theologie kreierten: wie sehr er in den Händen Roms war, hat er wohl kaum gewusst. Das Zentrum blieb Caprivi doch fremd gesinnt, bat ja Preußen in dieser Zeit in Rom für den Fürstbischof in Breslau um den Purpur. Rom glänzte immer stärker als der Anwalt der christlichen Wahrheit und Windthorst wurde noch nachträglich zum Generalstabschef Gottes ernannt. Als der gestürzte Alte über die deutschen Lande in seinem traurigen Rachezuge als ein Baum, der sich selbst entblätterte zog, sagte er es dem von Rom beherrschten Volke, dass es weder eine protestantische noch eine katholische Theokratie vertragen könne und dass Caprivi der Mann des Zentrums wäre. Der schwäbische Katholikentag in Ravensburg, von 10 000 besucht, sprach seine Bereitwilligkeit aus, mit den wenigen Protestanten in Verbindung zu treten, die noch an die Gottheit Jesu glaubten, um so das Christentum aus dem 19. in das 20. Jahrhundert hinüberzuretten. Als der Berliner katholische Oberbürgermeister von der katholischen Kirche nach ihrem Recht nicht beerdigt wurde, vollzog die evangelische Kirche Totengräberdienste. Wenn der Aberglaube ein Recht hat, den Unglauben zu tadeln, so konnte die Germania ihren Spott über den Unglauben von Harnack und Pfleiderer ausschütten und die Kölnische Volkszeitung meinte wahr, dass die Rechtfertigungslehre für die gegenwärtige protestantische Wissenschaft gar nicht mehr in Betracht komme. Die Anmaßung steigt mit jedem Jahre und der Mainzer Katholikentag öffnete weit seine Arme, um die armen Protestanten mit ihrem Kaiser wieder zur alten Mutter zurückzuführen. Welche Rolle spielten dabei die evangelischen Theologen? In Karlsruhe, in Württemberg, im ganzen Reich bestritt man das Apostolikum. Lic. Schrempf fragte im Hohn die Württembergische Landeskirche, ob in ihr Glaube oder Unglaube bekenntnismäßig sei; Harnack und Genossen erwählten Eisenach, um dem Glauben Luthers ins Gesicht zu schlagen. Der evangelische Bund nahm zu seinen 80 000 auch noch Moltke auf, der Gott nicht lieben konnte, weil er uns ebenso viel Schlimmes wie Gutes erweise und der Christ, Moslem und Heide in eine Reihe stellte. Da nahte die Feier der Einweihung der ehrwürdigen Schlosskirche. Wohltuend kamen in die dunkle Zeit die Lichtstrahlen der kaiserlichen und fürstlichen Bekenntnisse: Worte von hoher Bedeutung aufsteigend zu Gott, der immer wieder das alte Wort zu Ehren bringt: Lutherus vivit. Es sei wie es sei: Gottes Wort und Luthers Lehr vergehen nie und nimmer mehr.

Bald darauf machten der Papst und der Staat in dem deutschen Rom und in dem goldenen Breslau zwei glanzvolle Kardinäle und im Prunkgefühl ihrer Macht und ihres Glaubens konnte die römische Presse bei dem Streit um das Apostolikum die armen Protestanten zu donnern: wer nicht glaubt, der ist schon gerichtet.

Allerdings hat die Theologie von Schleiermacher bis Ritschl das Gut der Reformation vergeudet, aber Luthers Bibel und Luthers Trost der Gnade bleibt bis ans Ende, wenn auch nur für einen verborgenen Rest.

zu.121 Luther: Gottes Wort muss dem Papste abbrechen, sonst tut ihm kein Waffen; denn er ist der Teufel. Vorzeiten sagte man, wenn man nach einem Geist haut oder schlägt, so verwundet man sich selber. Ein fein klug und wahr Sprichwort. Wenn wir das Schwert über den Papst zücken, so werden wir uns selbst treffen.
zu.122 An Literatur: Die vielen Flugschriften des Ev. Bundes, die kleinen polemischen Hefte bei Klein in Barmen und bei Wiemann eben dort; die Kirchliche Korrespondenz von Brecht.
zu.123 Windthorst Ende Juni 1870: Wenn das Dogma proklamiert wird, so werde ich in 6 Wochen exkommuniziert; das kann ich nicht glauben und das glaube ich auch nicht.
Das Pferd wird gerüstet für den Tag des Kampfes, aber der Sieg kommt von dem HERRN. Spr. 21,31

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A. Zahn"Abriss einer Geschichte der evangelischen Kirche auf dem europäischen Festlande im neunzehnten Jahrhundert"

Beitrag von Joschie »

A. Zahn" Abriss einer Geschichte der evangelischen Kirche auf dem europäischen Festlande im neunzehnten Jahrhundert"

14. Die Zustände in den Gemeinden.(Teil1)

Literatur: v. Kapff, der rel. Zustand d. ev. Deutschl., 1856. Hoffmann, Deutschland einst und jetzt, 1868. Todt, die Ursachen der Unkirchlichkeit in den Zeitfragen des christlichen Volkslebens, VII, 6, und andere dort befindliche Aufsätze. Uhlhorn, Katholicismus und Protestantismus gegenüber der socialen Frage, 1887. Kübel, Christl. Bedenken über modern christl. Wesen, 1889. Gebhardt, Der Niedergang des kirchl. Lebens auf dem Lande, 1888.

Vielfach ist die Kirchengeschichte nur eine Darstellung dogmatischer Ideen und Kämpfe oder kirchenpolitischer Ereignisse. Dies namentlich in Deutschland, wo ein uns eigentümlicher, tief schädlicher Riss Theologie und Gemeinen trennt. Was aber in diesen geschieht, ist wichtiger als die dogmatische oder kirchenpolitische Bewegung. Das Material muss aber erst noch gesucht werden, welches die Kirchengeschichte als Gang des religiösen Gedankens im Volke, vor allem auch in der Frauenwelt darzustellen erlaubt. Der tiefe Abfall von den Wahrheiten der Reformation, welcher sich um die Mitte des vorigen Jahrhunderts vollzogen, wurde in dem 19. nicht geheilt. Im Allgemeinen blieb auch in ihm in den Gemeinen eine rationalistisch -moralistische Anschauung die herrschende, die zuweilen auch noch manche fromme Sitte und einfache Gottesscheu der Aufklärungsperiode verlor. Der Pietismus hat keine frommen Gebräuche im Volke geschaffen. An die „Konfirmation“ lehnte sich noch das häusliche Leben an, aber sie sank immer mehr zur leeren Schaustellung herab. Der Protestantismus wurde farblos im Vergleich zum Heidentum und Romanismus. Für die Gebildeten war er nur ohne leidvolles Ringen ein schneller Zugang zur freien Wissenschaft. Eine in der ganzen Weltgeschichte unerhörte Erscheinung lastet zerstörend auf der Gegenwart: der Gedanke an die unsichtbare Welt ist geschwunden, er, der zur Zeit Luthers die Welt mit Fieberschaudern erfasste. Ein anderer machtvoller Gedanke, der das ganze Heiden- und Christentum durchzieht, ist ebenso aus den modernen Gewissen genommen, der, dass es keine Gemeinschaft mit Gott ohne Genugtuung und Opfer gibt und in diesem tiefsten aller Mängel stehen wir unter jeder Stufe menschlicher Entwicklung. Denn nicht nach der Glätte der Kultur, sondern nach der Furcht vor einem zürnenden Gott ist der Wert einer Zeit zu messen. Der erwachende Pietismus täuschte sich, wenn er eine Wiedergeburt des Volkes nach seinem Sinn erhoffte. Wohl wurden von dem mächtigen Geist der Erweckung auch größere Volkskreise ergriffen, wie das energische Wuppertal124 mit seiner nachdenklichen und strebsamen Bevölkerung, wie die charakterfesten Ravensberger mit ihrem kernigen Volkening, dem Pietistengeneral,125 die Siegener, Lipper, die tiefsinnigen, in sich gekehrten Schwaben, die Schlesier im Gebirge und die Pommern in ihrem geistlichen Ringen und Regen am Ostseestrande,126 in Brandenburg tritt der Zülsdorfer Pastor Licht auf († 1887), auch eine große Anzahl adeliger Familien gab sich gerne nach der Anregung und dem Vorbilde des edlen Baron von Kottwitz in Berlin dem Einfluss des erwachten Glaubenslebens hin, in Posen sind die v. Rappards und v. Massenbachs zu erwähnen; auf allen Gebieten des Lebens wurden bedeutende Geister angefasst: der große Staatsmann von Stein, die Geographen Ritter127 und Karl von Raumer,128 die Historiker Ranke und Leo, der Buchhändler Friedrich Perthes,129 der Patriot Ernst Moritz Arndt,130 der Naturforscher Gotthilf Schubert,131 der Wohltäter Johannes Falk132 mit seiner ersten Rettungsanstalt in Weimar, der Graf von der Recke-Volmerstein mit einem gleichen Unternehmen in Düsselthal, die vielverdienten Schulmänner Harnisch, Adler, Dreist, Henning, und der durch seine biblische Geschichte so wohltätige Franz Zahn und viele andere bis in die Kreise der Höfe, wo Prinz Wilhelm und Prinzessin Wilhelm von Preußen133 und später der hochbegabte Kronprinz stark berührt werden; auch der fromme Joseph von Altenburg glaubte besser durch sein nächtliches Gebet als durch ein Fakultätsgutachten geleitet zu werden; ehrwürdig ist die Erscheinung der Prinzessin Auguste von Hessen-Homburg am Mecklenburger Hofe, die der Henriette von Württemberg134 und der Markgräfin Elisabeth von Baden. Aber ein allgemeiner Durchbruch der evangelischen Wahrheit geschah nicht. Hierzu waren auch die Führer immer noch zu sehr Suchende und Forschende und fingen erst wieder an, zu den alten Brunnen der Vergangenheit langsam und mühevoll sich zurückzufinden. Als dann der Betrug der Hegelschen Philosophie, die Kritik der Tübinger, alles berauschte und wieder erschütterte, schwankten auch sie teils in spekulativem Wahn, teils in gleichen Zweifeln wie die Gegner. Der Mensch mit der Macht der Selbstbestimmung kritisiert auch die Bibel: dies zuletzt die Summa auch der gläubigen Systeme. Das Volk, anfangs an vielen Orten von der Neuheit des unbekannten Evangeliums ergriffen, wurde nach kurzem Zeitraum die gläubige Predigt gewohnt. Urteilslose Magistrate haben in Bremen und Magdeburg rationalistische Prediger, die die alte Pfaffenkirche als einen Leichnam betrachteten in Schutz genommen. In Berlin klagten sie treue Männer beim Könige an, während die ohne Klage herumgingen, die teure Eide auf das ev. Bekenntnis geschworen hatten und nun den Abfall predigten (Oktober 1845). Es kam das Jahr 1848 mit seiner Revolutionsfackel: da erlahmte sichtlich das religiöse Interesse und die Politik fing an, immer mehr die Religion des Volkes zu werden. In die Mitte dieses Jahrhunderts fällt eine große Scheidung der Gedanken: die Anmaßungen der Spekulation wurden verachtet, man ging zur bloßen Empirie über. Diese wurde ungemein fruchtbar. Die bedeutenden praktischen Resultate der neue Gebiete erobernden Naturwissenschaft, die bald die Welt erstaunen machten und durch ihre Überwindung des Raumes eine sich überstürzende Schnelligkeit und Vielseitigkeit des Verkehres und Geschäftslebens hervorriefen, nahmen die Sinne für das Irdische gefangen und erdichteten für die Gebildeten und das niedrige Volk eine Weltanschauung, in der sich alles nach den unveränderlichen Gesetzen der Entwicklung und des geschichtlichen Werdens vollzieht und für Wunder und Weissagung, ja für alle Tatsachen des apostolischen Glaubens keine Stätte mehr ist. In Nord- und Mitteldeutschland hat sich fast die ganze Männerwelt von jeder lebendigen Beziehung mit der Kirche losgesagt. Als der Franzose Renan 1863 seine Vie de Jésus veröffentlichte, fand dieselbe auch in Deutschland begehrte Aufnahme, obwohl nur ein zuweilen lüsterner Roman mit idyllischem, galiläischem Hintergrunde. Strauß aber schloss, von dem Franzosen angeregt, seine zerstörende Wirksamkeit zuletzt mit dem Bekenntnis: der alte und der neue Glaube, darin die Gedanken Ungezählter offenbarend, die nach allerlei Zugeständnissen doch am Ende in dem Darwinismus die Wegweiser gesteckt sahen, denen sie, schon lange keine Christen mehr, folgen mussten. Denn die Anschauungen des englischen Naturforschers, dass die Pflanzen- und Tierarten nicht unveränderlich und nur vorübergehend fixierte Zustände in dem allgemeinen Entwicklungsprozess seien, die sich im Kampf ums Dasein und durch die natürliche Zuchtwahl allmählich gebildet, deutete die Menge dahin, dass man nun auch keines Schöpfers mehr bedürfe und die ganze mannigfaltige Welt gleichsam von selbst aus einem Pilz oder irgendwelchem Schlamm sich aufgebaut habe.135 Werner Siemens bezeichnete nun die Zeit als die naturwissenschaftliche. Bald wurde es aber auch eine zum Überdruss wiederholte Phrase, dass unser Jahrhundert dem Materialismus verfallen sei. Mit ihm auch dem Pessimismus, der in Schopenhauer und E. v. Hartmann, dem Philosophen des Unbewussten, seine Lehrer hatte, die denn auch die Selbstzersetzung des Christentums behaupteten. Immerhin blieben auch den Frivolen noch sieben Welträtsel. Alle Freisinnigkeit hinderte nicht, dass sich der Aberglaube zur Unfehlbarkeit steigerte, nachdem schon lange die unfehlbare Schrift als Lüge erklärt war. Der herrschende Geist offenbarte sich in erschreckender Weise, als nach den Erweisungen Gottes in den unvergleichlichen Taten von 1870 und 1871 man sich nur im Tanz um das goldene Kalb berauschte und bald die wildesten und wahnwitzigsten Agitationen des Sozialismus selbst das Leben des mit Lorbeer gekrönten Kaisers antasteten und für die Enthüllung des großartigsten Denkmales der Nation an sagen um rauschten lieblicher Stelle ein grauenvolles Massenattentat mit der Bosheit des Dynamits vorbereitete. Drei mächtige Ströme durchziehen offenbar verderblich die Gegenwart: der Presse und Börse schlau besitzende Judaismus, von entnervten, ihm ähnlich gewordenen Christenvölkern weichlich geduldet, der das arbeitende Volk immer weitgreifender mit Polypenarmen umstrickende Sozialismus (1 200 000 Wahlstimmen), (welcher keine Autorität weder im Himmel noch auf Erden anerkennt, jetzt auch das Landvolk vergiften will und dem nach Aufhebung des Sozialistengesetzes das in Waffen starrende Reich ganz ohnmächtig gegenübersteht: das furchtbare Gespenst des wilden Atheismus),136 der allein als Kirche sich gebärdende, die Welt, wie er sich rühmt, regierende Romanismus. Daneben erlischt mehr und mehr wahre evangelische Erkenntnis. Außer den Hohenzollern sind der echt evangelischen Fürsten wenig, sie, die einst im 17. Jahrhundert so reichlich da waren. Wohl wurde ein kirchlich ziemlich liberal gefärbter Fürst als Doktor der Theologie auf die Höhe Friedrichs des Frommen, des Helfers beim Katechismus Palatinus, gestellt (1886) es war nur eine akademische Jubiläumsdekoration. Lieblich ist das Bild, das Schubert von der Mecklenburgerin Helene von Orleans gezeichnet hat; als der Sieger von Orleans starb, war es ritterlich und christlich geschehen mit dem ruhigen Auftrag: Seiner Majestät zu melden, dass seine Militärinspektion erledigt sei.137 Aber sonst hörte man bei den Fürsten und Fürstinnen von romanisierenden Liebhabereien: römische Altäre werden geschmückt, barmherzige Schwestern geehrt, in einer Stadt am Rhein das hohe Fest Aller Seelen mitgefeiert, und gegen die Altkatholiken gearbeitet. Mit Schrecken untersucht man das Wachstum der allgemeinen Gleichgültigkeit, die Selbstmordsmanie, die schon kleine Kinder ergreift (im Mittelalter sehr selten), die dämonischen Familienmorde, die Schamlosigkeit der Prostitution, oft mehr von der Not als von der Lust diktiert – man fragt sich, was im Volke noch von natürlichem Gemütsleben übrig sei, warum die Kunst dem rohen Naturalismus und dem „bösen Dämon“ diene und nur noch der einzige Pfannschmid († 1887) das Evangelium des Friedens abbilde, und doch steht das Deutsche Reich und der evangelische Kaiser als leuchtende Beweise da, dass allein das Evangelium der Reformation Staaten und Kirchen bildet und erhält.138 Als 1883 das deutsche Volk in hoher Begeisterung das Lutherjubiläum nach dem Geschick der modernen Zeit, Feste zu feiern, beging, gefiel doch am meisten das fürstliche Wort am Grabe Luthers, dass das Wesen des Protestantismus in dem zugleich lebendigen und demütigen Streben nach der Erkenntnis christlicher Wahrheit besteht: ein welker Lorbeerkranz für den, der die Wahrheit besaß. Von den Lutherreden aber fand allein die den Pietismus und evangelischen Glauben verhöhnende des Professor Bender in Bonn die Verbreitung und den Dank des Liberalismus. In der württembergischen Kammer sprach es dann 1884 bei einer wichtigen Gelegenheit angesichts der Römischen der Kanzler Rümelin aus, dass das Volk nichts mehr von dem Bekenntnis wisse. Allerdings: die Wahrheit der Reformation von der freien Gnade, die Sünde vergibt, an wen sie will, ist theoretisch und praktisch verloren. Der große Kampf: ob aus Gnaden oder aus Werken ist in Deutschland erloschen. Was der Pietismus noch treibt, ist methodistische Werktätigkeit. Starben angesehene Männer wie Rümelin und Moltke, so hörte man, dass der Faust ihr Lieblingsbuch gewesen sei. Einigen wurde es in der dicken Abendluft zu schwül und sie erdichteten einen konservativen Hauch, spürten ihn aber ganz allein. Eine große Weltrede schloss wohl mit den Worten, das wir Deutschen Gott allein fürchten sonst niemand in der Welt, aber wie wenig entsprach dem die Gegenwart. Der, der uns Rembrandt als Erzieher anbot und geistreichen Unsinn erblühen ließ (37. Aufl.), glänzte nachher in vierzig unzüchtigen Liedern, nur ein Bild einer Zeit, in der die Unzucht das letzte Schamgefühl verloren hatte und die Ehre nur noch ein Wahn war. Ein sächsischer Offizier wollte mit ernsten Gedanken helfen, aber er offenbarte nur die allgemeine geistige Verarmung: „das Wesen der Religion ist Religiosität.“ Immer ähnlicher wird das deutsche Leben den Zeiten des absterbenden Roms. Seneca: major quotidie peccandi cupiditas, minor verecundia est. Dabei eine verzehrende Kritik, die auch die Majestät des Kaisers nicht schont. Auch im Landvolk sah es immer mehr so aus, dass „das kirchliche Wesen aus dem Leben heraus war.“ Die Not drängte dann zu erzwungener Hilfe, gegen die sich ernstliche Bedenken erhoben. Düster beleuchtete die Cholera in Hamburg das gottlose Deutschland. Hat nach dem Gesagten der Pietismus, der an den Wurzeln unseres Jahrhunderts frisch ergrünt, nicht gehalten, was er oft zu laut versprach, so verdanken wir ihm doch einige große Wohltaten, die in dem Leben unserer Gemeinen konservativ wirken.
zu.124 Die Biographien von G. D. Krummacher, Sander (1860 von Fr. W. Krummacher), Fr. W. Krummacher (Selbstbiographie), ref. Kirchenzeitung, ref. Wochenblatt. Monatsschrift für die ev. Kirche der Rheinprovinz und Westphalen, seit 1842. Palmblätter von Krummacher und Sander, 1844 ff. Evangel. Gemeindebl. für Rheinland und Westphalen, seit 1856, neuerdings wieder aufgenommen, auch ein kirchliches Monatsblatt, seit 1886. Ein Gang durchs Wuppertal in diesem Jahrhundert. von A. Sincerus, 1887. E. Krafft, Erinnerungen an den Kaufmann David Herman zu Elberfeld, 1887.
zu.125 Über ihn Krummacher in dem Buche: Lebensbilder von Freunden ev. Jünglingsvereine, 1882.
zu.126 Wangemann, Geistliches Ringen und Regen am Ostseestrande, 1861, und Gustav Knak, ein Prediger der Gerechtigkeit, 1881.
zu.127 Über ihn Kramer (1875) und Gage (1867).
zu.128 Von ihm eine Selbstbiographie, 1866.
129 Über ihn der Sohn (1872).
zu.130 Über ihn Langenberger (1869), Baur (1870), Schenkel (1869).
zu.131 Von ihm eine Selbstbiographie: Erwerb aus einem vergangenen und Erwartungen von einem zukünftigen Leben, 1854-1856. Über ihn Schneider, 1863.
zu.132 Über ihn Nietschmann, 1881.
133. Ihr Leben von Baur, 1886.
134. Ihr Leben von Ledderhose, 1867, und Merz, 1886.
135. Schon Bengel 1752: Man wird die Kräfte der Natur so erhöhen, dass nichts
136. Die sozialdemokratische Presse zählt 72 politische Blätter mit zusammen 254 000 Abonnenten und 55 Gewerkschaftsblätter mit 200 000 Ab.
13. Weber, Zum Gedächtnis des am 15. April 1883 selig entschlafenen Großherzogs Friedrich Franz II., 1883.
138. Einen vortrefflichen Versuch, die bäuerliche Glaubens- und Sittenlehre der Gegenwart darzustellen und das ist mehr Kirchengeschichte als vieles andere hat ein thüringischer Landpfarrer gemacht (1885).
Das Pferd wird gerüstet für den Tag des Kampfes, aber der Sieg kommt von dem HERRN. Spr. 21,31

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