Die Institutio in einem Jahr lesen

Nur für Gläubige, die die fünf Punkte des Arminianismus ablehnen

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Der Pilgrim
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II,10,13

Wenn diese heiligen Väter — wie es unzweifelhaft der Fall war! — die Selig keit nur aus Gottes Hand erwartet haben, so haben sie auch um eine andere als die irdische Seligkeit gewußt und sie erschaut. Herrlich legt uns das der Apostel dar: „Durch den Glauben ist Abraham ein Fremdling gewesen in dem verheißenen Lande als in einem fremden und wohnte in Hütten mit Isaak und Jakob, den Miterben derselben Verheißung; denn er wartete auf eine Stadt, die einen Grund hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist … Diese alle sind gestorben im Glauben und haben die Ver heißungen nicht empfangen, sondern sie von ferne gesehen und sich ihrer getröstet und wohl genügen lassen und bekannt, daß sie Gäste und Fremdlinge auf Erden wären. Denn die solches sagen, die geben zu verstehen, daß sie ein Vaterland suchen. Und zwar, wo sie das gemeint hätten, von welchem sie waren ausgezogen, so hatten sie ja Zeit, wieder umzukehren. Nun aber begehren sie eines besseren, nämlich eines himmlischen. Darum schämt sich Gott ihrer nicht, zu heißen ihr Gott; denn er hat ihnen eine Stadt zubereitet“ (Hebr. 11,9.10.13-16). Sie wären auch stumpfer ge wesen als Klötze, mit solcher Hartnäckigkeit an eine Verheißung sich anzuklammern, von deren Erfüllung hier auf Erden gar kein Schimmer sichtbar war — wenn sie diese Erfüllung nicht anderswo erwartet hätten! Besonders und mit Recht dringt der Apostel auf die Feststellung, daß die Väter ihr irdisches Leben als Wallfahrt verstanden haben, wie es ja Mose berichtet (Gen. 47,9). Wenn sie aber in dem Lande Kanaan bloß Fremdlinge und Pilger gewesen sind — wo blieb dann die Ver heißung des Herrn, die ihnen doch dies Land als Erbe zusprach? Daraus geht also deutlich hervor, daß jene Verheißung vom Besitz des Landes, die ihnen der Herr gegeben hatte, in weitere Ferne geht. Sie haben doch in dem Lande Kanaan keinen Fußbreit erworben, außer ihrem Grab! Das zeigt, daß sie die Frucht der Verhei ßung erst nach dem Tode zu erlangen hofften! Deshalb legte auch Jakob solchen Wert darauf, dort begraben zu werden, deshalb ließ er sich das von seinem Sohne eidlich versprechen! (Gen. 47,29f.). Deshalb ist es Josephs Wille, man solle noch nach Jahrhunderten seine bereits zu Staub zerfallenen Gebeine in das verheißene Land überführen! (Gen. 50,25).


II,10,14

So hat also den Vätern in allem Streben ihres Lebens die Seligkeit des kom menden Lebens vor Augen gestanden. Weshalb hätte sich sonst Jakob so sehr um das Erstgeburtsrecht bemüht, weshalb es mit soviel Gefahr an sich gebracht, obwohl es ihm doch Verbannung und beinahe Rechtlosigkeit, aber rein nichts Gutes ein trug — wenn er nicht eines höheren Segens gedacht hätte? Darauf stand sein Sinn, wie er es noch im Sterben aussprach: „Herr, ich warte auf dein Heil!“ (Gen. 49,18). Was für ein Heil sollte er denn erwarten, wo er doch merkte, daß es mit ihm zu Ende ging — wenn er nicht im Tode den Beginn eines neuen Lebens gesehen hätte? Aber wozu sollen wir einzig bei den Frommen und den Kindern Gottes verweilen, wo doch selbst ein Mann, der sich sonst bloß bemühte, der Wahrheit zu widerstreben, eine Ahnung von dieser Erkenntnis hatte? Wir hören Bileam sagen: „Meine Seele sterbe den Tod der Gerechten, und mein Ende werde wie dieser Ende“ (Num. 23,10). Damit konnte er doch nichts anderes meinen, als was später David aus spricht: „Der Tod seiner Heiligen ist wert gehalten vor dem Herrn“ (Ps. 116,15), aber „der Gottlosen Tod ist Elend“ (Ps. 34,22; nicht Luthertext). Hätten sie den Tod für ihr letztes Ende und Ziel gehalten, so gäbe es ja da gar keinen Unterschied zwi schen dem Gerechten und dem Ungerechten; erst aus dem Geschick, das beider nach dem Tode wartet, wird ihre Unterschiedenheit offenbar.


II,10,15

Dabei sind wir nun noch gar nicht über Mose hinausgegangen — von dem doch die Schwärmer behaupten, er hätte nur die Aufgabe gehabt, ein fleischlich denkendes Volk durch Fruchtbarkeit des Landes und eine Fülle alles Guten zur Verehrung Gottes zu führen! Und doch tritt hier jedem, der sein Auge nicht geflissentlich der Wahrheit verschließt, das Dasein eines geistlichen Bundes deutlich und klar gegenüber! Gehen wir jetzt zu den Propheten über, so strahlt uns hier in vollem Glanze das ewige Leben und das Reich Christi entgegen. Da ist zuerst David; er war der Zeit nach der erste, und deshalb war es ihm nach der Ordnung, die Gott in der Austeilung seiner Gaben innehält, noch nicht vergönnt, die himmlischen Ge heimnisse so klar auszusprechen wie die späteren Propheten; aber mit welcher Deut lichkeit und Zuversicht richtet er doch alles, was er ist und hat, auf dieses Ziel! Wie er das Erdenleben ansah, das zeigt er in dem Ausruf: „Ich bin dein Pilgrim und Bürger wie alle meine Väter“ (Ps. 39,13). „Meine Tage sind einer Hand breit vor dir, und mein Leben ist wie nichts vor dir … Sie gehen dahin wie ein Schemen“ (Ps. 39,6.7). „Nun, Herr, wes soll ich mich trösten? Ich hoffe auf dich!“ (Ps. 39,8). Nichts ist doch nach diesem seinem Bekenntnis fest und beständig auf Erden; aber er hält zuversichtlich an der Hoffnung auf Gott fest und schaut damit auf eine Seligkeit, die anderswo liegt! Dies Glück zu betrachten, ruft er immer wieder die Gläubigen auf, wenn er sie trösten will. An anderer Stelle redet er von der Kürze und der Flüchtigkeit und Vergänglichkeit des Menschenlebens und fügt dann hinzu: „Die Gnade aber des Herrn währet von Ewigkeit zu Ewigkeit über die, so ihn fürchten …“ (Ps. 103,17). Dem entspricht auch, was wir im 102. Psalm lesen: „Du, Herr, hast vormals die Erde gegründet, und die Himmel sind deiner Hände Werk. Sie werden vergehen, aber du bleibst. Sie werden alle veralten wie ein Gewand; sie werden verwandelt wie ein Kleid, wenn du sie verwandeln wirst. Du aber bleibest, wie du bist, und deine Jahre nehmen kein Ende. Die Kinder deiner Knechte werden bleiben, und ihr Same wird vor dir gedeihen“ (Ps. 102,26-29). Mögen also Himmel und Erde vergehen — die Frommen stehen immerwährend unter des Herrn Schutz! So ist ihr Heil mit Gottes Ewigkeit verbunden! Aber diese Hoffnung kann nur rechten Grund und rechte Zuversicht haben, wenn sie auf der Verheißung ruht, die wir bei Jesaja hören: „Der Himmel wird wie ein Rauch vergehen, und die Erde wie ein Kleid veralten, und die darauf wohnen, werden im Nu dahinsterben. Aber mein Heil bleibt ewiglich, und meine Gerechtig keit wird kein Ende haben“ (Jes. 51,6). Hier wird der Gerechtigkeit und dem Heil ewige Dauer zugesprochen — nicht bloß insofern sie bei Gott liegen, sondern gar insofern sie vom Menschen erfahren werden.


II,10,16

Gelegentlich spricht David auch von dem Glück der Gläubigen; aber auch das muß notwendig auf die Teilnahme an der himmlischen Herrlichkeit bezogen werden. So lesen wir: „Der Herr bewahret die Seelen seiner Heiligen; von der Gottlosen Hand wird er sie erretten“ (Ps. 97,10). Oder: „Dem Gerechten geht das Licht auf, und Herzensfreude den Frommen … die Gerechtigkeit des Gerechten bleibet ewig lich; sein Horn wird erhöhet mit Ehren … denn was die Gottlosen gerne wollten, das ist verloren“ (Ps. 112,4.9f.; V. 4 nicht Luthertext!). Oder: „Auch werden die Gerechten deinem Namen danken, und die Frommen werden vor deinem Ange sichte bleiben“ (Ps. 140,14). Oder auch: „Er wird ewiglich bleiben; des Gerechten Weg wird nimmermehr vergessen“ (Ps. 112,6). Und endlich: „Der Herr erlöset die Seele seiner Knechte …“ (Ps. 34,23). Denn der Herr läßt es oft genug zu, daß die Bösen seine Knechte nach ihrer Lust quälen, ja plagen und ins Unglück stürzen; er läßt die Guten in Finsternis und Kummer schmachten, während Gottlose wie die Sterne strahlen; auch erquickt er sie keineswegs dergestalt mit der Freundlichkeit seines Antlitzes, daß sie etwa dauernd Freude genössen! Darum verschweigt David auch nicht, daß die Gläubigen, wenn sie ihr Augenmerk auf den gegenwärtigen Zustand richten, in die schwerste Anfechtung geraten müssen, als ob es bei Gott keine Gnade, keinen Lohn für die Unschuld gäbe! Denn die Gottlosen blühen und gedeihen zumeist, während die Schar der Gläubigen von Schande und Armut, Verachtung und allerlei Kreuz geplagt wird. „Ich hätte schier gestrauchelt mit meinen Füßen; mein Tritt wäre beinahe geglitten. Denn es verdroß mich der Ruhmredigen, da ich sah, daß es den Gottlosen so wohl ging …“ (Ps. 73,2f.). Und dann schließt er seine Betrachtung: „Ich dachte ihm nach, daß ich’s begreifen möchte; aber es war mir zu schwer. Bis daß ich ging ins Heiligtum des Herrn und merkte auf ihr Ende …“ (Ps. 73,16f.).
Simon W.

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II,10,17

Aus diesem Geständnis des David sollen wir lernen: auch die heiligen Väter unter dem Alten Bunde haben sehr wohl gewußt, wie selten oder gar nie Gott das, was er seinen Knechten zugesagt hat, in dieser Welt in Erfüllung gehen läßt; aber dann haben sie ihre Seele zu Gottes Heiligtum erhoben — und da war ver borgen, was unter dem Schatten des irdischen Daseins noch nicht ins Licht tritt. Das war Gottes letztes Gericht; sie sahen es gewiß noch nicht mit Augen, aber sie waren zufrieden, im Glauben darum zu wissen. In diesem Glauben waren sie voll Zuversicht, und sie wußten, daß — was auch in der Welt geschehen mochte! — doch der Tag kommen würde, an dem Gott seine Verheißungen wahr machte! So wird es uns in den folgenden Sprüchen bezeugt: „Ich aber will schauen dein Ange sicht in Gerechtigkeit, ich will satt werden, wenn ich erwache, an deinem Bilde“ (Ps. 17,15). „Ich werde bleiben wie ein grüner Ölbaum im Hause des Herrn“ (Ps. 53,10). „Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum, er wird wachsen wie eine Zeder auf dem Libanon. Die gepflanzt sind im Hause des Herrn, werden in den Vor höfen unseres Gottes grünen. Und wenn sie gleich alt werden, werden sie dennoch blühen, fruchtbar und frisch sein …“ (Ps. 92,13-15). Oder auch schon kurz vorher: „Herr, … deine Gedanken sind so sehr tief! — Die Gottlosen grünen wie das Gras, und die Übeltäter blühen alle, bis sie vertilgt werden immer und ewiglich!“ (Ps. 92,6.8). Wo soll aber der Glanz und Schmuck der Gläubigen anders sein als da, wo der Herr durch das Offenbarwerden seines Reiches das Angesicht dieser Erde verändern wird; Auf dies Ewige wandten sie ihr Augenmerk, und des halb verachteten sie die zeitliche Härte irdischer Not und konnten zuversichtlich sagen: „Du wirst den Gerechten nicht ewiglich in Unruhe lassen; du wirst aber die Gottlosen hinunterstoßen in die tiefe Grube …“ (Ps. 55,23f.; nicht Luthertext). Wo ist in dieser Welt solch eine Grube ewigen Verderbens, welche die Gottlosen verschlänge? Nein, von dem Glück der Gottlosen gilt, was wir im Hiobbuche lesen: „Sie werden alt bei guten Tagen und erschrecken kaum einen Augenblick vor dem Tode“ (Hiob 21,13). Wo ist hier diese sichere Ruhe der Gläubigen, die nach Da vids häufigen Klagen von allerlei Unglück erschüttert, ja unter ihm erdrückt und gänzlich zermalmt werden? Er schaut also nicht auf das, was diese Welt in ihrer Unstetigkeit und Wandelbarkeit zu geben vermag, sondern auf das, was der Herr tun wird, wenn er sich einst niedersetzen wird, einen neuen, ewigen Himmel und eine neue, ewige Erde zu schaffen! So schreibt ja auch David sehr klar an einer Stelle von Leuten, „die sich verlassen auf ihr Gut und trotzen auf ihren großen Reich tum …“ (Ps. 49,7) — und dabei „kann doch keiner“, so hervorragend er auch ge stellt sein mag, „seinen Bruder erlösen, noch ihn mit Gott versöhnen. Denn man wird sehen, daß die Weisen sterben sowohl als die Toren und Narren umkommen und müssen ihr Gut anderen lassen. Das ist ihr Herz, daß ihre Häuser währen immerdar, ihre Wohnungen bleiben für und für; und haben große Ehre auf Erden. Dennoch kann ein Mensch nicht bleiben in Ansehen, sondern muß davon wie ein Vieh! Dies ihr Tun ist eitel Torheit; doch loben’s ihre Nachkommen mit ihrem Munde. Sie liegen in der Hölle wie Schafe, der Tod weidet sie. (Gehet das Licht auf), so werden die Frommen gar bald über sie herrschen, ihre Gestalt muß vergehen; in der Hölle müssen sie bleiben“ (Ps. 49,8.11-15; gegen Schluß nicht mehr Luther text). Da zeigt schon gleich die Verspottung der Toren, die sich auf flüchtige, ver gängliche Erdengüter verlassen, daß die wahrhaft Weisen ihr Glück irgendwo anders suchen müssen! Aber er läßt uns auch einen etwas deutlicheren Blick tun in das Ge heimnis der Auferstehung, weil er ja das Reich der Frommen erst nach dem Unter gange der Gottlosen aufrichten will. Denn was soll dieses „Aufgehen des Lichtes“ anders sein als das Offenbarwerden des neuen Lebens, das da folgt, wenn das irdische endet?


II,10,18

Daher kommt denn auch der Gedanke, an den sich die Gläubigen als Trost im Elende und als Hilfe in der Geduld so oft angeklammert haben: „Sein Zorn währet einen Augenblick, aber lebenslang seine Gnade“ (Ps. 30,6). Wie konnten sie aber die Trübsal „augenblicklich“ nennen, die uns doch beinahe unser Lebetag anficht? Wo sahen sie denn jene immerwährende Dauer der göttlichen Freundlichkeit, von der sie doch kaum den geringsten Geschmack empfangen hatten? Wären sie an der Erde hängengeblieben, so hätten sie nichts dergleichen gefunden; aber sie schauten gen Himmel und erkannten, daß die Zeit, da die Heiligen von dem Herrn durch das Kreuz geprüft werden, nur ein Augenblick ist, die Barmherzigkeit Gottes aber, die sie sammelt, in Ewigkeit währt! Sie gewahrten auf der anderen Seite die Ewigkeit und Unendlichkeit des Verderbens, das der Gottlosen wartet, die sich jetzt, einen Tag lang, in ihrem Traum so glücklich wähnen! So lesen wir es Spr. 10,7: „Das Gedächtnis der Gerechten bleibet im Segen; aber der Gottlosen Name wird ver wesen.“ Oder wir hören: „Der Tod seiner Heiligen ist wert gehalten vor dem Herrn … aber den Gottlosen wird das Unglück töten“ (Ps. 116,15; 34,22). Auch bei Samuel heißt es: „Er wird behüten die Füße seiner Heiligen, aber die Gott losen müssen zunichte werden in Finsternis“ (1. Sam. 2,9). — Das bedeutet: die Propheten haben sehr wohl gewußt, daß, wie sehr auch die Heiligen umgetrieben werden, doch ihr Ende Leben und Heil sein wird, und daß der Gottlosen schöner Pfad dennoch nach und nach ins Verderben führt. Sie nannten daher den Tod der Gottlosen auch den „Tod der Unbeschnittenen“ (Ez. 28,10; 31,18 u.a.), also derer, die keine Hoffnung auf Auferstehung haben. Deshalb kennt auch David keinen furchtbareren Fluch als den: „Tilge sie aus dem Buch des Lebens, daß sie mit den Gerechten nicht angeschrieben werden“ (Ps. 69,29).


II,10,19

Besonders herrlich ist aber das Wort des Hiob: „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt und daß ich zuletzt aus der Erde auferstehen werde; da werde ich in meinem Fleische Gott, meinen Heiland, schauen. Diese Hoffnung ruhet in meinem Schoß“ (Hiob 19,25-27; nicht Luthertext). Leute, die ihren Scharfsinn an den Mann brin gen wollen, kommen nun zwar mit dem spitzfindigen Einwand, Hiob rede hier nicht von der Auferstehung am jüngsten Tage, sondern von jenem Tage, da Gott ihn, wie er doch erwartete, zum ersten Mal wieder gnädig anschaue. Gut, wollen wir das zum Teil gar zugeben; aber das wird man uns doch, ob man will oder nicht, gestehen müssen, daß Hiob zu solch herrlicher Hoffnung gar nicht hätte kommen können, wenn er mit seinen Gedanken an der Erde klebengeblieben wäre. Er hat also, das müssen wir einsehen, seine Augen zu der künftigen Unsterblichkeit erhoben, wenn er doch erwartete, es werde ihm gar noch dann ein Erlöser zur Seite stehen, wenn er bereits im Grabe läge! Denn für den, der nur an das gegenwärtige Leben denkt, ist der Tod die äußerste Verzweiflung. Aber Hiobs Erwartung konnte selbst der Tod nicht zerstören: „Und wenn er mich erwürgt“, hören wir ihn sagen, „so will ich den noch auf ihn hoffen!“ (Hiob 13,15; nicht Luthertext). Nun soll mir aber kein törichter Schwätzer einwenden, dies alles seien doch die Worte einzelner, und es sei damit noch nicht bewiesen, daß eine solche Lehre unter den Juden allgemein anerkannt gewesen wäre. Darauf soll er gleich eine Ant wort haben: diese Männer haben nämlich in diesen Worten nicht etwa eine Ge heimweisheit vorgebracht, zu der nur ganz erlauchte Geister ganz für sich und ab geschieden von den anderen Zugang gehabt hätten, sondern sie waren ja vom Hei ligen Geiste zu Lehrern des Volkes bestellt und haben die Geheimnisse Gottes, die in der Gemeinde gelehrt werden und die Grundlage der Gottesdienstübung im Volke sein sollten, öffentlich bekanntgemacht! Wir hören also in ihren Worten öffentliche Kundgebungen des Heiligen Geistes, mit denen er die Kirche der Juden zu klarer Einsicht über das geistliche Leben geführt hat — und deshalb ist es eine unerträgliche Halsstarrigkeit, wenn man hier nur die Erwähnung eines fleisch lichen Bundes sehen will, in dem also nur von der Erde und von irdischem Wohl ergehen die Rede wäre!
Simon W.

Der Pilgrim
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II,10,20

Jetzt will ich zu den späteren Propheten übergehen; hier können wir uns — wie auf eigenem Grund und Boden! — wesentlich freier ergehen. Es war uns schon leicht, unsere Auffassung bei David, Hiob und Samuel durchzufechten; hier ist es noch weit leichter! Denn der Herr hat bei der Darbietung des Bundes seiner Barmherzigkeit eine rechte Verteilung und Ordnung innegehalten: je näher die Zeit kam, da die volle Enthüllung geschehen sollte, desto größere Herrlichkeit ließ er in tagtäglicher Steigerung kundwerden! So waren es im Anfang, als dem Adam die erste Heilsverheißung gegeben wurde, nur wenige schwache Funken, die da aufleuchteten; dann wuchs die Helle, und immer mehr Licht wurde sichtbar; immer mehr und mehr brach es hervor, immer weiter sandte es seinen Schein — bis dann schließlich alle Wolken durchbrochen waren und Christus als die Sonne der Gerechtigkeit den ganzen Erdkreis in strahlenden Glanz tauchte! Deshalb brauchen wir nun nicht zu fürchten, daß uns etwa das Zeugnis der Propheten zu unserer Lehre abgehen werde. Nein, ich sehe, daß es eine unendlich weitläufige Sache ist, bei der wir uns viel länger aufhalten müßten, als wir nach unserer Absicht können — es würde ein dickes Buch dazu erforderlich sein! Ich glaube aber durch das, was ich oben gezeigt habe, auch für den weniger kundigen Leser einen Weg gebahnt zu haben, auf dem er nun, ohne sich im Lauf beirren zu lassen, weitergehen kann. Ich will also hier, weil es wirklich nicht nötig ist, nicht weitläufig reden; nur möchte ich den Leser bitten, sich den Zugang mit dem Schlüssel zu suchen, den ich ihm oben in die Hand gegeben habe. Wo nämlich die Propheten die Seligkeit des gläubigen Volkes erwähnen, die ja in diesem Leben kaum in den geringsten Spuren sichtbar wird, da muß man eine Unter scheidung machen: es liegt den Propheten daran, die Freundlichkeit Gottes möglichst hoch zu erheben, und deshalb haben sie sie dem Volke unter der Gestalt irdischer Wohltaten gewissermaßen im Umriß schattenhaft dargestellt; aber diese Darstellung war doch so beschaffen, daß die Herzen über die Erde, über die Elemente dieser Welt und dieser vergänglichen Zeit sich weit erhoben und notwendig dazu kamen, über die Seligkeit des kommenden, geistlichen Lebens recht nachzusinnen.


II,10,21

Wir wollen uns mit einem einzigen Beispiel zufrieden geben. Als die Israeliten nach Babel weggeführt waren und nun wohl bemerkten, wie ihr jämmerliches Dasein dem Tode so ähnlich sah, da konnte sie kein Mensch davon abbringen, die Verhei ßungen des Ezechiel von der künftigen Heimkehr und Wiederherstellung als ein Märchen anzusehen, genau, als wenn er ihnen verkündet hätte, es sollte ein verwester Leib wieder zum Leben gebracht werden. Aber der Herr wollte kundgeben, daß auch diese aussichtslose Lage ihn nicht hindern konnte, seine Wohltaten auszuteilen; des halb zeigte er dem Propheten in einem Gesicht ein Feld voller dürrer Totengebeine — und dann gab er diesen allein durch seines Wortes Kraft in einem Augen blick wieder Geist und Lebenskraft! (Ez. 37,1-14). Dies Gesicht sollte damals das Volk um seines Unglaubens willen zurechtweisen; zugleich aber machte es den Juden deutlich, daß die Kraft des Herrn, der mit seinem Wink vertrocknete und ver streute Totengebeine so leicht wieder lebendig machen konnte, nicht damit erschöpft sei, daß er das Volk wieder in die Heimat führte! Deshalb kann man diese Stelle bei Ezechiel mit einer anderen bei Jesaja wohl vergleichen: „Aber deine Toten wer den leben; meine Leichname werden auferstehen. Wachet auf und rühmet, die ihr liegt unter der Erde! Denn dein Tau ist wie der Tau des grünen Feldes, aber das Land der Tyrannen (Luther: Toten) wirst du stürzen. Gehe hin, mein Volk, in deine Kammer und schließe die Tür nach dir zu, verbirg dich einen kleinen Augenblick, bis daß der Zorn vorübergehe. Denn siehe, der Herr wird ausgehen von seinem Ort, heimzusuchen die Bosheit der Einwohner des Landes über sie, daß das Land wird offenbaren ihr Blut und nicht weiter verhehlen, die darin erwürget sind“ (Jes. 26,19-21).


II,10,22

Wollte nun aber jemand alle Prophetensprüche mit diesen beiden in eine Reihe stellen, so wäre das widersinnig; denn eine Anzahl Stellen zeigen uns unver hüllt jene kommende Unsterblichkeit, die der Gläubigen in Gottes Reich wartet. Einige davon haben wir bereits angeführt; auch was man sonst nennen könnte, ge hört zumeist zu dieser Gattung; ich will aber nur zwei Stellen nennen, die von be sonderer Bedeutung sind. Zunächst ein Wort bei Jesaja: „Gleichwie der neue Himmel und die neue Erde, die ich mache, vor mir stehen, also soll auch euer Same und Name stehen. Und alles Fleisch wird einen Neumond nach dem anderen und einen Sabbat nach dem anderen kommen, anzubeten vor mir, spricht der Herr. Und sie werden hinausgehen und schauen die Leichname der Leute, die an mir übel gehandelt haben; denn ihr Wurm wird nicht sterben, und ihr Feuer wird nicht verlöschen …“ (Jes. 66,22-24). Dann ein Danielwort: „Zur selben Zeit wird der große Fürst Michael, der für die Kinder deines Volkes steht, sich aufmachen. Denn es wird eine solche trübselige Zeit sein, wie sie nicht gewesen ist, seitdem Leute gewesen sind bis auf diese Zeit. Zur selben Zeit wird dein Volk errettet werden, alle, die im Buche geschrieben stehen. Und viele, so unter der Erde schlafen liegen, werden aufwachen, etliche zum ewigen Leben, etliche zu ewiger Schmach und Schande“ (Dan. 12,1f.).


II,10,23

Die beiden weiteren Punkte, nämlich, daß die Väter Christus zum Bürgen ihres Bundes gehabt und daß sie auf ihn all ihr Vertrauen gesetzt haben, bedürfen keines mühsamen Beweises, weil hier weniger Streit und mehr Klarheit herrscht. Es bleibt also unerschütterlich gegen alle Machenschaften des Teufels stehen: Das Alte Testament, der Alte Bund, wie ihn der Herr mit dem Volke Israel geschlossen hat, erstreckte sich keineswegs bloß auf das Irdische, sondern umfaßte die Verheißung des geistlichen, ewigen Lebens: darauf haben alle die, welche wirklich an diesem Bunde Anteil hatten, von Herzen gewartet. Wenn also die Meinung vertreten wird, der Herr habe den Juden nichts anderes vor Augen gestellt oder das Volk habe nichts anderes gesucht als Sättigung des Bauches, fleischliches Wohlleben, blühenden Reichtum, äußere Macht, Kinderreichtum und was sonst der natürliche Mensch allein hochschätzt, so ist das als unsinnig und gefährlich abzulehnen. Denn auch heute ver heißt Christus, der Herr, den Seinen kein anderes Himmelreich als das, in dem sie „mit Abraham, Isaak und Jakob zu Tische sitzen“ sollen (Matth. 8,11); und Petrus nennt die Juden seiner Zeit „Erben“ der mit dem Evangelium uns zukommenden Gnade, weil sie „der Propheten und des Bundes Kinder“ wären, „den Gott gemacht hat mit euren Vätern“ (Apg. 3,25). Das sollte aber nicht nur mit Worten bezeugt werden; darum hat es der Herr auch mit der Tat bestätigt. Denn als er von den Toten auferstand, da hat er auch viele Heilige gewürdigt, als Mitgenossen seiner Auferstehung aus ihren Gräbern hervorzugehen und in der Stadt zu erscheinen (Matth. 27,52); das war ein deutliches Unterpfand dafür, daß sein Tun und Leiden, mit dem er ein ewiges Heil errungen hat, den Gläubigen des Alten Bundes ebenso zuteil werde wie uns! Auch haben sie nach dem Zeugnis des Petrus denselben Geist des Glaubens empfangen, durch den auch wir zu neuem Leben geboren werden (Apg. 15,8). Wenn also dieser Geist, der in uns wie ein Funke der Unsterblichkeit lebt und der deshalb auch an einer Stelle als „Unterpfand unseres Erbes zu unserer Erlösung“ bezeichnet wird (Eph. 1,14), in ähnlicher Weise auch in ihnen gewohnt hat — wie sollen wir es dann wagen, ihnen das Erbe des Lebens abzusprechen? Um so verwunderlicher ist die Verstockung, zu der es einst die Sadduzäer gebracht haben, die ja die Auferstehung und auch das bleibende Dasein der Seele leugneten, obwohl ihnen doch für beides die klarsten Zeugnisse der Schrift bekannt sein mußten! Und ebensosehr müßte uns heutzutage die törichte Hoffnung des ganzen Judenvolkes auf ein irdisches Reich des Messias wundernehmen, wenn uns nicht die Schrift schon zuvor gesagt hätte, daß die Juden für die Verwerfung des Evangeliums auf diese Weise bestraft würden. Denn darin offenbarte sich Gottes gerechtes Gericht, daß ein Volk, welches das dargebotene Himmelslicht verschmäht und sich deshalb freiwillig in die Nacht des Irrtums begeben hat, nun mit Blindheit geschlagen ist! Man liest den Mose wohl und sinnt über ihm Tag und Nacht — aber da ist die Decke dazwi schen, und deshalb kann man das Licht nicht sehen, das von seinem Antlitz strahlt! (2. Kor. 3,14). So bleibt Mose diesem Volke verdeckt und verhüllt, bis es zu Chri stus bekehrt wird, von dem es ihn heute nach Kräften abzulösen und zu trennen sucht.
Simon W.

Der Pilgrim
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Elftes Kapitel: Vom Unterschiede zwischen dem Alten und Neuen Testament.


II,11,1

Nun könnte man aber sagen: Wieso, sollte gar kein Unterschied zwischen dem Alten und Neuen Testament zu finden sein? Wie kommt es denn, daß beide an so vielen Stellen der Schrift als Dinge von größter Verschiedenheit behandelt werden? Ich mache mir die Unterscheidungen, die uns in der Schrift genannt werden, gern zu eigen. Freilich so, daß sie der festgestellten Einheit nichts abbrechen. Das wird man auch sehen, wenn wir sie der Reihe nach durchgehen. Soweit ich nun sehen und mich erinnern kann, sind da hauptsächlich vier Unterschiede zu nennen; ich habe auch nichts dagegen, wenn man noch einen fünften zufügen will. Von diesen allen ist zu sagen und auch noch zu zeigen, daß sie sich auf die Form der Darbietung beziehen und nicht auf das Wesen der Sache selber. Sie bedeuten also gar kein Hindernis dafür, daß die Verheißungen des Alten und des Neuen Bundes die gleichen bleiben und Christus stets der Grundstein dieser Verheißungen ist! Also der erste Unterschied! Je und je hat der Herr sein Volk innerlich auf das himmlische Erbe hinlenken wollen, je und je sollte sich sein Sinnen und Trachten darauf richten! Um aber die Hoffnung des Volkes auf das Erbe zu beleben, gab er ihm seiner Zeit in irdischen Gütern die Möglichkeit, jenes Erbe bereits zu betrachten und von ihm zu kosten. Jetzt aber hat ja Gott durch das Evangelium die Gnadengabe des künftigen Lebens deutlicher und faßlicher geoffenbart — und da fallen jene früheren, geringeren Erziehungsmittel, wie er sie bei den Israeliten handhabte, fort, und er lenkt unsere Hoffnung unmittelbar auf jenes herrliche Gut! Wer diesen Plan Gottes nicht bedenkt, der glaubt dann, das alte Volk habe wirklich an nichts weiter gedacht als an jene Güter, die dem Leibe verheißen waren! Man hört von dem Lande Kanaan, dem herrlichen und gar einzigen Lohn für die, welche das Gesetz hielten. Man hört, wie der Herr für die Übertreter dieses Gesetzes keine schlimmere Drohung kennt als die Vertreibung aus dem Besitz dieses Landes und die Zerstreuung in fremde Länder. Man sieht doch auch, wie alle Segens- und Fluchworte, die uns Mose überliefert, dem ähnlich sind! Und daraus zieht man dann ohne Bedenken den Schluß, die Juden wären nicht um ihrer selbst willen, sondern um anderer willen von den übrigen Völkern abgesondert worden: nämlich damit die christliche Kirche ein Bild erhalte, in welchem ihr die geistlichen Güter in äußerlicher Gestalt vor Augen gestellt werden! Aber die Schrift lehrt doch an mehreren Stellen, daß diese irdischen Wohltaten, mit denen Gott die Seinen hier überschüttete, den Zweck hatten, sie zur Hoffnung auf die himmlischen zu leiten; und deshalb wäre es doch reichlich unklug, ja geradezu verblendet, wenn man diese Absicht übersehen wollte. Wir haben es also hier mit Menschen zu tun, die behaup ten, der Besitz des Landes Kanaan, welcher bei den Israeliten als die höchste Seligkeit gegolten habe, sei nun für uns, nach der Offenbarung Christi, ein Bild für das himmlische Erbe! Wir behaupten dagegen, daß schon die Gläubigen des Alten Bundes in diesem irdischen Besitz, dessen sie sich erfreuten, wie in einem Spiegel die künftige Erbschaft erschaut haben, die ihnen nach ihrem Glauben im Himmel bereitet war!


II,11,2

Das wird aus einem Vergleich deutlicher werden können, den Paulus im Galaterbrief verwendet. Er vergleicht da das Volk der Juden mit einem jungen Erben, der noch nicht fähig ist, sich selbst zu leiten, und der deshalb der Führung eines Vormundes oder Zuchtmeisters folgt, dessen Hut er anvertraut ist (Gal. 4,1-3). Er bezieht nun diesen Vergleich in besonderer Weise auf die Zeremonien; aber wir können ihn auch unserer hier verhandelten Frage sehr gut anpassen. Die Menschen des Alten Bundes haben also das gleiche Erbe, das auch für uns bestimmt gewesen ist; aber in ihrem Alter waren sie noch nicht fähig, dieses Erbe anzutreten oder zu verwalten. Es war unter ihnen die gleiche Kirche — aber sie stand noch im Kindesalter. So hat sie der Herr unter dieser Erziehung gehalten, und dabei hat er ihnen die geistlichen Verheißungen nicht bloß und offen gegeben, sondern gewisser maßen unter irdischen Verheißungen verdeckt. Als er also Abraham, Isaak und Jakob und ihre Nachkommenschaft zur Hoffnung auf die Unsterblichkeit als Kinder an nahm, da verhieß er ihnen das Land Kanaan als Erbe. Das hieß nicht, daß sie etwa mit ihrer Hoffnung an dem Lande klebenbleiben sollten, sondern wenn sie das Land ansahen, so sollten sie sich erst recht in der Hoffnung auf jenes wahre Erbe, das noch nicht erschienen war, üben und stärken. Damit dabei keine Täuschung möglich wurde, gab er ihnen noch eine höhere Verheißung, die ihnen bezeugen sollte, daß dies Land nicht sein höchstes Geschenk sei. So läßt Gott den Abraham nicht im Besitz der Ver heißung, die ihm das Land zusprach, faul und sicher werden; sondern es kommt zu einer größeren Verheißung, die seinen Sinn auf den Herrn selber richtet. Er hört: „Abraham, ich bin dein Schild und dein sehr großer Lohn“ (Gen. 15,1). Hier sehen wir, wie Abraham das letzte Ziel und Stück dieses Lohnes allein in dem Herrn selber suchen soll, damit er solchen Lohn nicht in flüchtiger, unsicherer Gestalt in den Dingen dieser Welt meinte finden zu können, sondern ihn für unverweslich hielt! Und dann fügt er die Landverheißung zu, doch offenkundig zu dem Zweck, für den Abraham Sinnbild göttlichen Wohlwollens zu sein und Vorbild des himmlischen Erbes. Das haben die Gläubigen sehr wohl erkannt, wie sie selber in ihren Aussprüchen beweisen. So kommt David von den zeitlichen Segnungen zur Betrachtung des höchsten, letzten Segens. „Nach dir sehnt sich und verlanget meine Seele und mein Fleisch … Gott ist mein Teil in Ewigkeit …“ (Ps. 84,3; 73,26; beides nicht Luthertext). Oder wir hören: „Der Herr aber ist mein Gut und mein Teil; du erhältst mein Erbteil“ (Ps. 16,5; Calvin anders). „Herr, zu dir schreie ich und sage: Du bist meine Zuversicht und mein Teil im Lande der Lebendigen“ (Ps. 142,6). Wer so zu reden wagt, der bezeugt damit, daß er in seinem Hoffen weit über die Welt und alles irdische Gut hinausgeht. Diese künftige Seligkeit beschreiben auch die Propheten öfters unter dem Bilde, das sie von dem Herrn empfangen hatten (nämlich dem Bilde des Landes!). So zum Beispiel: ,,Die Gerechten werden im Lande wohnen, und die Frommen darin bleiben …“ (Spr. 2,21). „Die Gottlosen aber werden aus dem Lande ausgerottet …“ (Spr. 2,22; Hiob 18,17). Auch lesen wir an mehreren Stel len, wie Jerusalem an allen Schätzen Überfluß haben und Zion in allem reich sein werde (so etwa Jes. 35,10; 52,1ff.; 60; 62). Das kann sich ja alles nicht auf das Land unserer Wallfahrt oder im eigentlichen Sinne auf das irdische Jerusalem be ziehen, sondern es betrifft notwendig die wahre Heimat der Gläubigen und jene himmlische Stadt, in welcher „der Herr Segen und Leben immer und ewiglich“ bereitet hat (Ps. 133,3).


II,11,3

Das ist auch der Grund, weshalb nach dem Bericht der Schrift die Heiligen unter dem Alten Bunde das irdische, sterbliche Leben und die ihm zuteil werdenden Seg nungen höher geschätzt haben, als das heute recht wäre. Sie wußten zwar durchaus, daß dieses Leben nicht das Ende ihres Laufs sei; aber sie erkannten doch die Spuren der Gnade Gottes, die er ihm eingedrückt hatte, um sie nach dem Maß ihrer Schwach heit recht zu erziehen, und so wurde ihnen das irdische Leben viel lieblicher, als wenn sie es nur an und für sich betrachtet hätten. Wie aber der Herr sein Wohl wollen gegen die Gläubigen mit irdischen Gütern bezeugte und also die geistliche Seligkeit mit solchen Vorbildern und Zeichen schattenhaft ausdrückte, so benutzte er auch leibliche Strafen, um sein Gericht über die Gottlosen offenbar zu machen. Wie also Gottes Wohltaten (zu dieser Zeit) mehr in irdischen Dingen sichtbar wurden, so auch seine Strafen. Unkundige Leute haben für diese innere Beziehung und sozusagen diesen Zusammenklang von Strafe und Lohn kein Verständnis, und des halb wundern sie sich, wie Gott so verschieden sich erweisen könnte, da er doch einst jede Übertretung des Menschen mit strengem und schrecklichem Gericht zu ahnden drohte, heute aber scheinbar seinen früheren Zorn abgelegt hat und viel milder und seltener straft! Es fehlt dann kaum noch, daß man geradezu von zwei verschiedenen Göttern, dem „Gott des Alten Testaments“ und dem „Gott des Neuen Testaments“ träumt, wie das ja die Manichäer getan haben. Aus solchen törichten Bedenklichkeiten können wir nur herauskommen, wenn wir jene weise Anordnung Gottes be achten, von der ich sprach. Er hat eben in jener Zeit, als er seinen Bund gewissermaßen umhüllt dem israelitischen Volke kundtat, seine Gnade und damit die künftige, ewige Seligkeit durch irdische Wohltaten, und anderseits den Ernst des geist lichen Todes durch leibliche Strafen andeuten und abbilden wollen.
Simon W.

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II,11,4

Der zweite Unterschied zwischen dem Alten und dem Neuen Testament besteht in den andeutenden Darstellungen, die das Alte Testament enthält. Das Alte Testament bringt, da die Wahrheit, die Erfüllung noch fehlt, bloß ein Bild, es zeigt uns also an Stelle des Körpers einen Schatten; das Neue dagegen enthüllt uns die gegenwärtige Wahrheit und den Körper selbst wesenhaft. Diese Verschieden heit wird fast bei jeder Darlegung des Unterschieds zwischen den beiden Testamenten hervorgehoben; klarer als irgendwo sonst findet sie sich im Hebräerbrief. Der Apostel hat da einen harten Streit gegen Leute zu führen, die da meinten, wenn man die Beobachtung des mosaischen Gesetzes abschaffte, so würde zugleich alle rechte Ver ehrung Gottes in schwerste Zerrüttung geraten. Um diesen Irrtum zu widerlegen, greift der Apostel zunächst auf die Weissagungen der Propheten über Christi Priestertum zurück; denn wenn ihm ein ewiges Priestertum zukommt, so ist es mit seiner Erscheinung um jenes Priestertum geschehen, in dem ein Priester auf den andern folgte (Hebr. 7,23). Dieses neue Priesteramt geht also unbedingt vor; das beweist der Apostel aus dem Eid, mit dem es Gott bekräftigt hat (Hebr. 7,21). Er führt dann weiter aus, mit dieser Veränderung des Priestertums sei auch der Bund verändert worden (Hebr. 8,6-13). Diese Veränderung erweist er dann als not wendig, weil ja das Gesetz zu kraftlos war, um zur rechten Vollkommenheit zu führen! (Hebr. 7,19). Dann geht er der Frage nach, worin denn diese Kraftlosigkeit des Gesetzes bestanden habe: er findet sie darin, daß es bloß äußere, fleisch liche Gerechtigkeitsordnungen bot; diese aber vermochten den, der sie erfüllte, nicht nach dem Gewissen vollkommen zu machen, weil man ja mit Tieropfern die Sünde nicht abtun und auch keine wirkliche Heiligkeit erlangen konnte! Daraus ergibt sich dann der Schluß: das Gesetz trug nur einen Schatten der zukünftigen Dinge in sich, nicht aber das wirkliche Bild! (Hebr. 10,1). Damit hat also das Ge setz nur die Aufgabe gehabt, Einführung und Hinleitung zu jener besseren Hoff nung zu sein, die uns im Evangelium offenbart wird! (Hebr. 7,19; vgl. Ps. 110,4; Hebr. 7,11; 9,9; 10,1; diese Zitate zum Ganzen!). Hier gewinnen wir nun den rechten Maßstab zum Vergleich des Bundes unter dem Gesetz mit dem Bunde unter dem Evangelium, des Amtes Christi mit dem Amte des Mose! Würde der Vergleich die Verheißungen selber in ihrer Sache treffen, so bestünde offenbar ein gewaltiger Zwiespalt zwischen den beiden Testa menten; aber unsere Untersuchung führte uns ja bereits auf einen anderen Weg, und wir müssen ihr folgen, um die Wahrheit zu finden. Wir stellen also den Bund in die Mitte, den Gott für die Ewigkeit gemacht hat und nicht untergehen lassen wird. Seine Erfüllung, durch die er also erst volle Gewähr und Bestätigung erhält, ist Christus. Solange nun diese Bestätigung erwartet wird, schreibt der Herr durch Mose die Zeremonien vor, die gewissermaßen feierliche Zeichen dieser Bestätigung sind. Da kam es aber zu der strittigen Frage, ob diese Zeremonien, die im Gesetz verordnet waren, Christus zu weichen hätten. Nun waren diese Zeremonien gewiß bloß hinzugekommene Bestandteile, ja vielmehr gar Zu sätze und Anhänge zum Gesetz oder, wie man gemeiniglich sagt: Zugaben; aber sie waren nun doch auch Werkzeuge zum Vollzug des Bundes und trugen deshalb den Namen „Bund“, wie man ihn auch sonstigen feierlichen Handlungen zuzuschreiben pflegt. Also — um es zusammenzufassen —: unter dem Alten Testa ment verstehen wir hier den feierlichen Vollzug jener Bestätigung des Bundes, wie er durch Zeremonien und Opfer geschah. Darin liegt nun aber nichts Zuver­lässiges oder Vollkommenes, wenn man nicht weiter schreitet, und deshalb behauptet der Apostel: Dieser Vollzug muß veralten und abgeschafft werden, damit Christus als dem Bürgen und Mittler Raum geschafft wird, ihm, der für die Erwählten einmal eine ewige Heiligung vollbracht und alle Übertretungen ausgelöscht hat, die unter dem Gesetz geblieben waren! Man kann es sich aber auch so klarmachen: „Alt“ war dieser Bund des Herrn deshalb, weil er in die schattenhafte und an sich unwirksame Ausübung von Zeremonien gehüllt war. Deshalb war er auch bloß zeitlich und gewissermaßen in der Schwebe, bis er durch gewisse und klare Bestätigung rechten Bestand erhielt! Dann aber hat ihn der Herr neu und ewig gemacht, ge heiligt und gegründet im Blute Christi. Deshalb sagte Christus auch, als er im Abendmahl seinen Jüngern den Kelch reichte: „Dies ist der Kelch, das neue Testament in meinem Blut …“ (Luk. 22,20). Damit wollte er doch wohl sagen, erst dann gewinne der Bund Gottes wirklich Bestand und Wahrheit, die ihn zu einem neuen und ewigen Bunde macht, wenn er mit seinem Blute versiegelt sei.


II,11,5

Hier ergibt sich nun ganz deutlich, was der Apostel meint, wenn er schreibt, die Juden seien unter der Zuchtmeisterschaft des Gesetzes auf Christus zugeführt wor den, als dieser noch nicht im Fleische offenbar geworden war (Gal. 3,24; 4,1). Er erkennt damit an, daß auch sie Söhne und Erben Gottes waren. Aber sie mußten wegen ihrer Jugend noch unter der Hut eines Zuchtmeisters stehen. Denn solange die Sonne der Gerechtigkeit noch nicht aufgegangen war, konnte ja der Schein der Offenbarung, konnte die Klarheit des Erkennens noch nicht so stark sein! Der Herr hat ihnen eben das Licht seines Wortes so zugemessen, daß sie es noch recht dunkel und bloß von ferne erschauten. Diese dürftige Erkenntnis nennt nun Paulus „Kind heit“: Gott wollte die Gläubigen in diesem Zustande in den Anfangsgründen dieser Welt und im Halten äußerlicher Vorschriften, also gewissermaßen nach der Art des Neulingsunterrichts, üben, bis Christus in seinem Glanze hervorstrahlte; durch ihn sollte die Erkenntnis der Gläubigen zum Mannesalter heranwachsen (Anklang an Eph. 4,13). Diese Unterscheidung hat Christus selbst ausgesprochen; wir hören einerseits: „Das Gesetz und die Propheten haben geweissagt bis auf Johannes“ (Matth. 11,13) — und dann zeigt er anderseits, wie seit Johannes das Reich Gottes gepredigt wird! Was haben aber Gesetz und Propheten den Menschen ihrer Zeit vermittelt? Sie haben ihnen offenbar einen Vorgeschmack jener Weisheit ge geben, die einst rein und klar offenbart werden sollte, und sie haben auf sie gedeutet wie auf ein in der Ferne aufglänzendes Licht. Wo man aber mit dem Finger auf Christus selbst weisen kann, da ist das Reich Gottes erschlossen. Denn „in ihm liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis“ (Kol. 2,3) durch die wir nahe zu den verborgenen Herrlichkeiten des Himmels gelangen!


II,11,6

Dieser Tatsache tut auch die Einsicht keinen Abbruch, daß in der christlichen Kirche kaum jemand zu finden ist, der an Kraft und Tiefe des Glaubens mit Abraham zu vergleichen wäre, und daß den Propheten eine Kraft und Gewalt gegeben war, die noch heute den ganzen Erdkreis in strahlendes Licht hüllt! Denn es handelt sich hier nicht darum, wieviel Gnade Gott einzelnen zuteil werden ließ, sondern welche Regel und Ordnung er bei der Unterweisung seines Volkes befolgt hat. Und diese Betrachtung findet auch auf die Propheten Anwendung, die sich an Erkennt nis vor den anderen auszeichneten. Denn ihre Verkündigung ist dunkel, als ob es sich um ganz ferne Dinge handelte, auch ist sie unter allerlei Bildern verhüllt! Wie wundersam tief ihre Erkenntnis auch sein mochte — sie mußten sich ja doch der am Volke allgemein geschehenden Erziehung mit unterstellen und anpassen und gerieten dadurch in eine Reihe mit den Unmündigen. Und schließlich: sie haben keine einzige Einsicht gehabt, die nicht an irgendeiner Stelle etwas von der Dunkelheit der Zeit merken ließe. Deshalb lehrt Christus: „Viele Könige und Propheten haben begehrt, zu sehen, was ihr seht, und haben’s nicht gesehen, und zu hören, was ihr hört, und haben’s nicht gehört …“ „Darum selig sind eure Augen, daß sie sehen, und eure Ohren, daß sie hören!“ (Matth. 13,17.16; Luk. 10,24.23). Christi Gegenwart hat billigerweise den Vorzug in höchstem Maße mit sich gebracht, daß nun die Offenbarung der himmlischen Geheimnisse leuchtender hervorbrach! Hierhin gehört auch das bereits angeführte Wort aus dem ersten Petrusbrief, wonach den Pro pheten die Offenbarung zuteil wurde, aber doch so, daß ihr Dienst sich vor allem unserem Zeitalter als nützlich erweist (1. Petr. 1,12).
Simon W.

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II,11,7

Damit komme ich zur dritten Verschiedenheit. Sie ergibt sich aus einem Wort des Jeremia: „Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund machen; nicht wie der Bund ge wesen ist, den ich mit ihren Vätern gemacht habe, da ich sie bei der Hand nahm, daß ich sie aus Ägyptenland führte, welchen Bund sie nicht gehalten haben, und ich sie zwingen mußte, spricht der Herr. Sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel machen will nach dieser Zeit, spricht der Herr: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben … und wird keiner den anderen noch ein Bruder den anderen lehren … sondern sie sollen mich alle kennen, beide, klein und groß … denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben …“ (Jer. 31,31-34; Calvin dreht die Reihenfolge teilweise um). Diese Worte haben dem Apostel zu einem Vergleich zwischen Gesetz und Evangelium Anlaß gegeben: er nennt das Gesetz eine Lehre des Buchstabens, das Evangelium eine Lehre des Geistes; das Gesetz, sagt er, sei auf steinerne Tafeln geschrieben, das Evangelium ins Herz eingegraben; das Gesetz gilt so als Predigt des Todes, das Evangelium als Predigt des Lebens, das Gesetz Predigt die Verdammnis, das Evangelium die Gerechtigkeit, das Gesetz hört auf, das Evangelium bleibt! (2. Kor. 3,6-11). Der Apostel will zunächst deutlich aussprechen, was der Prophet meinte; und deshalb könnte es genügen, einen von beiden zu hören, um beider Ansicht kennenzulernen. Aber es besteht doch auch ein gewisser Unterschied zwischen ihnen. Denn der Apostel spricht schärfer gegen das Gesetz als der Prophet. Das geschieht nicht einfach des Gesetzes selber wegen, sondern weil es damals unverständige Verteidiger des Gesetzes gab, die durch ihr verkehrtes Trachten nach äußeren Gebräuchen den Sinn des Evangeliums verfinster ten! Unter Berücksichtigung ihres Irrtums und ihres törichten Bemühens um das Gesetz setzt er sich mit ihnen über das Wesen dieses Gesetzes auseinander. Diese Eigenart der Worte des Apostels darf nicht übersehen werden. Aber es halten ja doch beide (der Prophet und der Apostel) das Alte und das Neue Testament gegen­einander, und beide sehen am Gesetz nur das an, was ihm wirklich eigen ist. Ich will ein Beispiel nennen: das Gesetz enthält zwischendurch eine ganze Reihe von Ver heißungen göttlicher Barmherzigkeit; aber die stammen aus einer anderen Quelle und kommen nicht in Betracht, wenn man vom eigentlichen Wesen des Ge setzes reden will! Deshalb schreiben sie beide, der Prophet wie der Apostel, dem Ge setz selbst nur dies zu: es verordnet das Rechte, verbietet das Unrecht, verheißt denen, die Gerechtigkeit tun, den Lohn und droht den Übertretern mit Strafe — die Verkehrtheit des Herzens aber, die doch von Natur in allen Menschen steckt, läßt es unterdessen unverändert und unausgefegt!


II,11,8

Wir wollen jetzt dem Vergleich des Apostels einzeln nachgehen. Das Alte Testament ist eine Buchstabenlehre; denn es ist ohne die Machtwirkung des Heiligen Geistes verkündet worden. Das Neue Testament ist geistlich: denn der Herr hat es durch den Geist den Menschen ins Herz eingegraben! Der zweite Gegensatz ist eine Erklärung des ersten: das Alte Testament bringt den Tod — denn es vermag ja nichts anderes, als über die ganze Menschheit den Fluch zu bringen! —, das Neue Testament aber ist das Werkzeug des Lebens: denn es macht uns vom Fluche frei und bringt Gottes Gnade über uns. Dementsprechend ist das Alte Testament ein Dienst der Verdammnis — denn es überführt ja alle Kinder des Adam der Ungerechtigkeit und klagt sie an! —, das Neue Testament da gegen ist das Amt der Gerechtigkeit: denn es offenbart ja Gottes Barmherzig keit, durch die wir gerechtfertigt werden! Der letzte Gegensatz (Vergänglichkeit — Ewigkeit, 2. Kor. 3,11) bezieht sich dagegen auf die Zeremonien im Gesetz. Denn da bot sich ja nur ein Bild von Dingen, die noch nicht da waren — und deshalb mußte das alles mit der Zeit vergehen und schwinden. Das Evangelium dagegen stellt uns die Sache, den Leib, selbst vor Augen und behält deshalb unverrückbar seinen Bestand! Zwar nennt Jeremia auch das sittliche Gesetz (leges morales) einen schwachen und gebrechlichen Bund; aber das geschieht aus einem anderen Grunde: nämlich weil durch den plötzlichen Abfall des undankbaren Volkes dies Ge setz so bald zerbrochen worden war; weil es sich aber dabei eben um eine schuldhafte Gesetzesübertretung des Volkes handelte, so bezieht sich diese Bemerkung nicht auf den Alten Bund selbst. Die Zeremonien dagegen, die um ihrer Kraftlosig keit willen mit dem Kommen Christi von selber aufhörten, hatten den Grund zu dieser Kraftlosigkeit in sich selber. Die Unterscheidung von Buchstaben und Geist darf man endlich nicht so verstehen, als ob der Herr den Juden sein Gesetz ganz ohne Frucht gegeben hätte, also keiner zu ihm bekehrt worden wäre, vielmehr dient dieser Gegensatz (Buch stabe — Geist) einem Vergleich: er soll den Reichtum der Gnade preisen, mit wel cher der gleiche Gesetzgeber, gewissermaßen als eine neue Person, die Predigt des Evangeliums ausgezeichnet hat. Wenn wir nämlich die Zahl derer ermessen, die Gott aus allen Völkern durch seinen Geist wiedergeboren und durch die Predigt seines Evangeliums seiner Kirche eingeordnet hat, so werden wir allerdings sagen: es waren ganz wenige Menschen, ja fast gar keine, die einst in Israel den Bund des Herrn von ganzem Herzen angenommen haben — und doch sind es viele, wenn man ihre bloße Zahl ins Auge faßt und Vergleiche unterläßt!


II,11,9

Aus jener dritten Unterscheidung ergibt sich von selbst die vierte. Die Schrift nennt das Alte Testament ein Testament der Knechtschaft, weil es ja im Herzen Furcht erzeugt; das Neue Testament heißt demgegenüber ein Testament der Frei heit, weil es uns innerlich zuversichtlich und gewiß macht. So schreibt Paulus im achten Kapitel des Römerbriefs: „Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, daß ihr euch abermals fürchten müßtet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch welchen wir rufen: ‚Abba, lieber Vater!’“ (Röm. 8,15). Hier her gehört auch, was wir im Hebräerbrief lesen: „Ihr seid nicht gekommen zu dem (leiblichen) Berge, … der mit Feuer brannte, noch zu dem Dunkel und Finsternis und Ungewitter“, wo ja alles, was man sah und hörte, nur Furcht und Grausen ein jagte, so daß auch Mose sich entsetzte, als jene schreckliche Stimme ertönte, die allen entsetzlich war zu hören, — „sondern ihr seid gekommen zu dem Berge Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem …“ (Hebr. 12,18-22). Der Gesichtspunkt, den wir Paulus eben im Römerbrief kurz vorbringen hörten, wird von ihm im Galaterbrief mit größerer Ausführlichkeit entfaltet. Er deutet dort das Wesen der beiden Söhne Abrahams in sinnbildlicher Weise an. Hagar ist unfrei, ist eine Magd, und sie dient zum Bilde des Berges Sinai, wo Israel das Gesetz empfing! Sara ist demgegenüber die Freie und gilt als Bild des himmlischen Jerusalem, von dem das Evangelium herkommt! Denn wie die Nach kommenschaft der Hagar unfrei geboren wird, weil sie eben nie Anteil am Erbe gewinnt, die Kinder der Sara aber frei geboren werden, weil ihnen das Erbteil zukommt — so werden wir durch das Gesetz der Knechtschaft unterworfen und allein durch das Evangelium zur Freiheit neu geboren! (Gal. 4,22-31). Der Sinn dieser bildlichen Ausdeutung ist der: Das Alte Testament hat dem Gewissen Schrecken und Furcht gebracht; das Neue Testament bringt uns Gottes Wohltat und erfüllt das Herz mit Freude! So hat also das Alte Testament die Gewissen im Joche der Knechtschaft gehalten, während uns das Neue durch Großmut frei macht! Nun könnte man mir aber aus dem Volke Israel die heiligen Väter ent gegenhalten, die doch ganz gewiß denselben Geist des Glaubens empfangen haben wie wir, und deshalb notwendig auch an der gleichen Freiheit und Freude Anteil gehabt haben müssen. Ich antworte darauf: Das stammt aber beides nicht aus dem Gesetz; diese Männer haben es erfahren, wie sie das Gesetz und ihre Stellung unter der Knechtschaft drückte, wie das Gewissen sie mit seiner Unruhe peinigte — und da haben sie sich unter den Schutz des Evangeliums geflüchtet; so war es also im eigentlichen Sinne eine Frucht des Neuen Testaments, wenn sie ohne das Gesetz des Alten Bundes von solcher Not frei wurden! Außerdem haben sie nach meiner Anschauung den Geist der Freiheit und Gewißheit nicht, in dem Sinne empfangen, daß sie nun etwa gar keine Furcht oder Knechtung vom Gesetz her erlebt hätten! Ob sie auch wohl jenes herrliche Vorrecht genossen, das sie durch die im Evange lium uns entgegentretende Gnade empfangen hatten, so waren sie doch den gleichen Bindungen und Lasten in der Ausübung äußerer Zeremonien unterworfen wie an dere Leute auch. So waren sie also verpflichtet, die äußeren Ordnungen gründlich einzuhalten, die doch Zeichen einer Zucht waren, die der Knechtschaft ähnlich sah, Hand schriften, in denen sie sich als Sünder bekannten — und die sie nicht zu tilgen ver mochten! Wenn man sie deshalb mit uns vergleicht und wenn man die allgemeine Ordnung beachtet, die der Herr damals seinem Volke Israel gegenüber anwandte, so muß man mit Recht sagen, daß auch diese heiligen Väter noch unter dem Testa ment der Knechtschaft und der Furcht gestanden haben.
Simon W.

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II,11,10

Die drei zuletzt genannten Vergleichungen betrafen Gesetz und Evange lium; in ihnen wird also das Gesetz als Altes, das Evangelium als Neues Testament bezeichnet. Nur die allererste Unterscheidung ist umfassender: sie umfaßt auch die vor dem Gesetz gegebenen Verheißungen! Diese Verheißungen selbst will nun Augustin unter keinen Umständen zum Alten Testament gerechnet wissen; und er hat darin völlig recht. Denn er hat damit nur zeigen wollen, was auch wir lehren: hat er doch ebenfalls jene Aussprüche des Jeremia und des Paulus vor Au gen, in denen das Alte Testament von dem Wort der Gnade und Barmherzigkeit unterschieden wird! Sehr durchdacht ist es auch, wenn er an derselben Stelle noch hinzusetzt: seit Anbeginn der Welt gehörten alle Kinder der Verheißung, alle, die Gott wiedergeboren hat, alle, die im Glauben, der in der Liebe tätig ist, den Geboten gehorcht haben, zum neuen Bunde! Dabei hofften sie nicht auf fleischliche, irdische, zeitliche Dinge, sondern auf geistliche, himmlische, ewige Güter. Vor allem aber glaubten sie an den Mittler; und sie wußten gewiß, daß er ihnen den Geist darreichte, um Gutes zu tun, und daß er ihnen Vergebung gewährte, wenn sie sündigten! (An Bonifacius III,4). Eben dies hatte auch ich zu beweisen die Absicht: Alle Heiligen, die Gott seit Anbeginn der Welt erwählt hat, wie die Schrift uns berichtet, sind auch des gleichen Segens zu ihrem ewigen Heil teil haftig geworden wie wir. Nun sagt aber Christus: „Das Gesetz und die Propheten haben geweissagt bis auf Johannes“ (Matth. 11,13), und seitdem wird das Reich Gottes gepredigt. So besteht nun zwischen meiner Darstellung dieser Verschieden heit und der des Augustin ein Unterschied: ich unterscheide zwischen der Klarheit des Evangeliums und der dunkleren Verlautbarung des Wortes in der ver gangenen Zeit; Augustin dagegen unterscheidet einfach das Gesetz in seiner Kraftlosigkeit vom Evangelium mit seiner Kraft und Sicherheit. Freilich muß hier doch auch gesagt werden: die heiligen Väter haben ihr Leben unter dem Alten Testament so geführt, daß sie nicht daran hängenblieben, sondern sich stets nach dem Neuen ausgestreckt und daran sogar wirklich Anteil gehabt ha ben! Denn der Apostel spricht ja das Verdammungsurteil über die, welche sich mit den gegenwärtigen Schatten zufrieden gaben und sich nicht innerlich auf Christus hin ausrichteten. Und das ist ja auch so: lassen wir selbst alles andere beiseite, so gibt es doch nichts Törichteres, als von der Schlachtung eines Stücks Vieh Sühne für die Sünde zu erhoffen, von der äußeren Besprengung mit Wasser eine Reinigung der Seele zu erwarten oder mit törichten Zeremonien Gottes Wohlgefallen zu su chen, als ob er daran gerade seine Freude hätte! Zu lauter solchem Unfug kommt man, wenn man ohne den Blick auf Christus an der äußerlichen Beobach tung des Gesetzes hängenbleibt!


II,11,11

Man kann noch eine fünfte Unterscheidungsart zufügen; sie beruht darauf, daß der Herr bis zum Kommen Christi nur ein einziges Volk abgesondert und er wählt hat, um seinen Gnadenbund gleichsam darin einzuschließen. „Da der Aller höchste die Völker verteilte, als er zerstreute der Menschen Kinder“, so hören wir bei Mose, „… da nahm er Israel zu seinem Teil, und Jakob ist sein Erbe“ (Deut. 32,8f.; nicht Luthertext). An anderer Stelle redet er das Volk an: „Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel, die Erde und alles, was darinnen ist, das ist des Herrn, deines Gottes. Dennoch hat er allein zu deinen Vätern Lust gehabt, daß er sie liebte, und hat ihren Samen erwählt nach ihnen, euch, aus allen Völkern …“ (Deut. 10,14f.). Diesem Volk allein also hat er die Kenntnis seines Namens zu teil werden lassen, als ob es allein unter allen Menschen ihm gehörte, seinen Bund hat er ihm gewissermaßen in den Schoß gelegt, seine göttliche Majestät hat er ihm gegenwärtig offenbart, mit allerlei Vorrechten hat er es geschmückt. Ich will aller anderen Wohltaten schweigen und nur das erwähnen, was hier am wichtigsten ist: er hat diesem Volke sein Wort gegeben und es so in seine Gemeinschaft gezogen, so daß er also sein Gott hieß, als sein Gott galt! Unterdessen ließ er alle anderen Völker in Eitelkeit ihre eigenen Wege gehen (Apg. 14,16) — als ob sie nichts mit ihm zu tun hätten! Ihnen bot er auch nicht das einzige Mittel zur Rettung aus solchem Elende: nämlich die Predigt seines Wortes! So war dazumal Israel sein geliebter Sohn, die anderen waren Fremde; es war ihm bekannt und unter sei nen Schutz und Schirm genommen, die anderen blieben in ihrer Finsternis; es war von Gott geheiligt, die anderen waren gottfern (profani); es war der Gegenwart Gottes gewürdigt, den anderen war jede Annäherung verschlossen! Aber als „die Zeit erfüllet war“, daß alle zurechtgebracht werden sollten, und er, der Versöhner zwischen Gott und den Menschen, offenbar wurde, da wurde die Scheidewand nie dergerissen, die Gottes Barmherzigkeit so lange auf Israel begrenzt hatte, da wurde Friede verkündigt denen, die fern waren, wie auch denen, die nahe waren, so daß sie nun, beide mit Gott versöhnt, auch untereinander zu einem geistlichen Volke zusammenwüchsen! (Eph. 2,14-17). So gilt denn hier weder Jude noch Grieche (Gal. 3,28), weder Beschneidung noch Nichtbeschnittensein (Gal. 6,15), sondern „alles und in allen Christus!“ (Kol. 3,11). Denn ihm sind alle Völker zum Erbe gegeben, die Enden der Erde zum Eigentum (Ps. 2,8), daß er ohne Unterschied herrsche von Meer zu Meer, von den Wassern bis zum äußersten Ende der Welt! (Ps. 72,8 u.a. — z.B. Sach. 9,10).


II,11,12

Die Berufung der Heiden ist also ein herrliches Zeichen, das die Über legenheit des Neuen Testaments über das Alte deutlich macht. Sie war gewiß schon von den Propheten in vielen und herrlichen Offenbarungssprüchen bezeugt; aber die Erfüllung fiel dabei stets in das Messiasreich! Sogar Christus selber ist nicht gleich zu Anfang seiner Verkündigung dazu geschritten; sondern er hat das aufgeschoben bis dahin, wo er unsere Erlösung vollkommen vollbracht hatte, nämlich wo die Zeit seiner Erniedrigung zu Ende war und er vom Vater jenen „Namen“ empfangen hatte, der „über alle Namen ist, vor dem sich beugen sollen aller … Knie …“ (Phil. 2,9). Als diese Gnadenzeit noch nicht da war, gab er dem kanaanäischen Weibe die Auskunft: „Ich bin nicht gesandt denn nur zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel“ (Matth. 15,24). Auch die Apostel erhalten bei ihrer ersten Aussen dung den ausdrücklichen Befehl, nicht über Israels Grenzen hinauszugehen! (Matth. 10,5f.). „Gehet nicht auf der Heiden Straße und ziehet nicht in der Samariter Städte, sondern gehet hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel!“ Mochten aber auch noch so viele Stellen in der Schrift von der Berufung der Heiden reden, so kam sie doch den Aposteln, als sie durch ihre Arbeit den Anfang nehmen sollte, ganz neu und ungewohnt vor, ja sie entsetzten sich davor wie vor et was Schrecklichem! Schließlich haben sie ihren Auftrag in Angriff genommen, doch nur furchtsam und widerstrebend. Das kann uns nicht wundernehmen: es schien wirk­lich recht widersinnig, daß der Herr, der Israel so lange Jahrhunderte hindurch von den anderen Völkern abgesondert hatte, nun plötzlich seinen Plan gewandelt haben und die von ihm selbst getroffene Wahl ändern sollte! Es war das gewiß in Weissagungen vorhergesagt — aber so sehr konnten sie nicht auf diese blicken, daß ihnen die Sache selbst in ihrer Neuheit, wie sie sich ihnen vor Augen stellte, nichts mehr ausgemacht hätte. Auch die Beispiele, die Gott für die künftige Berufung der Heiden bereits gegeben hatte, waren doch nicht ausreichend, um sie mit der Sache zu befreunden. Denn einmal waren es ja nur ganz wenige, die Gott bereits berufen hatte — und dann hatte er sie ja auch gewissermaßen in Abrahams Geschlecht ein gefügt, so daß sie zu seinem Volke hinzukamen! Diese neue Berufung aber ge­schah frei öffentlich, und sie stellte die Heiden den Juden gleich, ja es schien, als wären die Juden alle miteinander verstorben und die Heiden an ihre Stelle getre ten! Nun muß man bedenken, daß auch jene wenigen Fremden, die Gott ehedem in seine Kirche aufgenommen hatte, ja keineswegs den Juden gleichgestellt waren. Es ist gewiß nicht unrichtig, wenn Paulus dies ein Geheimnis nennt und als solches so eifrig verkündigt, ein Geheimnis, das Jahrhunderten und Generationen verbor gen war und das, wie er sagt, selbst den Engeln ein Wunder ist! (Kol. 1,26; vgl. 1. Petr. 1,12).


II,11,13

Mit diesen vier oder fünf Stücken hoffe ich den ganzen Unterschied zwischen dem Alten und dem Neuen Testament entfaltet zu haben, soweit es die Schlichtheit der Lehre erfordert. Aber es gibt Leute, die es für einen großen Widersinn erklären, daß Gott seine Kirche auf so verschiedene Weise gelenkt, so mehrfältig gelehrt und ihr eine so große Unterschiedlichkeit der äußeren Gebräuche gegeben habe. Bevor wir weitergehen, müssen diese Leute eine Antwort haben. Das kann recht kurz vor sich gehen; denn ihre Einwendungen sind nicht so wesentlich, daß eine gründliche Widerlegung nötig wäre. Man sagt also: Es ist nicht einzusehen, warum denn Gott, der sich doch stets gleichbleibt, eine derartige Veränderung erfahren haben könnte, daß er, was er einmal befohlen und angeordnet hatte, nun später verworfen hätte. Ich antworte: Wenn Gott zu verschiedenen Zeiten verschiedene Einrichtungen getroffen hat, je nachdem er es für heilsam hielt, so kann man ihn deshalb keineswegs für veränderlich erklären. Wenn ein Bauer seinem Gesinde im Winter andere Aufgaben erteilt als im Sommer, so können wir ihn deswegen doch nicht für wankel mütig erklären; auch dürfen wir ihm keine Abweichung von den Grundsätzen des Ackerbaus vorwerfen, der doch gerade mit dem regelmäßigen Ablauf der Natur (cum perpetuo naturae ordine) zusammenhängt. Und ähnlich: wenn ein Vater seine Kinder in der Kindheit, im Jugendalter und in der reiferen Jugendzeit je anders erzieht, regiert und behandelt, so kann man ihn doch deshalb nicht für leichtsinnig oder wankelmütig halten! Wie sollen wir aber dann Gott Unbeständigkeit vorwer fen, weil er die Verschiedenheit der Zeiten auch in entsprechender Weise äußerlich hat zur Geltung kommen lassen? Ich will zum Schluß noch ein letztes Gleichnis nen nen — das muß uns dann genug sein! Paulus vergleicht nämlich die Juden mit unmündigen Kindern, die Christen mit reiferen Jünglingen (Gal. 4,1ff.). Was soll dann aber Unordentliches daran sein, wenn Gott in seiner Regierung die Juden mit den Anfangsgründen befaßte, die dem Maß ihres Alters entsprachen, und wenn er anderseits uns schon in kräftigerer, sozusagen männlicherer Lehre unterwies? Gottes Beständigkeit kommt also darin zum Vorschein, daß er Menschen aller Zeiten die gleiche Lehre hat verkündigen lassen: die Verehrung seiner göttlichen Majestät, die er einst im Anfang vorgeschrieben hat, verlangt er fort und fort! Daß er dabei jedoch verschiedene äußere Gestalt und Art anwendet, ist keineswegs ein Beweis da für, daß er der Veränderlichkeit unterworfen wäre; nein, er hat sich in etwa nach dem Verständnis des Menschen, das ja verschieden und veränderlich ist, gerichtet!
Simon W.

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II,11,7

Damit komme ich zur dritten Verschiedenheit. Sie ergibt sich aus einem Wort des Jeremia: „Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund machen; nicht wie der Bund ge wesen ist, den ich mit ihren Vätern gemacht habe, da ich sie bei der Hand nahm, daß ich sie aus Ägyptenland führte, welchen Bund sie nicht gehalten haben, und ich sie zwingen mußte, spricht der Herr. Sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel machen will nach dieser Zeit, spricht der Herr: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben … und wird keiner den anderen noch ein Bruder den anderen lehren … sondern sie sollen mich alle kennen, beide, klein und groß … denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben …“ (Jer. 31,31-34; Calvin dreht die Reihenfolge teilweise um). Diese Worte haben dem Apostel zu einem Vergleich zwischen Gesetz und Evangelium Anlaß gegeben: er nennt das Gesetz eine Lehre des Buchstabens, das Evangelium eine Lehre des Geistes; das Gesetz, sagt er, sei auf steinerne Tafeln geschrieben, das Evangelium ins Herz eingegraben; das Gesetz gilt so als Predigt des Todes, das Evangelium als Predigt des Lebens, das Gesetz Predigt die Verdammnis, das Evangelium die Gerechtigkeit, das Gesetz hört auf, das Evangelium bleibt! (2. Kor. 3,6-11). Der Apostel will zunächst deutlich aussprechen, was der Prophet meinte; und deshalb könnte es genügen, einen von beiden zu hören, um beider Ansicht kennenzulernen. Aber es besteht doch auch ein gewisser Unterschied zwischen ihnen. Denn der Apostel spricht schärfer gegen das Gesetz als der Prophet. Das geschieht nicht einfach des Gesetzes selber wegen, sondern weil es damals unverständige Verteidiger des Gesetzes gab, die durch ihr verkehrtes Trachten nach äußeren Gebräuchen den Sinn des Evangeliums verfinster ten! Unter Berücksichtigung ihres Irrtums und ihres törichten Bemühens um das Gesetz setzt er sich mit ihnen über das Wesen dieses Gesetzes auseinander. Diese Eigenart der Worte des Apostels darf nicht übersehen werden. Aber es halten ja doch beide (der Prophet und der Apostel) das Alte und das Neue Testament gegen­einander, und beide sehen am Gesetz nur das an, was ihm wirklich eigen ist. Ich will ein Beispiel nennen: das Gesetz enthält zwischendurch eine ganze Reihe von Ver heißungen göttlicher Barmherzigkeit; aber die stammen aus einer anderen Quelle und kommen nicht in Betracht, wenn man vom eigentlichen Wesen des Ge setzes reden will! Deshalb schreiben sie beide, der Prophet wie der Apostel, dem Ge setz selbst nur dies zu: es verordnet das Rechte, verbietet das Unrecht, verheißt denen, die Gerechtigkeit tun, den Lohn und droht den Übertretern mit Strafe — die Verkehrtheit des Herzens aber, die doch von Natur in allen Menschen steckt, läßt es unterdessen unverändert und unausgefegt!


II,11,8

Wir wollen jetzt dem Vergleich des Apostels einzeln nachgehen. Das Alte Testament ist eine Buchstabenlehre; denn es ist ohne die Machtwirkung des Heiligen Geistes verkündet worden. Das Neue Testament ist geistlich: denn der Herr hat es durch den Geist den Menschen ins Herz eingegraben! Der zweite Gegensatz ist eine Erklärung des ersten: das Alte Testament bringt den Tod — denn es vermag ja nichts anderes, als über die ganze Menschheit den Fluch zu bringen! —, das Neue Testament aber ist das Werkzeug des Lebens: denn es macht uns vom Fluche frei und bringt Gottes Gnade über uns. Dementsprechend ist das Alte Testament ein Dienst der Verdammnis — denn es überführt ja alle Kinder des Adam der Ungerechtigkeit und klagt sie an! —, das Neue Testament da gegen ist das Amt der Gerechtigkeit: denn es offenbart ja Gottes Barmherzig keit, durch die wir gerechtfertigt werden! Der letzte Gegensatz (Vergänglichkeit — Ewigkeit, 2. Kor. 3,11) bezieht sich dagegen auf die Zeremonien im Gesetz. Denn da bot sich ja nur ein Bild von Dingen, die noch nicht da waren — und deshalb mußte das alles mit der Zeit vergehen und schwinden. Das Evangelium dagegen stellt uns die Sache, den Leib, selbst vor Augen und behält deshalb unverrückbar seinen Bestand! Zwar nennt Jeremia auch das sittliche Gesetz (leges morales) einen schwachen und gebrechlichen Bund; aber das geschieht aus einem anderen Grunde: nämlich weil durch den plötzlichen Abfall des undankbaren Volkes dies Ge setz so bald zerbrochen worden war; weil es sich aber dabei eben um eine schuldhafte Gesetzesübertretung des Volkes handelte, so bezieht sich diese Bemerkung nicht auf den Alten Bund selbst. Die Zeremonien dagegen, die um ihrer Kraftlosig keit willen mit dem Kommen Christi von selber aufhörten, hatten den Grund zu dieser Kraftlosigkeit in sich selber. Die Unterscheidung von Buchstaben und Geist darf man endlich nicht so verstehen, als ob der Herr den Juden sein Gesetz ganz ohne Frucht gegeben hätte, also keiner zu ihm bekehrt worden wäre, vielmehr dient dieser Gegensatz (Buch stabe — Geist) einem Vergleich: er soll den Reichtum der Gnade preisen, mit wel cher der gleiche Gesetzgeber, gewissermaßen als eine neue Person, die Predigt des Evangeliums ausgezeichnet hat. Wenn wir nämlich die Zahl derer ermessen, die Gott aus allen Völkern durch seinen Geist wiedergeboren und durch die Predigt seines Evangeliums seiner Kirche eingeordnet hat, so werden wir allerdings sagen: es waren ganz wenige Menschen, ja fast gar keine, die einst in Israel den Bund des Herrn von ganzem Herzen angenommen haben — und doch sind es viele, wenn man ihre bloße Zahl ins Auge faßt und Vergleiche unterläßt!


II,11,9

Aus jener dritten Unterscheidung ergibt sich von selbst die vierte. Die Schrift nennt das Alte Testament ein Testament der Knechtschaft, weil es ja im Herzen Furcht erzeugt; das Neue Testament heißt demgegenüber ein Testament der Frei heit, weil es uns innerlich zuversichtlich und gewiß macht. So schreibt Paulus im achten Kapitel des Römerbriefs: „Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, daß ihr euch abermals fürchten müßtet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch welchen wir rufen: ‚Abba, lieber Vater!’“ (Röm. 8,15). Hier her gehört auch, was wir im Hebräerbrief lesen: „Ihr seid nicht gekommen zu dem (leiblichen) Berge, … der mit Feuer brannte, noch zu dem Dunkel und Finsternis und Ungewitter“, wo ja alles, was man sah und hörte, nur Furcht und Grausen ein jagte, so daß auch Mose sich entsetzte, als jene schreckliche Stimme ertönte, die allen entsetzlich war zu hören, — „sondern ihr seid gekommen zu dem Berge Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem …“ (Hebr. 12,18-22). Der Gesichtspunkt, den wir Paulus eben im Römerbrief kurz vorbringen hörten, wird von ihm im Galaterbrief mit größerer Ausführlichkeit entfaltet. Er deutet dort das Wesen der beiden Söhne Abrahams in sinnbildlicher Weise an. Hagar ist unfrei, ist eine Magd, und sie dient zum Bilde des Berges Sinai, wo Israel das Gesetz empfing! Sara ist demgegenüber die Freie und gilt als Bild des himmlischen Jerusalem, von dem das Evangelium herkommt! Denn wie die Nach kommenschaft der Hagar unfrei geboren wird, weil sie eben nie Anteil am Erbe gewinnt, die Kinder der Sara aber frei geboren werden, weil ihnen das Erbteil zukommt — so werden wir durch das Gesetz der Knechtschaft unterworfen und allein durch das Evangelium zur Freiheit neu geboren! (Gal. 4,22-31). Der Sinn dieser bildlichen Ausdeutung ist der: Das Alte Testament hat dem Gewissen Schrecken und Furcht gebracht; das Neue Testament bringt uns Gottes Wohltat und erfüllt das Herz mit Freude! So hat also das Alte Testament die Gewissen im Joche der Knechtschaft gehalten, während uns das Neue durch Großmut frei macht! Nun könnte man mir aber aus dem Volke Israel die heiligen Väter ent gegenhalten, die doch ganz gewiß denselben Geist des Glaubens empfangen haben wie wir, und deshalb notwendig auch an der gleichen Freiheit und Freude Anteil gehabt haben müssen. Ich antworte darauf: Das stammt aber beides nicht aus dem Gesetz; diese Männer haben es erfahren, wie sie das Gesetz und ihre Stellung unter der Knechtschaft drückte, wie das Gewissen sie mit seiner Unruhe peinigte — und da haben sie sich unter den Schutz des Evangeliums geflüchtet; so war es also im eigentlichen Sinne eine Frucht des Neuen Testaments, wenn sie ohne das Gesetz des Alten Bundes von solcher Not frei wurden! Außerdem haben sie nach meiner Anschauung den Geist der Freiheit und Gewißheit nicht, in dem Sinne empfangen, daß sie nun etwa gar keine Furcht oder Knechtung vom Gesetz her erlebt hätten! Ob sie auch wohl jenes herrliche Vorrecht genossen, das sie durch die im Evange lium uns entgegentretende Gnade empfangen hatten, so waren sie doch den gleichen Bindungen und Lasten in der Ausübung äußerer Zeremonien unterworfen wie an dere Leute auch. So waren sie also verpflichtet, die äußeren Ordnungen gründlich einzuhalten, die doch Zeichen einer Zucht waren, die der Knechtschaft ähnlich sah, Hand schriften, in denen sie sich als Sünder bekannten — und die sie nicht zu tilgen ver mochten! Wenn man sie deshalb mit uns vergleicht und wenn man die allgemeine Ordnung beachtet, die der Herr damals seinem Volke Israel gegenüber anwandte, so muß man mit Recht sagen, daß auch diese heiligen Väter noch unter dem Testa ment der Knechtschaft und der Furcht gestanden haben.
Simon W.

Der Pilgrim
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II,11,10

Die drei zuletzt genannten Vergleichungen betrafen Gesetz und Evange lium; in ihnen wird also das Gesetz als Altes, das Evangelium als Neues Testament bezeichnet. Nur die allererste Unterscheidung ist umfassender: sie umfaßt auch die vor dem Gesetz gegebenen Verheißungen! Diese Verheißungen selbst will nun Augustin unter keinen Umständen zum Alten Testament gerechnet wissen; und er hat darin völlig recht. Denn er hat damit nur zeigen wollen, was auch wir lehren: hat er doch ebenfalls jene Aussprüche des Jeremia und des Paulus vor Au gen, in denen das Alte Testament von dem Wort der Gnade und Barmherzigkeit unterschieden wird! Sehr durchdacht ist es auch, wenn er an derselben Stelle noch hinzusetzt: seit Anbeginn der Welt gehörten alle Kinder der Verheißung, alle, die Gott wiedergeboren hat, alle, die im Glauben, der in der Liebe tätig ist, den Geboten gehorcht haben, zum neuen Bunde! Dabei hofften sie nicht auf fleischliche, irdische, zeitliche Dinge, sondern auf geistliche, himmlische, ewige Güter. Vor allem aber glaubten sie an den Mittler; und sie wußten gewiß, daß er ihnen den Geist darreichte, um Gutes zu tun, und daß er ihnen Vergebung gewährte, wenn sie sündigten! (An Bonifacius III,4). Eben dies hatte auch ich zu beweisen die Absicht: Alle Heiligen, die Gott seit Anbeginn der Welt erwählt hat, wie die Schrift uns berichtet, sind auch des gleichen Segens zu ihrem ewigen Heil teil haftig geworden wie wir. Nun sagt aber Christus: „Das Gesetz und die Propheten haben geweissagt bis auf Johannes“ (Matth. 11,13), und seitdem wird das Reich Gottes gepredigt. So besteht nun zwischen meiner Darstellung dieser Verschieden heit und der des Augustin ein Unterschied: ich unterscheide zwischen der Klarheit des Evangeliums und der dunkleren Verlautbarung des Wortes in der ver gangenen Zeit; Augustin dagegen unterscheidet einfach das Gesetz in seiner Kraftlosigkeit vom Evangelium mit seiner Kraft und Sicherheit. Freilich muß hier doch auch gesagt werden: die heiligen Väter haben ihr Leben unter dem Alten Testament so geführt, daß sie nicht daran hängenblieben, sondern sich stets nach dem Neuen ausgestreckt und daran sogar wirklich Anteil gehabt ha ben! Denn der Apostel spricht ja das Verdammungsurteil über die, welche sich mit den gegenwärtigen Schatten zufrieden gaben und sich nicht innerlich auf Christus hin ausrichteten. Und das ist ja auch so: lassen wir selbst alles andere beiseite, so gibt es doch nichts Törichteres, als von der Schlachtung eines Stücks Vieh Sühne für die Sünde zu erhoffen, von der äußeren Besprengung mit Wasser eine Reinigung der Seele zu erwarten oder mit törichten Zeremonien Gottes Wohlgefallen zu su chen, als ob er daran gerade seine Freude hätte! Zu lauter solchem Unfug kommt man, wenn man ohne den Blick auf Christus an der äußerlichen Beobach tung des Gesetzes hängenbleibt!


II,11,11

Man kann noch eine fünfte Unterscheidungsart zufügen; sie beruht darauf, daß der Herr bis zum Kommen Christi nur ein einziges Volk abgesondert und er wählt hat, um seinen Gnadenbund gleichsam darin einzuschließen. „Da der Aller höchste die Völker verteilte, als er zerstreute der Menschen Kinder“, so hören wir bei Mose, „… da nahm er Israel zu seinem Teil, und Jakob ist sein Erbe“ (Deut. 32,8f.; nicht Luthertext). An anderer Stelle redet er das Volk an: „Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel, die Erde und alles, was darinnen ist, das ist des Herrn, deines Gottes. Dennoch hat er allein zu deinen Vätern Lust gehabt, daß er sie liebte, und hat ihren Samen erwählt nach ihnen, euch, aus allen Völkern …“ (Deut. 10,14f.). Diesem Volk allein also hat er die Kenntnis seines Namens zu teil werden lassen, als ob es allein unter allen Menschen ihm gehörte, seinen Bund hat er ihm gewissermaßen in den Schoß gelegt, seine göttliche Majestät hat er ihm gegenwärtig offenbart, mit allerlei Vorrechten hat er es geschmückt. Ich will aller anderen Wohltaten schweigen und nur das erwähnen, was hier am wichtigsten ist: er hat diesem Volke sein Wort gegeben und es so in seine Gemeinschaft gezogen, so daß er also sein Gott hieß, als sein Gott galt! Unterdessen ließ er alle anderen Völker in Eitelkeit ihre eigenen Wege gehen (Apg. 14,16) — als ob sie nichts mit ihm zu tun hätten! Ihnen bot er auch nicht das einzige Mittel zur Rettung aus solchem Elende: nämlich die Predigt seines Wortes! So war dazumal Israel sein geliebter Sohn, die anderen waren Fremde; es war ihm bekannt und unter sei nen Schutz und Schirm genommen, die anderen blieben in ihrer Finsternis; es war von Gott geheiligt, die anderen waren gottfern (profani); es war der Gegenwart Gottes gewürdigt, den anderen war jede Annäherung verschlossen! Aber als „die Zeit erfüllet war“, daß alle zurechtgebracht werden sollten, und er, der Versöhner zwischen Gott und den Menschen, offenbar wurde, da wurde die Scheidewand nie dergerissen, die Gottes Barmherzigkeit so lange auf Israel begrenzt hatte, da wurde Friede verkündigt denen, die fern waren, wie auch denen, die nahe waren, so daß sie nun, beide mit Gott versöhnt, auch untereinander zu einem geistlichen Volke zusammenwüchsen! (Eph. 2,14-17). So gilt denn hier weder Jude noch Grieche (Gal. 3,28), weder Beschneidung noch Nichtbeschnittensein (Gal. 6,15), sondern „alles und in allen Christus!“ (Kol. 3,11). Denn ihm sind alle Völker zum Erbe gegeben, die Enden der Erde zum Eigentum (Ps. 2,8), daß er ohne Unterschied herrsche von Meer zu Meer, von den Wassern bis zum äußersten Ende der Welt! (Ps. 72,8 u.a. — z.B. Sach. 9,10).


II,11,12

Die Berufung der Heiden ist also ein herrliches Zeichen, das die Über legenheit des Neuen Testaments über das Alte deutlich macht. Sie war gewiß schon von den Propheten in vielen und herrlichen Offenbarungssprüchen bezeugt; aber die Erfüllung fiel dabei stets in das Messiasreich! Sogar Christus selber ist nicht gleich zu Anfang seiner Verkündigung dazu geschritten; sondern er hat das aufgeschoben bis dahin, wo er unsere Erlösung vollkommen vollbracht hatte, nämlich wo die Zeit seiner Erniedrigung zu Ende war und er vom Vater jenen „Namen“ empfangen hatte, der „über alle Namen ist, vor dem sich beugen sollen aller … Knie …“ (Phil. 2,9). Als diese Gnadenzeit noch nicht da war, gab er dem kanaanäischen Weibe die Auskunft: „Ich bin nicht gesandt denn nur zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel“ (Matth. 15,24). Auch die Apostel erhalten bei ihrer ersten Aussen dung den ausdrücklichen Befehl, nicht über Israels Grenzen hinauszugehen! (Matth. 10,5f.). „Gehet nicht auf der Heiden Straße und ziehet nicht in der Samariter Städte, sondern gehet hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel!“ Mochten aber auch noch so viele Stellen in der Schrift von der Berufung der Heiden reden, so kam sie doch den Aposteln, als sie durch ihre Arbeit den Anfang nehmen sollte, ganz neu und ungewohnt vor, ja sie entsetzten sich davor wie vor et was Schrecklichem! Schließlich haben sie ihren Auftrag in Angriff genommen, doch nur furchtsam und widerstrebend. Das kann uns nicht wundernehmen: es schien wirk­lich recht widersinnig, daß der Herr, der Israel so lange Jahrhunderte hindurch von den anderen Völkern abgesondert hatte, nun plötzlich seinen Plan gewandelt haben und die von ihm selbst getroffene Wahl ändern sollte! Es war das gewiß in Weissagungen vorhergesagt — aber so sehr konnten sie nicht auf diese blicken, daß ihnen die Sache selbst in ihrer Neuheit, wie sie sich ihnen vor Augen stellte, nichts mehr ausgemacht hätte. Auch die Beispiele, die Gott für die künftige Berufung der Heiden bereits gegeben hatte, waren doch nicht ausreichend, um sie mit der Sache zu befreunden. Denn einmal waren es ja nur ganz wenige, die Gott bereits berufen hatte — und dann hatte er sie ja auch gewissermaßen in Abrahams Geschlecht ein gefügt, so daß sie zu seinem Volke hinzukamen! Diese neue Berufung aber ge­schah frei öffentlich, und sie stellte die Heiden den Juden gleich, ja es schien, als wären die Juden alle miteinander verstorben und die Heiden an ihre Stelle getre ten! Nun muß man bedenken, daß auch jene wenigen Fremden, die Gott ehedem in seine Kirche aufgenommen hatte, ja keineswegs den Juden gleichgestellt waren. Es ist gewiß nicht unrichtig, wenn Paulus dies ein Geheimnis nennt und als solches so eifrig verkündigt, ein Geheimnis, das Jahrhunderten und Generationen verbor gen war und das, wie er sagt, selbst den Engeln ein Wunder ist! (Kol. 1,26; vgl. 1. Petr. 1,12).


II,11,13

Mit diesen vier oder fünf Stücken hoffe ich den ganzen Unterschied zwischen dem Alten und dem Neuen Testament entfaltet zu haben, soweit es die Schlichtheit der Lehre erfordert. Aber es gibt Leute, die es für einen großen Widersinn erklären, daß Gott seine Kirche auf so verschiedene Weise gelenkt, so mehrfältig gelehrt und ihr eine so große Unterschiedlichkeit der äußeren Gebräuche gegeben habe. Bevor wir weitergehen, müssen diese Leute eine Antwort haben. Das kann recht kurz vor sich gehen; denn ihre Einwendungen sind nicht so wesentlich, daß eine gründliche Widerlegung nötig wäre. Man sagt also: Es ist nicht einzusehen, warum denn Gott, der sich doch stets gleichbleibt, eine derartige Veränderung erfahren haben könnte, daß er, was er einmal befohlen und angeordnet hatte, nun später verworfen hätte. Ich antworte: Wenn Gott zu verschiedenen Zeiten verschiedene Einrichtungen getroffen hat, je nachdem er es für heilsam hielt, so kann man ihn deshalb keineswegs für veränderlich erklären. Wenn ein Bauer seinem Gesinde im Winter andere Aufgaben erteilt als im Sommer, so können wir ihn deswegen doch nicht für wankel mütig erklären; auch dürfen wir ihm keine Abweichung von den Grundsätzen des Ackerbaus vorwerfen, der doch gerade mit dem regelmäßigen Ablauf der Natur (cum perpetuo naturae ordine) zusammenhängt. Und ähnlich: wenn ein Vater seine Kinder in der Kindheit, im Jugendalter und in der reiferen Jugendzeit je anders erzieht, regiert und behandelt, so kann man ihn doch deshalb nicht für leichtsinnig oder wankelmütig halten! Wie sollen wir aber dann Gott Unbeständigkeit vorwer fen, weil er die Verschiedenheit der Zeiten auch in entsprechender Weise äußerlich hat zur Geltung kommen lassen? Ich will zum Schluß noch ein letztes Gleichnis nen nen — das muß uns dann genug sein! Paulus vergleicht nämlich die Juden mit unmündigen Kindern, die Christen mit reiferen Jünglingen (Gal. 4,1ff.). Was soll dann aber Unordentliches daran sein, wenn Gott in seiner Regierung die Juden mit den Anfangsgründen befaßte, die dem Maß ihres Alters entsprachen, und wenn er anderseits uns schon in kräftigerer, sozusagen männlicherer Lehre unterwies? Gottes Beständigkeit kommt also darin zum Vorschein, daß er Menschen aller Zeiten die gleiche Lehre hat verkündigen lassen: die Verehrung seiner göttlichen Majestät, die er einst im Anfang vorgeschrieben hat, verlangt er fort und fort! Daß er dabei jedoch verschiedene äußere Gestalt und Art anwendet, ist keineswegs ein Beweis da für, daß er der Veränderlichkeit unterworfen wäre; nein, er hat sich in etwa nach dem Verständnis des Menschen, das ja verschieden und veränderlich ist, gerichtet!
Simon W.

Der Pilgrim
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II,11,14

Aber man fragt weiter: Woher denn diese Verschiedenartigkeit? Gott muß sie doch so gewollt haben! Und konnte er nicht seit Anbeginn der Welt wie auch nach dem Kommen Christi das ewige Leben in klaren Worten ohne alle bildlichen Dar stellungen offenbaren, die Seinen mit wenigen und klaren Sakramenten erziehen, den Heiligen Geist den Menschen zuteil werden und seine Gnade über alle Welt kom­men lassen? Das ist aber genau so, als wenn man mit Gott rechten wollte, warum er die Welt so spät geschaffen habe, obwohl er es doch gleich zu Anfang hätte tun können, und warum er einen regelmäßigen Wechsel zwischen Winter und Sommer, Tag und Nacht festgesetzt hat. Wir aber — das müssen alle Frommen so empfin den — dürfen nicht daran zweifeln, daß alles, was Gott getan hat, weise und gerecht geschehen ist, auch wenn wir oft nicht den Grund wissen, weshalb es so geschehen mußte. Denn es hieße doch wohl, uns allzuviel anzumaßen, wenn wir Gott das Recht abstreiten wollten, bei seinem Ratschluß seine besonderen Gründe zu haben, die uns verborgen sind. Man fragt aber noch weiter: Es ist doch verwunderlich, daß er heutzutage Tier opfer und den ganzen Apparat des levitischen Priestertums verwirft und mit Ab scheu von sich weist, an denen er sich doch einst erfreut hat! Als ob diese hinfälligen und kraftlosen Äußerlichkeiten Gott hätten erfreuen oder ihn überhaupt nur be rühren können! Es wurde uns ja schon deutlich, daß er das alles nicht um seiner selbst willen gemacht, sondern zum Heil der Menschen angeordnet hat. Hat der Arzt einen Menschen als Jüngling tadellos geheilt und verwendet er dann bei dem selben Menschen, wenn er alt geworden ist, andere Mittel und Wege zur Heilung, so werden wir doch nicht sagen, er hätte die Heilweise verworfen, die er einst ver wendet! Nein, gerade weil er beständig bei der gleichen Heilweise bleibt, so berück sichtigt er das Lebensalter des Kranken! So mußte Christus, als er noch nicht da war, mit besonderen Zeichen vorgebildet und als der Kommende angekündigt werden — und diese Zeichen waren andere als die, die ihn heute, da er offenbar geworden ist, darstellen müssen. Freilich, heute, nach dem Kommen Christi, geht Gottes Ruf wei ter, als es zuvor geschah, er ergeht ja über alle Völker hin; die Gnade seines Hei ligen Geistes ist nun reicher ausgegossen als einst; aber ich frage doch: will man denn leugnen, daß es billigerweise in Gottes Hand und Ermessen steht, wie er seine Gnade austeilen und zu welchen Völkern er sie dringen lassen will? Soll nicht er die Entscheidung darüber haben, an welchen Orten er die Predigt seines Wortes geschehen lassen und wie viel Fortschreiten und Erfolg er ihr gewähren will? Hat er nicht das Recht, der Welt in ihrer Undankbarkeit zu jeder Zeit, da er will, die Kenntnis seines Namens zu entziehen, sie aber auch, wann er will, nach seiner Barmherzigkeit wieder zu gewähren? Wir sehen: es sind also unwürdige Schmähungen, mit denen die Gottlosen in diesem Stück das Gewissen schlichter Leute beunruhigen um Gottes Gerechtigkeit und auch die Vertrauenswürdigkeit der Schrift in Zweifel zu ziehen.


Zwölftes Kapitel: Um das Mittleramt ausrichten zu können, mußte Christus Mensch werden.

II,12,1

Es war von größter Wichtigkeit für uns, daß der, welcher unser Mittler sein sollte, wirklich wahrer Gott und wahrer Mensch wäre. Das beruht nun freilich nicht, wie man sagt, auf einer „einfachen“ oder „absoluten“ Notwendigkeit, sondern es er gibt sich aus dem himmlischen Ratschluß, von dem das Heil der Menschen abhing. Der Vater hat eben in seiner Freundlichkeit beschlossen, was nach seiner Fest­setzung für uns das Beste war! Denn unsere Ungerechtigkeit stand ja wie eine Wolke zwischen uns und ihm, sie entfremdete uns gänzlich vom Himmelreich, und deshalb konnte uns keiner wieder Frieden schaffen als der, der vollen Zutritt zu ihm hatte. Von wem aber sollte das gelten? Wer vermochte das unter den Kindern Adams? Sie zitterten doch alle mit ihrem Urvater zusammen vor Gottes Blick! Vielleicht einer von den Engeln? Aber sie hatten selber ein Haupt nötig, um fest und unzertrennlich mit ihrem Gott in Gemeinschaft zu stehen! Wie sollte es nun werden? Es wäre wahrhaft jämmerlich um uns bestellt gewesen, wenn nicht Gottes Majestät selber zu uns herniedergekommen wäre — denn hinaufsteigen konnten wir ja eben nicht! So mußte der Sohn Gottes für uns zum Immanuel werden, das heißt „Gott mit uns!“, und zwar so, daß seine Gottheit und die menschliche Natur sich aufs innigste miteinander vereinten. Auf keine andere Weise konnte Gott uns ganz nahe kommen, auf keine andere Art eine feste innere Verbundenheit und damit die zuver sichtliche Hoffnung entstehen, daß er wahrhaft unter uns wohne! So unausgleichbar war der Abstand zwischen uns in unserer Befleckung und Gott in seiner herrlichen Reinheit! Freilich: hätte auch der Mensch sich von allem Sündenunflat frei gehalten, wäre er rein geblieben, so wäre er dennoch zu niedrig gewesen, um mit Gott ohne den Mittler in Gemeinschaft zu kommen! Was sollte aber dann erst aus ihm werden, als er durch fürchterlichen Zusammenbruch in Tod und Hölle versunken, mit soviel Schande befleckt, in seiner Verderbnis bereits stinkend und gänzlich dem Fluch ver fallen war? Es ist deshalb nicht unrichtig, wenn Paulus, um Christus als den Mittler zu bezeichnen, ihn ausdrücklich einen Menschen nennt. „Es ist … ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Jesus Christus!“ (1. Tim. 2,5). Er konnte auch sagen „der Gott …“, konnte auch beide Bezeich nungen, Gott und Mensch, weglassen; aber der Heilige Geist, der durch seinen Mund redet, kennt unsere Schwachheit, wollte uns schnell Hilfe bringen und wandte dazu das beste Mittel an: er stellte Gottes Sohn vertraut in unsere Mitte wie einen unseresgleichen! Nun soll sich keiner mehr quälen und fragen, wo man denn diesen Mittler finden könnte oder auf was für einem Wege zu ihm zu gelangen sei: der Geist nennt ihn einen Menschen und zeigt uns damit, daß er uns nahe, ja, daß er unseresgleichen ist, denn er ist ja unser Fleisch und Blut! Das gleiche fin den wir an anderer Stelle noch deutlicher entfaltet: „Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte Mitleiden haben mit unseren Schwachheiten, sondern der versucht ist allenthalben, doch ohne Sünde“ (Hebr. 4,15).
Simon W.

Der Pilgrim
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II,12,2

Das wird uns noch deutlicher werden, wenn wir über die ungewöhnliche Auf gabe des Mittlers nachdenken. Sollte er uns doch dergestalt bei Gott in Gnade bringen, daß wir aus Menschenkindern zu Gottes Kindern würden, aus Erben der Hölle zu Erben des Himmelreichs. Wer sollte aber dies fertigbringen — sofern nicht der Sohn Gottes auch zum Sohn des Menschen wurde, dabei annahm, was unsere Art ist, und uns zuteil werden ließ, was ihm gehörte, wenn er uns nicht, was ihm von Natur zukam, in Gnaden übermachte? Auf dies Unterpfand verlassen wir uns und vertrauen zuversichtlich, daß wir nun Gottes Kinder sind, da ja Gottes natürlicher Sohn einen Leib von unserem Leib, Fleisch von unserem Fleisch, Gebein von unserem Gebein angenommen hat, um uns in allen Stücken gleich zu sein! Er hat sich nicht gescheut, anzunehmen, was uns eigen war, damit wiederum auch uns eigen würde, was ihm zugehört — so daß er jetzt mit uns ganz zusammengehört als Gottes Sohn und Menschensohn. Daher denn diese heilige Bruderschaft, die er selbst mit eigenem Wort so hoch erhebt: „Ich gehe zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott“ (Joh. 20,17). Auf diese Weise sind wir des Himmelreichs als unseres Erbes gewiß, weil ja Gottes ei niger Sohn, dem dieses Erbe als sicherer Besitz zukommt, uns zu Brüdern ange nommen hat; sind wir aber seine Brüder, so sind wir auch Mitgenossen seines Er bes (Röm. 8,17). Aber noch aus einem anderen Grunde mußte der, der uns erlösen sollte, wahrer Gott und wahrer Mensch sein. Denn er sollte ja den Tod überwinden — und wer sollte das vermögen als das Leben? Er sollte die Sünde niederwerfen — und wer sollte das ausrichten als die Gerechtigkeit selber? Die Mächte der Welt, die in der Luft herrschen, sollte er stürzen — und wer sollte das können als eine Kraft, die stärker war als die Welt und alle Gewalten? Bei wem aber ist nun das Leben, bei wem die Gerechtigkeit, bei wem die Herrschaft und Gewalt über alle Himmel — als bei Gott allein? So hat sich Gott in seiner großen Barmherzigkeit selber in der Gestalt seines eingeborenen Sohnes zu unserem Erlöser gemacht, um uns von der Sünde frei zu machen.


II,12,3

Das zweite wesentliche Erfordernis für unsere Versöhnung mit Gott bestand darin, daß der Mensch, der durch seinen eigenen Ungehorsam verlorengegangen war, dafür vollkommenen Gehorsam leistete, dem Urteil Gottes Genüge tat und die Strafe für seine Sünde voll und ganz trug. Da trat unser Herr selber als wahrer Mensch ins Mittel, nahm die Gestalt Adams an, legte sich seinen Namen bei, um an seiner Statt dem Vater den schuldigen Gehorsam darzubringen, um unser Fleisch als Versöhnung vor Gottes gerechtes Gericht hinzustellen und in diesem Fleische die Strafe zu leiden, die wir verdient hatten! Aber er konnte den Tod ja allein als Gott nicht wirklich schmecken, konnte ihn anderseits als Mensch nicht überwinden — und deshalb vereinigte er in sich die menschliche Natur mit der göttlichen; so unterlag er nach der Schwachheit der menschlichen Natur dem Tode, um unsere Sünden zu sühnen — und so konnte er nach der Kraft der göttlichen Natur den Kampf gegen den Tod führen, um für uns den Sieg zu erringen! Wer also Christus seiner Gottheit oder auch seiner Menschheit berauben will, der mindert entweder seine Majestät und seine Ehre, oder er verdunkelt seine Güte gegen uns. Aber ebenso groß ist dann auch anderseits das Unrecht, das man dem Menschen zufügt: man erschüttert und verkehrt seinen Glauben, der nur auf diesem Grunde sicher stehen kann. Zudem sollte auch als Erlöser jener Sohn Abrahams und Davids erwartet wer den, den Gott im Gesetz und in den Propheten verheißen hatte; die Frommen können daraus, daß schon sein Herkommen augenscheinlich bis auf David und Abraham zurückgeht, als weitere Frucht die Gewißheit nehmen: dies ist der Christus, der uns in so vielen Weissagungen gepriesen wird! Vor allem aber müssen wir festhalten, was ich bereits auseinandergesetzt habe: Christi Wesen, das Gott und Mensch ge meinsam umfaßt, ist die Bürgschaft für unsere Gemeinschaft mit ihm als dem Sohne Gottes, in unserem Fleisch hat er Tod und Sünde niedergeworfen, so daß wir den Sieg haben, wir den Triumph führen dürfen; unser Fleisch hat er angenommen und es zum Opfer dargebracht, um unsere Schuld durch sein Sühnopfer zunichte zu machen und Gottes gerechten Zorn gegen uns zu versöhnen!


II,12,4

Wer diese Stücke mit der gebührenden Aufmerksamkeit ins Auge faßt, der wird leicht mit den grundlosen Spekulationen fertig werden, wie sie von leichtfertigen und neuerungssüchtigen Leuten aufgebracht werden. Dazu gehört vor allem die Be hauptung, Christus wäre auch dann Mensch geworden, wenn es eines Mittels zur Erlösung der Menschheit nicht bedurft hätte. Ich gebe zwar zu: schon bei der Ord nung der ersten Schöpfung, also im unverdorbenen Zustande, wurde er den Engeln und Menschen zum Haupt gesetzt: er heißt deshalb ja auch bei Paulus „der Erst geborene vor allen Kreaturen“ (Kol. 1,15). Aber die ganze Schrift sagt doch deut lich genug aus, daß er unser Fleisch angenommen hat, um unser Erlöser zu wer den, und deshalb wäre es höchste Vermessenheit, sich einen anderen Grund und einen anderen Zweck dazu zu ersinnen. Es ist doch bekannt, wohin all die Ver heißungen zielten, die seit dem Anbeginn von Christus zeugten: er sollte die zer fallene Welt wiederherstellen und den Menschen in ihrer Verlorenheit zu Hilfe kom men. Deshalb wurde sein Bild unter dem Gesetz in den Opfern angedeutet, da mit die Gläubigen hofften, Gott werde ihnen gnädig sein, nachdem die Sünde ge sühnt und er mit ihnen versöhnt wäre! Zu allen Zeiten, schon vor der Verkündung des Gesetzes, geschieht nie eine Verheißung des Mittlers ohne Blut; und daraus müssen wir schließen, daß der Mittler nach Gottes ewigem Ratschluß dazu verordnet gewesen ist, unsere Sünden abzuwaschen; denn das Blutvergießen ist ja ein Zei chen der Sühne. Die Propheten haben ebenfalls so von ihm gepredigt, daß er in ihrer Verheißung als Versöhner zwischen Gott und den Menschen erschien. Zum Beweise mag hier vor allem das berühmte Zeugnis des Jesaja genügen: er verheißt, der Mittler solle „um unserer Missetat willen“ durch Gottes Hand „zerschlagen“ wer den, die „Strafe liege auf ihm“, „auf daß wir Frieden hätten“, er werde der Priester sein, der sich selbst zum Opfer darbringe, „und durch seine Wunden“ sollten andere „heil werden“; weil wir alle „in der Irre gingen wie Schafe“, so habe es Gott wohl gefallen, ihn zu schlagen, daß er unser aller Strafe trüge … (Jes. 53,4-6). Da hören wir es ja, daß ihn Gott eben dazu berufen hat, armen Sündern in ihrem Jammer Hilfe zu bringen; wer über diese Grenze hinausgeht, der läßt seinem Vor witz zu sehr die Zügel schießen! Als er dann selber hervortrat, da hat er selbst als Grund für sein Kommen be tont, er wolle Gott mit uns versöhnen und uns dadurch vom Tode zum Leben führen. Das gleiche haben auch die Apostel von ihm bezeugt. So redet Johannes zunächst von der Sünde des Menschen und dann erst von der Fleischwerdung des Wortes! (Joh. 1,9-11; Joh. 1,14). Aber vor allem müssen wir ihn ja selber hören, wie er von sei­nem Amte sagt: „Also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Le ben haben“ (Joh. 3,16). „Es kommt die Stunde, daß die Toten werden die Stimme des Sohnes Gottes hören, und die sie hören, die werden leben“ (Joh 5,25). „Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubet, der wird leben, und ob er gleich stürbe …“ (Joh. 11,25). „Des Menschen Sohn ist gekommen, selig zu ma chen, was verloren ist …“ (Matth. 18,11). „Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht …“ (Matth. 9,12). Es wäre kein Ende, wenn ich alles aufzählen wollte! In voller Einstimmigkeit führen uns auch die Apostel zu der gleichen Quelle. Und es ist auch so: wäre er nicht gekommen, um uns mit Gott zu versöhnen, so käme ihm nicht die Ehre des Priesteramtes zu, denn der Priester stand zur Fürbitte zwi schen Gott und den Menschen (Hebr. 5,1); er wäre dann auch nicht unsere Gerechtig keit; denn dies gilt von ihm nur, weil er ja ein Opfer für uns wurde, damit uns Gott unsere Sünde nicht zurechnete (2. Kor. 5,19). Kurz, er ginge dann aller hohen Würden, die ihm die Schrift beilegt, verlustig. Auch fiele das Pauluswort dahin: „Was dem Gesetz unmöglich war, das tat Gott, und sandte seinen Sohn in der Ge stalt des sündlichen Fleisches … und verdammte die Sünde im Fleisch“ (Röm. 8,3; Calvin übersetzt etwas anders). Auch das andere Wort müßte dann fortfallen, wonach in diesem Spiegel, nämlich darin, daß Gott uns Christus als Erlöser gegeben hat, „erschienen sei die heilsame Gnade Gottes“ und seine unendliche Liebe ,,allen Menschen“! (Tit. 2,11). Kurz, die Schrift nennt nirgendwo einen anderen Zweck der Fleischwerdung des Sohnes und des Auftrags, den er vom Vater empfangen hat, als den, daß er das Opfer werde, um den Vater mit uns zu versöhnen. „Also ist’s geschrieben, und also mußte Christus leiden … und predigen lassen in seinem Na men Buße …“ (Luk. 24,46f.). „Deshalb liebt mich mein Vater, weil ich mein Le ben lasse“ „für die Schafe“; „solch Gebot habe ich empfangen von meinem Vater“ (Joh. 10,17f., Anklang von 10,12). „Wie Mose in der Wüste eine Schlange er höhet hat, also muß des Menschen Sohn auch erhöhet werden“ (Joh. 3,14). Und dann wieder: „Vater, hilf mir aus dieser Stunde. Doch dazu bin ich in diese Stunde gekommen: Vater, verkläre deinen Namen …“ (Joh. 12,27f.). An diesen Stellen bezeichnet er es selbst deutlich als Zweck der Fleischwerdung: er soll das Opfer und Sühnemittel sein, um unsere Sünde abzutun. Aus diesem Grunde verkündigt auch Zacharias, er sei nach der Verheißung gekommen, die einst den Vätern gegeben wurde, „auf daß er erscheine denen, die da sitzen in (Finsternis und) Schatten des Todes …“ (Luk. 1,79). Und dies alles wird — das dürfen wir nicht vergessen! — von dem Sohne Gottes gesagt, in welchem nach einem anderen Pauluswort „verborgen liegen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis Gottes“ (Kol. 2,3), und von dem sich Paulus rühmt, er kenne niemand denn ihn allein (1. Kor. 2,2)!
Simon W.

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II,12,5

Nun könnte jemand einwenden, Christus sei nun zwar tatsächlich der Erlöser für uns Verdammte; aber wenn wir gesund und unbefleckt geblieben wären, so hätte er uns doch auch dann seine Liebe erweisen können, indem er unser Fleisch angenommen hätte … Darauf kann ich kurz antworten: Wenn uns der Heilige Geist kundmacht, daß in Gottes ewigem Rat dies beides zusammen bestanden hat, Christus solle uns erlösen und zwar unter Teilhaben an unserer Na tur, dann ist es uns nicht erlaubt, weiter zu fragen! Denn wer sich von seiner Be gierde aufstacheln läßt, noch mehr wissen zu wollen, der beweist damit, daß er mit Gottes unabänderlichem Ratschluß nicht zufrieden ist und sich eben deshalb nicht mit dem Christus zufrieden geben will, der uns zum Erlöser gesetzt ist! Paulus zeigt ja auch nicht nur, wozu Christus gesandt sei, sondern er dringt bis in das tiefste Geheimnis der Prädestination hinein und macht damit aller menschlichen Keckheit und allem Vorwitz ein Ende. „Wie er uns denn erwählt hat durch denselben, ehe der Welt Grund gelegt war … und er hat uns verordnet zur Kindschaft gegen ihn selbst durch Jesum Christum nach dem Wohlgefallen seines Willens … und hat uns angenehm gemacht in dem Geliebten, an welchem wir haben die Erlösung durch sein Blut …“ (Eph. 1,4-7). Hier wird offenbar der Fall Adams nicht als ein be reits zuvor geschehenes Ereignis vorausgesetzt, sondern es wird uns vor Augen ge stellt, was Gott von Ewigkeit her verordnet hat, da er beschloß, der Mensch heit in ihrem Jammer zu Hilfe zu kommen! Wenn dann aber einer der Wider sacher einwendet, dieser Ratschluß Gottes sei eben in dem Sinne vom Falle des Menschen abhängig gewesen, daß Gott ihn doch selber vorhersah, so will ich nur darauf hinweisen: wer über Christus mehr zu fragen sich erlaubt oder mehr wissen will, als Gott in seinem geheimen Ratschluß festgesetzt hat, der macht sich in gottloser Vermessenheit einen neuen Christus! Es ist voll und ganz berechtigt, daß Paulus, wo er in diesem Sinne von dem eigentlichen Amte Christi redet, den Ephesern den Geist der Einsicht wünscht, „auf daß ihr begreifen möget … welches da sei die Breite und die Länge und die Tiefe und die Höhe, auch erkennen die Liebe Christi, die doch alle Erkenntnis übertrifft“ (Eph. 3,16.18f.). Es ist, als wollte Paulus unserem Geiste einen Zaun setzen, damit wir beim Nachdenken über Christus nicht das geringste Stück von der Versöhnungsgnade abweichen! Denn es ist ja nach Paulus „gewißlich wahr und ein teuer wertes Wort, daß Christus Jesus gekommen ist in die Welt, die Sünder selig zu machen …“ (1. Tim. 1,15). Dabei will ich gern bleiben. An anderer Stelle lehrt der gleiche Apostel, daß die Gnade, die uns jetzt durch das Evangelium kundgetan ist, uns in Christus bereits „vor der Zeit der Welt“ gegeben ist (2. Tim. 1,9); dabei, denke ich, müssen wir bis ans Ende verharren! Gegen diese bescheidene Zurückhaltung begehrt nun Osiander heftig auf; er hat diese Frage, die vor ihm auch von anderen schon leichtsinnig aufgebracht worden war, zu unserer Zeit wieder übel ins Rollen gebracht. Er wirft allen Leuten Ver messenheit vor, die nicht zugeben wollen, daß Christus auch dann im Fleische er schienen wäre, wenn Adam nicht gefallen wäre — und zwar, weil diese letztere Phan­tasterei durch keine Stelle der Schrift widerlegt würde! Als ob nun Paulus solchem verdrehten Vorwitz keinen Zügel anlegte, wenn er zunächst von der in Christus geschehenen Erlösung redet — und dann gleich darauf warnt. „Der törichten Fragen aber … entschlage dich!“ (Tit. 3,9). Der tolle Wahn ist bei einigen derart wild hervorgebrochen, daß sie nun — in der verkehrten Absicht, möglichst scharf sinnig zu erscheinen! — die Frage aufgeworfen haben, ob denn der Sohn Gottes auch die Natur eines Esels hätte annehmen können! Diese Ungeheuerlichkeit, die jeder fromme Mensch greulich und furchtbar finden wird, entschuldigt Osiander mit dem Vorwand, das würde doch in der Schrift nie ausdrücklich verworfen! Als ob Paulus, wenn er uns sagt, er wisse nichts Köstlicheres und Wissenswerteres als „Christum, den Gekreuzigten“ (1. Kor. 2,2), auch einen Esel als Urheber unseres Heils zuließe! Er, der von Christus sagt: „Gott hat alle Dinge unter seine Füße getan und hat ihn gesetzt zum Haupte … über alles“ (Eph. 1,22) — er wird doch keinen anderen als den Christus anerkennen als den, der das Amt der Erlösung er füllen sollte und konnte!


II,12,6

Der Grund aber, auf den Osiander pocht, ist ganz nichtswürdig. Er behauptet: der Mensch ist zum Bilde Gottes geschaffen, und das heißt, er wurde dem Bilde des künftigen Christus nachgebildet: er sollte also bereits dem ähnlich sein, der nach dem Ratschluß des Vaters einst Fleischesgestalt annehmen sollte! Daraus zieht er nun den Schluß: selbst wenn also Adam nie aus seinem ursprünglichen, unbefleckten Schöp fungsstande herausgefallen wäre, so wäre Christus doch Mensch geworden! Wie lächerlich und ungereimt diese Behauptung ist, wird jedermann erkennen, der vernünftig denken kann. Trotzdem behauptet Osiander, er hätte als erster richtig her ausbekommen, was eigentlich das „Ebenbild Gottes“ (imago Dei) sei: es wäre näm lich keineswegs bloß darin zu suchen, daß Gottes Herrlichkeit in den großartigen Gaben, die dem Menschen zuteil geworden waren, hervorleuchtete, sondern Gott hätte eben seinem Wesen nach in ihm gewohnt! Ich gebe nun zu: Adam hat das Bild Gottes nur insoweit an sich getragen, als er mit Gott verbunden war — denn das ist die wahre und höchste Würde. Aber ich behaupte anderseits, daß die Ähnlichkeit mit Gott nur in jenen herrlichen Merkmalen zu suchen ist, mit denen Gott den Adam vor allen anderen Kreaturen ausgezeichnet hatte! Daß ferner Christus auch damals schon Gottes Ebenbild ge wesen sei, ist einhellige Überzeugung aller; und deshalb kommt alles, was dem Adam selber an Hoheit geschenkt war, einzig daher, daß er durch den eingeborenen Sohn der Herrlichkeit seines Schöpfers teilhaftig wurde. Der Mensch ist also wirklich nach Gottes Ebenbild geschaffen: der Schöpfer selber wollte in ihm wie in einem Spiegel seine Herrlichkeit sichtbar werden lassen. Daß er zu einer so hohen Würde gelangte, geschah um des eingeborenen Sohnes willen. Aber ich setze doch hinzu: die ser Sohn war doch selbst auch das Haupt der Engel wie das der Menschen, so daß also die Würde, die dem Menschen zuteil wurde, auch auf die Engel sich erstreckte. Denn diese sind, wie wir hören, „Söhne Gottes“ (Ps. 82,6) — und dann ist es widersinnig, nicht anzunehmen, daß auch ihnen etwas innewohnte, in dem sie dem Vater glichen! Gott wollte also seine Herrlichkeit in den Engeln wie in den Men schen zur Darstellung bringen, wollte sie in beider Natur sichtbar machen — und deshalb ist es ein dummes Geschwätz, wenn Osiander behauptet, die Engel seien da mals von geringerer Würde gewesen als der Mensch, weil sie ja nicht Christi Bild getragen hätten. Aber (so muß man darauf antworten) sie würden sich doch nicht immerfort des gegenwärtigen Anblicks Gottes erfreuen, wenn sie ihm nicht ähnlich wären; und Paulus kennt ja selbst keinen anderen Weg zur Erneuerung des Eben bildes Gottes in den Menschen (Kol. 3,10), als daß sie in die Gemeinschaft der Engel aufgenommen und zugleich untereinander unter einem Haupte verbunden werden. Ja, wenn wir den Worten Christi glauben wollen, so wird unsere höchste Seligkeit, wenn wir in den Himmel aufgenommen sind, darin bestehen, daß wir den Engeln gleichartig sind (Matth. 22,30). Wollte man also dem Osiander zugestehen, Gottes ursprüngliches Ebenbild sei der Mensch Christus gewesen, so könnte ein an derer mit dem gleichen Recht behaupten, Christus hätte auch die Natur der Engel annehmen müssen, weil ja auch sie des Ebenbildes Gottes teilhaftig gewesen sind!
Simon W.

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II,12,7

Osiander braucht wahrhaftig keine Angst zu haben, man mache Gott notwendig zum Lügner, wenn er nicht schon vorher die feste und unbewegliche Absicht in sich getragen hätte, Christus müsse Fleisch werden. Denn wenn Adams Gerechtigkeit nicht zusammengebrochen wäre, so wäre Adam Gott ähnlich geblieben wie ja auch die Engel, und es wäre doch deshalb keineswegs nötig gewesen, daß Gottes Sohn Mensch oder Engel geworden wäre. Ganz unsinnig ist auch die Befürchtung Osianders, Christus müßte seiner hervorragenden Würde verlustig gehen, wenn nicht schon vor der Schöpfung des Menschen Gott den festen Plan gehabt hätte, daß er einst geboren werden sollte — und zwar nicht als Erlöser, sondern als der „erste Mensch“. Denn — so folgert Osiander weiter — wenn die Fleischwerdung Christi von bestimmten Umständen abhängig gewesen wäre, nämlich von der Notwendig keit, die verlorene Menschheit wieder zurechtzubringen — so wäre ja Christus nach dem Bilde Adams geschaffen! Weshalb geht Osiander denn so ängstlich an der klaren und offenen Erklärung der Schrift vorbei, Christus sei uns in allem gleich geworden, nur ohne Sünde? (Hebr. 4,15). Trägt doch auch Lukas kein Be­denken, den Herrn nach der Geschlechterfolge als Sohn Adams zu bezeichnen! (Luk. 3,38). Ich möchte doch gern wissen, warum in aller Welt denn Paulus Christus als den „zweiten“ Adam bezeichnet! (1. Kor. 15,47). Das kann doch gar keinen anderen Grund gehabt haben, als daß er eben für das wirkliche menschliche Da sein bestimmt war, um die Nachkommen des Adam aus ihrem Elende herauszu reißen! Hätte der Plan der Menschwerdung der Ordnung nach eher bestanden als die Schöpfung, so müßte ja Christus der erste Adam heißen! Da behauptet nun Osiander frisch und frech, Christus als Mensch sei ja doch im Denken Gottes schon zuvor bekannt gewesen — und Gott habe die Menschen nun nach diesem Urbild geschaffen! Aber Paulus nennt Christus doch den „zweiten“ Adam; er stellt also zwischen die ursprüngliche Erschaffung des Menschen und die Wiederherstel lung, wie wir sie in Christus erlangen, den Fall mitten hinein: aus ihm erst kommt es zu der Notwendigkeit, die Natur in den früheren Stand zu­rückzubringen, und er ist also auch der Grund, daß der Sohn Gottes geboren wer den sollte, daß er also ein Mensch wurde! Osiander schließt aber aus dieser Er wägung unsinnigerweise, dann wäre ja Adam vor seinem Fall sein eigenes Bild und nicht Christi Bild gewesen! Ich antworte darauf genau umgekehrt: selbst wenn der Sohn Gottes nie Fleisch angenommen hätte, so hätte dennoch aus dem Adam nach Leib und Seele stets Gottes Ebenbild hervorgeleuchtet — und ge rade der Glanz dieses Ebenbildes würde je und je gezeigt haben, daß Christus in Wahrheit das Haupt ist und in allem den Vorrang hat! So löst sich auch die leere Spitzfindigkeit des Osiander von selber auf, wonach die Engel Christus nicht hätten zum Haupte haben können, wenn nicht Gott die Absicht gehabt hätte, ihn Fleisch werden zu lassen, und zwar ohne Verschulden des Adam. Denn dabei stellt er in seiner Unbedachtsamkeit einen Satz auf, den kein vernünftiger Mensch ihm zugeben wird: nämlich Christus komme die Herrschaft über die Engel nur insofern zu, und darum könnten die Engel den Genuß seiner Herr schaft nur infofern haben, als er Mensch ist! Und dabei ergibt sich das Richtige doch ganz klar aus den Worten des Paulus im Kolosserbrief: danach ist Christus der „Erstgeborene vor allen Kreaturen“ als das ewige Wort Gottes (Kol. 1,15), nicht etwa, weil er erschaffen wäre oder zu den Kreaturen zählte, sondern weil der unverdorbene Zustand der Welt in seiner ursprünglichen, wundersamen Herrlich keit keinen anderen Ursprung hatte als ihn; sofern er dagegen Mensch geworden ist, nennt ihn Paulus den „Erstgeborenen von den Toten“ (Kol. 1,18). So gibt uns der Apostel in diesem einen kurzen Zusammenhang beides zu bedenken. Ein mal: es ist alles durch den Sohn geschaffen, so daß er auch über die Engel Herr ist (so besonders 1,16) — und zum zweiten: er ist Mensch geworden, um der Er löser zu werden. Dieselbe Unwissenheit verrät Osiander mit der Behauptung, auch den Men schen ginge Christus als König verloren, wenn er nicht Mensch geworden wäre! Als ob Gottes Reich nicht hätte bestehen können, wenn der ewige Sohn Gottes, auch ohne Annahme des menschlichen Fleisches, Engel und Menschen zum Teilhaben an seiner Herrlichkeit und seinem Leben versammelt und so selber die Herrschaft innegehabt hätte! Aber Osiander phantasiert und gaukelt stets mit dem unsinnigen Grundsatz herum, als ob die Kirche ohne Haupt geblieben sein müßte, wenn Christus nicht im Fleische erschienen wäre. Als ob er nicht, wie die Engel an ihm ihr Haupt hatten, auch den Menschen hätte Führer und Haupt sein und sie mit der ver borgenen Kraft seines Geistes hätte erhalten und schützen können als seinen Leib, bis sie, in den Himmel aufgenommen, das gleiche Leben genießen könnten wie die Engel!
Das Geschwätz, das ich nun zurückgewiesen habe, hält nun aber Osiander für ge wisseste göttliche Offenbarung und stimmt dann auch gewöhnlich, von seinen herr lichen Phantastereien berauscht, gewaltige Kampfgesänge über nichts dazu an! Aber einen noch weit zuverlässigeren Beweis meint er in den angeblich prophetischen Wor ten des Adam zu finden, die dieser beim Anblick seines Weibes ausrief: „Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch!“ (Gen. 2,23). Woher aber will Osiander beweisen, daß diese Worte wirklich eine Weissagung sind? Viel leicht daher, daß sie Christus im Matthäusevangelium Gott in den Mund legt! Als ob nun alles, was Gott je durch Menschen geredet hat, eine Weissagung ent halten müßte! Osiander soll doch einmal in den einzelnen Geboten des Gesetzes Weissagungen aufsuchen — und dabei stammt das Gesetz doch sicher aus Gottes Mund! Christus wäre dann ja auch ein grober und irdisch gesinnter Ausleger ge wesen, der „bloß“ am wörtlichen Sinne klebengeblieben wäre! Er redet ja nicht von der verborgenen Einung, deren er die Kirche gewürdigt hat, sondern von der ehe lichen Treue; und er erklärt, Gott habe gesagt, daß Mann und Weib ein Fleisch seien, damit keiner es wage, dieses unlösliche Band durch Scheidung zu verletzen. Wenn diese schlichte Erklärung dem Osiander nicht gefallen will, so mag er sich über Christus beschweren, weil er seine Jünger nicht in das rechte Geheimnis ein geführt und des Vaters Wort nicht tiefsinniger ausgedeutet habe! Aber auch Paulus kann nicht als Eideshelfer für solchen Unsinn in Anspruch genommen werden: er sagt zwar, wir seien Fleisch vom Fleische Christi — aber er fügt gleich hinzu: „Das Geheimnis ist groß“ (Eph. 5,30ff.). Er hat auch gar nicht die Absicht, zu er läutern, in welchem Sinn Adam jenes Wort gesprochen hat, sondern er will unter dem Bilde, dem Gleichnis der Ehe jene heilige Verbundenheit zeigen, die uns mit Christus eint. Das beweisen auch die Worte: „Ich rede von Christus und der Gemeinde“ (5,32); er will also die geistliche Vereinigung Christi mit seiner Gemeinde, zu besserer Erklärung von der Ordnung des Ehestandes unterscheiden. Deshalb verschwindet auch dies unnütze Geschwätz des Osiander von selbst. Ich glaube auch: es ist nicht nötig, hier noch weitere Albernheiten mitzuteilen; denn diese kurze Widerlegung der einen macht die Torheit der anderen auch schon offenbar. Den Kinder Gottes, die feste Nahrung suchen, wird dies schlichte, klare Wort voll und ganz genügen: „Als aber die Zeit erfüllet ward, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einem Weibe und unter das Gesetz getan, auf daß er die, so unter dem Gesetz waren, erlöste …“ (Gal. 4,4).
Simon W.

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Dreizehntes Kapitel: Christus hat wahrhaft unser menschliches Fleisch angenommen.


II,13,1

Christi Gottheit habe ich schon an anderer Stelle mit klaren und sicheren Beweismitteln erwiesen; wenn ich recht sehe, so brauche ich das hier nicht noch ein mal zu tun. Wir müssen also noch zusehen, wie er denn, mit unserem Fleisch angetan, das Amt des Mittlers ausgerichtet hat. Daß er nun wirklich und wahrhaftig Mensch gewesen sei, das haben schon in alter Zeit die Manichäer und Marcioniten bestritten. Die Marcioniten erklärten seinen Leib bloß für scheinbar, für ein Ge spenst, die Manichäer träumten, er sei mit himmlischem Fleisch ausgestattet gewesen. Aber diesen beiden Irrmeinungen stehen viele und kräftige Zeugnisse der Schrift entgegen. Die Verheißung des Segens bezieht sich ja nicht auf einen himmlischen Samen oder auf einen Scheinmenschen, sondern auf den Samen Ab rahams und Jakobs! (Gen. 17,2; 22,18; 26,4). Auch wird der ewige Thron Davids nicht einem ätherischen Menschen zugesprochen, sondern dem Sohne Davids, der Frucht seiner Lenden! (Ps. 45,7). Deshalb heißt auch der im Fleische Geoffen barte der Sohn Davids und Abrahams (Matth. 1,1), und zwar nicht, weil er zwar im Schoße der Jungfrau geboren, aber etwa im Äther geschaffen wäre, sondern weil er nach Paulus „nach dem Fleische geboren ist von dem Samen Davids“ (Röm. 1,3); wie ja derselbe Paulus an anderer Stelle auch Christi Abkunft von den Juden herleitet (Röm. 9,5). Deshalb begnügt sich auch der Herr selbst nicht mit der Bezeichnung „Mensch“, sondern er nennt sich häufig auch den „Menschensohn“, um damit zu zeigen, daß er ein Mensch sei, wirklich aus dem Samen von Menschen hervorgegangen! Es hat also der Heilige Geist so oft und durch so viel Werkzeuge, mit solchem Eifer und solcher Schlichtheit diese Sache, die an sich schon keineswegs undurchsichtig ist, vor uns hingestellt, daß man nicht hätte erwarten sollen, die Schamlosigkeit der Menschen hätte je so groß sein können, daß einer auch bis hier hin mit seinem Wahn zu dringen versuchte! Aber es stehen ja noch andere Zeugnisse zur Verfügung, wenn man immer noch mehr zusammenstellen will. So zum Bei spiel das Wort des Paulus: „… da sandte Gott seinen Sohn, geboren von einem Weibe …“ (Gal. 4,4). Dazu kommen auch die zahllosen Stellen, in denen wir hören, daß der Herr Hunger, Durst, Frost und andere unserer Natur entsprechende Schwach heiten erlitten hat! Ich will aber besonders die Stellen auswählen, die besonders geeignet sind, uns innerlich zu rechtem Zutrauen zu ihm zu ermuntern. So, wenn wir hören, daß er nicht den Engeln die Ehre angetan hat, ihre Natur anzu nehmen, sondern eben unsere Natur angenommen hat, um in Fleisch und Blut „durch den Tod die Macht zu nehmen dem, der des Todes Gewalt hatte …“ (Hebr. 2,16.14). Oder auch: weil er mit den Menschen einerlei Natur angenommen hat, „schämt er sich auch nicht, sie Brüder zu heißen!“ (Hebr. 2,11). Oder: „Er mußte in allen Dingen seinen Brüdern gleich werden, auf daß er barmherzig würde und ein treuer Hoherpriester“ (Hebr. 2,17). Und dann auch das Wort: „Wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte Mitleiden haben mit unseren Schwachheiten …“ (Hebr. 4,15). Diese Reihe könnte man leicht fortsetzen. Hierher gehört auch eine be reits oben berührte Stelle, wonach er „in der Gestalt des sündlichen Fleisches“, „im Fleisch“ unsere Sünden sühnen mußte, wie es Paulus ausdrücklich betont (Röm. 8,3). Eben deswegen ist nun auch gewißlich unser, was ihm der Vater geschenkt hat: denn er ist das Haupt, „von welchem aus der ganze Leib zusammengefügt ist und ein Glied am anderen hanget durch alle Gelenke … und macht, daß der ganze Leib wächst …“ (Eph. 4,16). Nur so gilt auch, daß er, wie die Schrift sagt, den Heiligen Geist ohne Maß empfangen hat, so daß wir alle „aus seiner Fülle ge nommen haben Gnade um Gnade!“ (Joh. 1,16). Denn es wäre ganz widersinnig, wenn man meinen wollte, Gott könne in seinem Wesen durch eine fremde Gabe
bereichert werden! Aus diesem Grunde sagt Christus auch selber: „Ich heilige mich selbst für sie“ (Joh. 17,19).


II,13,2

Nun bringen zwar auch die Irrlehrer Bibelstellen vor, um ihre Sache zu be weisen; aber die verdrehen sie greulich, und mit ihrer leeren Spitzfindigkeit können sie auch nichts ausrichten, wenn sie den Versuch machen, meinen Gegenbeweis umzu stoßen. Marcion bildet sich ein, Christus habe als Leib nur einen Scheinleib angenommen — und zwar, weil es hieße: „Und ward gleichwie ein anderer Mensch und an Gebärden als ein Mensch erfunden“ (Phil. 2,7). Aber dabei überlegt er nun absolut nicht, was eigentlich Paulus hier sagt! Denn er spricht hier ja gar nicht davon, was für einen Leib Christus angenommen hat; er will etwas ganz anderes zeigen: Christus hätte mit vollem Recht seine Gottheit zur Geltung bringen können; aber er hat doch nichts an sich sehen lassen als das Wesen eines niedrigen und ver achteten Menschen! Er will uns ja ermuntern, dem Beispiel Jesu zu folgen und zu gleichem Gehorsam uns aufrufen, und erklärt deshalb: er war Gott, und er ver mochte es gewiß, der Welt seine Herrlichkeit jederzeit leuchtend vor Augen zu stellen, aber er hat auf sein Recht Verzicht geleistet und sich freiwillig selbst erniedrigt, hat er doch Knechtsgestalt angenommen und sich mit so niedriger Stellung zufrieden ge geben, hat er doch zugelassen, daß seine Gottheit hinter dem Vorhang des Fleisches verborgen blieb! So lehrt Paulus hier gewiß nicht, welcher Art Christus ge wesen ist, sondern wie er sich erwiesen hat! Auch geht doch aus dem ganzen Zu sammenhang völlig klar hervor, daß Christus in seiner Erniedrigung wirklich menschliche Natur angenommen hat. Was soll es denn anders bedeuten, wenn wir hören: „Er ward an Gebärden als ein Mensch erfunden“? Kann es etwas an deres heißen als: seine göttliche Herrlichkeit ist eine Zeitlang nicht sichtbar ge worden, sondern er erschien bloß in niedrigem, verachtetem Stande, in Menschen gestalt? Auch das Wort des Petrus: „Er ist getötet worden nach dem Fleisch, aber lebendig gemacht nach dem Geist“ (1. Petr. 3,18) hätte ja gar keinen Sinn, wenn der Sohn Gottes nicht wirklich in menschlicher Natur Schwachheit getragen hätte! Noch deutlicher macht es Paulus, wenn er davon spricht, Christus sei „gekreu zigt in der Schwachheit …“ (2. Kor. 13,4; Calvin fügt hinzu: „des Flei sches“). Auch die Erhöhung Christi gehört hierher: Es wird ausdrücklich ge sagt, daß Christus nach seiner Erniedrigung neue Herrlichkeit erlangt hat. Das kann aber nur von einem Menschen mit Leib und Seele gelten. Die Manichäer träumen von einem himmlischen Fleische Christi, weil Chri stus der „zweite Adam“ hieße, und zwar „der Herr vom Himmel“ (1. Kor. 15,47). Aber der Apostel redet an dieser Stelle gar nicht davon, daß Christi Leib seinem Wesen nach himmlisch sei; er sagt das doch von der geistlichen Kraft, die von Christus ausgeht und uns lebendig macht! Diese Kraft aber unterscheiden Paulus und Petrus, wie wir sahen, von seinem Fleische! So bedeutet diese angebliche Be weisstelle der Manichäer geradezu eine hervorragende Bestätigung der bei allen Rechtgläubigen vertretenen Lehre von Christi Fleischesdasein. Denn wenn Christus nicht dieselbe leibliche Natur angenommen hätte, wie wir sie haben, so stieße auch der Satz ins Leere, den Paulus mit solchem Eifer ausruft: „Ist aber Christus auf­erstanden, so werden wir auch auferstehen; gibt es für uns keine Auferstehung, so ist auch Christus nicht auferstanden!“ (1. Kor. 15,16; tatsächlich Inhaltsangabe zu 1. Kor. 15,12-20). Nun mögen die Manichäer oder ihre heutigen Nachbeter sich noch so sehr anstrengen, um diesen Beweis zu Fall zu bringen — sie werden sich nicht herauswinden können! Eine ganz jämmerliche Ausflucht ist es, wenn sie nun schwatzen, Christus heiße „der Menschensohn“ nur, sofern er den Menschen verheißen gewesen wäre. Und dabei ist es doch klar, daß im Hebräischen „Menschensohn“ einfach soviel bedeutet wie „Mensch“! Christus hat dabei offensichtlich die in seiner Muttersprache übliche Wendung beibehalten. Daß auch der Ausdruck „Kinder Adams“ die gleiche Bedeutung hat, ist unstreitig so. Aber ich will mich nicht länger vom Wege abbringen lassen: zum Beweis genügt ja voll und ganz das Wort aus dem achten Psalm, den die Apostel auf Christus beziehen: „Was ist der Mensch, daß du sein gedenkest, und des Menschen Sohn, daß du dich seiner annimmst?“ (Ps. 8,5; Hebr. 2,6). In diesem Bild kommt Christi wahre Menschheit zum Ausdruck: er war zwar nicht unmittelbar von einem sterblichen Vater gezeugt, aber er nahm doch seinen Ur sprung von Adam her! Nur unter dieser Voraussetzung konnte auch der Apostel sagen, wie wir bereits anführten: „Nachdem nun die Kinder Fleisch und Blut haben, ist er dessen gleichermaßen teilhaftig geworden …“, nämlich um sich Kinder zum Gehorsam gegen Gott zu versammeln! (Hebr. 2,14). Da wird ganz klar fest gestellt: Christus hat an derselben Natur Anteil gehabt, ist derselben Natur unter worfen gewesen wie auch wir! In demselben Sinne muß auch der Satz verstanden werden: „Sintemal sie alle von einem kommen, beide, der da heiligt und die da geheiligt werden“ (Hebr. 2,11). Denn das muß nach dem Zusammenhang auf das Teilhaben an der gleichen Natur bezogen werden: der Apostel setzt auch gleich hinzu: „Darum schämt er sich auch nicht, sie Brüder zu heißen!“ (Hebr. 2,11). Hätte er vorher sagen wollen, auch die Gläubigen seien aus Gott, so wäre ja beim Vor handensein solcher hohen Würde wahrhaftig gar kein Grund zur Scham ge geben! Aber weil Christus in seiner unermeßlichen Gnade sich mit schmutzigen, un edlen Leuten verbunden hat, deshalb ist Grund vorhanden zu sagen: Er schämte sich nicht! Es hilft auch gar nichts, wenn man dagegen einwendet, unter diesen Umständen würden auch die Gottlosen Christi Brüder sein; denn wir wissen, daß die Kinder Gottes nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus dem Heiligen Geiste, durch den Glauben, geboren werden! Deshalb führt nicht das Fleisch für sich al lein zu dieser brüderlichen Verbundenheit! Obwohl also der Apostel bloß den Gläubigen die Ehre zukommen läßt, daß sie eins seien mit Christus, läßt sich doch nun gewiß nicht folgern, daß auch die Ungläubigen aus der gleichen Quelle ihren Ursprung nähmen. Ebenso ist es auch mit dem Satze, Christus sei Mensch geworden, um uns zu Gottes Kindern zu machen: auch dieser bezieht sich nicht einfach auf jeden beliebigen Menschen, weil da der Glaube mitten dazwischen steht, der uns geistlich in Christi Leib einfügt. Auch mit dem Ausdruck „der Erstgeborene“ erheben sie allerlei spitzfindigen Streit. Sie folgern nämlich so: Christus hätte schon gleich zu Anfang von Adam geboren werden müssen, wenn er „der Erstgeborene unter vielen Brüdern“ sein sollte! (Röm. 8,29). Der Ausdruck „Erstgeborener“ bezieht sich aber gar nicht auf das leibliche Alter, sondern auf den Rang und die hervorragende Ehre und Kraft! Ebenso gehaltlos ist ihr Geschwätz, der Satz, daß Christus die Natur des Men schen und nicht die der Engel angenommen habe (Hebr. 2,16), bedeute nur dies, daß er die Menschheit in Gnaden angenommen hätte. Der Apostel will doch nur die Ehre, deren uns Christus gewürdigt hat, ins rechte Licht rücken und vergleicht uns zu diesem Zweck mit den Engeln, die uns in dieser Hinsicht nachstehen! Der ganze Streit kann aber entschieden werden, wenn wir nur recht den Sinn jenes Zeugnisses des Mose betrachten, wo er davon spricht, der Same des Weibes werde der Schlange den Kopf zertreten (Gen. 3,15). Denn da ist nicht von Christus allein die Rede, sondern von dem ganzen Menschengeschlechte. Der Sieg Christi sollte ja uns zuteil werden, und deshalb läßt Gott ganz allgemein verkündigen, daß die Nachkommen des Weibes den Teufel überwinden würden! Daraus ergibt sich aber: Christus ist aus dem Menschengeschlechte geboren; denn Gott hat doch die Absicht, mit seiner Anrede die Eva zu fröhlicher Hoffnung zu ermuntern, damit sie ihrem Schmerze nicht gar erliege!
Simon W.

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II,13,3

Aber es gibt doch Stellen, in denen Christus als „Same des Abraham“ oder als Frucht der Lenden Davids bezeichnet wird! Mit diesen aber werden die Irrlehrer dadurch fertig, daß sie sie dumm und frech mit sinnbildlichen Deutungen verhüllen. Hätte nun aber das Wort „Same“ eine sinnbildliche Bedeutung, so hatte das Paulus sicher nicht verschwiegen, wo er doch deutlich ohne Bild erklärt, es handle sich nicht um viele Samen Abrahams, also um viele Erlöser, sondern nur um den einen, Christus (Gal. 3,16). Ähnlich possenhaft ist die Behauptung, Jesus trage den Titel „Sohn Davids“ nur deshalb, weil er als solcher verheißen war und dann auch zu seiner Zeit enthüllt wurde (Röm. 1,3). Das ist verkehrt; denn Paulus fügt dem Titel „Sohn Davids“ ja gleich hinzu: „nach dem Fleisch“; er bezieht ihn also deutlich auf die Natur. So nennt er ihn auch im neunten Kapitel des Römer briefs einerseits „Gott, hochgelobet in Ewigkeit“ (9,5), und dann bemerkt er doch andererseits, daß er nachdem Fleisch von den Juden abstamme (9,5). Wäre er nicht wirklich aus dem Samen Davids geboren, was sollte dann auch das Wort, er sei die Frucht seines Leibes? (2. Sam. 7,12, Apg. 2,30). Was sollten wir dann mit der Verheißung anfangen: „Siehe, aus deinen Lenden soll her vorgehen, der auf deinem Throne bleiben wird ewiglich“? (Ps. 132,11). Ein tolles, sophistisches Spiel erlauben sich die Irrlehrer auch mit dem Geschlechtsregister Christi, wie es uns bei Matthäus geboten wird. Matthäus zählt nun nicht Marias, sondern Josephs Vorfahren auf; aber er ist doch überzeugt, von einer überall wohlbekannten Tatsache zu sprechen, und deshalb begnügt er sich eben damit, die Herkunft des Joseph aus dem Samen Davids nach zuweisen, da es allgemein ausreichend bekannt war, daß Maria aus demselben Ge schlecht stammte. Stärkeren Nachdruck legt Lukas auf diese Dinge: er will zeigen, daß das Heil, wie es Christus uns bringt, der ganzen Menschheit gemeinsam zukomme, weil ja Christus, sein Bringer, von Adam, unserem gemeinsamen Vor vater, herstammt! Ich gebe zwar zu: man kann aus dem Geschlechtsregister den Be weis für die Davidssohnschaft Christi nur insofern führen, als er von der Jung frau Maria geboren ist. Aber unsere neuen Marcioniten möchten ja allzugern ihrem Irrwahn einen guten Anstrich geben und wollen beweisen, daß Christus seinen Leib aus dem Nichts genommen habe: dazu behaupten sie in ihrem tollen Hochmut, die Frauen hätten keinen Samen — und kehren also auf diese Weise den Lauf der Natur um! Aber dieser Streit ist nicht theologischer Art, und die Gründe, die sie vor bringen, sind dermaßen nichtig, daß sie eigentlich gar keine Widerlegung verdienen; ich will also die philosophischen und medizinischen Fragen übergehen und nur die Einwände behandeln, die sie mit der Schrift meinen begründen zu können. Also sie sagen: Aaron und Jojada haben doch Weiber aus dem Stamme Juda genommen; hätten also die Frauen zeugungsfähigen Samen, so wären damit die Stämme Israels ja vermischt worden! Aber es ist doch wahrhaftig bekannt genug, daß für die bürger liche Ordnung der Mannessame die Geschlechterfolge bestimmt; indessen hebt dieser politische Vorzug des männlichen Geschlechts doch keineswegs die Vermischung des weiblichen Samens mit dem männlichen in der Zeugung auf! Diese Erklärung trifft für alle Geschlechtsregister zu. Oft nennt gar die Schrift bei den Geschlechtsregistern bloß die Männer — soll man aber deshalb sagen, die Frauen wären nichts? Es wissen doch selbst Kinder, daß sie stillschweigend mit den Männern genannt sind. Deshalb sagt man ja auch, die Frau gebäre „ihrem Manne“; denn der Name des Geschlechts bleibt stets beim Manne. Wie sich nun aber die Vorzugsstellung des männlichen Geschlechts darin ausprägt, daß die Kinder je nach dem Stande ihres Vaters edlen oder nichtedlen Standes sind, so gilt andererseits bei den Rechtsgelehrten auch der Satz, daß in der Leibeigenschaft die Kinder der Mutter folgen. Daraus läßt sich ersehen, daß die Leibesfrucht zum Teil auch von der Mutter herkommt; deshalb nennt man ja auch in allen Völkern und zu allen Zeiten die Mütter „Erzeugerinnen“. Dazu stimmt auch das Gesetz Gottes; es verbietet bekanntlich die Ehe eines Onkels mit seiner Nichte — und das wäre verkehrt, wenn nicht hier Blutsverwandtschaft (consanguinitas) vorläge! Dann müßte es auch erlaubt sein, daß ein Mann seine leibliche Schwester zum Weibe nähme, sofern sie beide eine und dieselbe Mutter, aber nicht den gleichen Vater haben! Ich gebe gewiß zu, daß die Frauen in der Zeu gung bloß passive Kraft besitzen; aber ich behaupte andererseits auch, daß von ihnen durchgehend dasselbe gesagt wird wie von den Männern. Es heißt ja auch nicht, Christus sei durch ein Weib geboren, sondern: „geboren von einem Weibe …“ (Gal. 4,4). Nun gibt es aber in der Rotte der Irrlehrer Leute, die ihre Frechheit so weit treiben, daß sie uns fragen, ob wir denn meinten, Christus sei aus dem mo natlich ausgeschiedenen Samen der Jungfrau geboren. Solchen Leuten stelle ich die Gegenfrage, ob er denn nicht wirklich mit dem Blute der Mutter zusammengewach sen sei — und das müssen sie dann freilich zugeben! Es ergibt sich aus Matthäus also deutlich: weil Christus aus Maria der Jungfrau geboren ist, so ist er auch aus ihrem Samen geboren; genau so, wie es ja auch heißt, Boas sei von der Rahab ge boren (Matth. 1,5), wo auf den gleichen Vorgang hingewiesen wird. Auch stellt Matthäus die Sache hier nicht so dar, als ob die Jungfrau Maria wie ein Kanal sei, durch den Christus zu uns gekommen wäre; sondern er unterscheidet diese wunder same Zeugung dadurch von der gewöhnlichen, daß Jesus Christus von einer Jung frau und aus Davids Geschlecht geboren wurde! Denn wie es heißt, daß Isaak von Abraham, Salomo von David und Joseph von Jakob geboren ist, so heißt es von ihm, er sei — von seiner Mutter geboren! Nach diesem Gesichtspunkt hat der Evangelist seine Geschlechterreihe zusammengefügt; da er beweisen will, daß Christus von David herstammt, so ist es ihm genug, daß er aus Maria geboren ist. Er hat es also als bekannt vorausgesetzt, daß Maria und Joseph Blutsver wandte waren!


II,13,4

Die Sinnwidrigkeiten, mit denen man uns belasten will, sind voller kindischer Schmähungen. So heißt es: Für Christus sei es doch eine Schande, ein Makel, wenn er von Menschen seine Abkunft herleitete; denn dann könnte er doch auch von dem allgemeinen Gesetz nicht ausgenommen werden, das jeden Nachkommen des Adam ausnahmslos unter der Sünde festhält. Diesen Knoten kann nun aber leicht die Gegenüberstellung lösen, die wir bei Paulus hören. „Derhalben, wie durch einen Menschen die Sünde ist gekommen in die Welt und der Tod durch die Sünde … also ist auch durch eines Gerechtigkeit die Rechtfertigung des Lebens über alle Menschen gekommen“ (Röm. 5,12.18). Dazu kommt auch die andere Gegenüber stellung: „Der erste Mensch ist von der Erde und irdisch, der andere Mensch ist der Herr vom Himmel!“ (1. Kor. 15,47). Deshalb lehrt der Apostel an anderer Stelle zwar auch, Gott habe „seinen Sohn gesandt in der Gestalt des sündlichen Fleisches“, damit er dem Gesetze Genugtuung leistete (Röm. 8,3); aber er nimmt ihn doch ausdrücklich von dem allgemeinen menschlichen Los aus und zeigt, wie er ein wahrer Mensch war, doch ohne Sünde und Verderbtheit! Dagegen macht man nun den kindischen Einwand: Wenn also Christus von allem Makel un berührt ist, wenn er durch das geheimnisvolle Wirken des Heiligen Geistes aus dem Samen der Maria geboren ist — dann ist also der weibliche Same nicht unrein, sondern nur der des Mannes! Aber wir erklären Jesus Christus ja nicht deshalb für rein von aller Befleckung, weil er nur von seiner Mutter geboren ist, ohne Um gang mit einem Manne, sondern vielmehr deshalb, weil der Heilige Geist ihn geheiligt hat, so daß es eine reine und unbefleckte Erzeugung war, wie sie vor dem Falle des Adam gewesen sein würde! Wir wollen aber unter allen Umständen dies festhalten: Wo die Heilige Schrift zu uns von der Sündlosigkeit Christi redet, da denkt sie an die wahre menschliche Natur; denn es wäre ja überflüssig, zu sagen, Gott sei sündlos! Auch die „Heiligung“, von der wir Johannes 17 hören, würde auf die göttliche Natur nicht passen. Wir nehmen übrigens keineswegs zweierlei Samen Adams an, wenn doch Christus, der auch von ihm abstammt, keinerlei Befleckung überkommen hat. Denn die menschliche Zeugung ist an und für sich keineswegs unrein oder verderbt, sondern sie ist es durch den Fall geworden! Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn Christus, der doch die ur sprüngliche Reinheit wiederherstellen sollte, von der allgemeinen Verderbnis aus genommen war. Gewiß: auch hier noch wirft man uns vor, es sei widersinnig, daß Gottes ewiges Wort Fleisch angenommen hätte und also in das enge, irdische Knechthaus des Leibes eingeschlossen gewesen wäre; aber das ist wirklich reine Un verfrorenheit: denn das Wort ist zwar freilich in der Unermeßlichkeit seines We sens mit der Natur des Menschen zu einer Person zusammengewachsen, aber doch nicht darin eingeschlossen! Das ist das große Wunder: der Sohn Gottes ist vom Himmel herniedergestiegen — und hat ihn doch nicht verlassen; er ist aus der Jung frau geboren worden, ist auf der Erde gewandelt, ja er hat mit seinem Willen am Kreuze gehangen — und doch hat er immerfort die ganze Welt erfüllt, wie im Anfange!
Simon W.

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