Lieber Werner,
ich hoffe nicht, dass ich den Text missverstanden habe. Doch vielleicht ist er auch ein wenig missverständlich von dir geschrieben worden, setzt vielleicht manchen nicht dargestellten Gedanken unvollständig dar. Ich will also nochmals durch Zitierung deine Aussage aufgreifen:
Vom besagten Erlass, Jerusalem wieder aufzubauen (über die genaue Datierung gibt es unterschiedliche Sichtweisen), an gerechnet, endeten diese 490 Jahre wenige Jahre nach der Himmelfahrt Christi.
Darin stimme ich voll zu. Egal wie man diese 69 Jahrwochen rechnet, kommt man doch immer in den Zeitrahmen der Kreuzigung Christi. Manche können sogar genau das Kreuzigungsdatum errechnen. Respekt
Vom Bibeltext her lässt sich feststellen, dass die 70 Jahre zwar unterteilt sind in 7 und 62 Jahre und 1 Jahr, aber im Text selber deutet nichts auf eine beliebig lange Lücke zwischen 69. und 70. Jahrwoche hin
Hier ist ein klares „Nein“ meinerseits anzubringen. Es heißt,
Dan 9,26 Und nach den zweiundsechzig Wochen wird der Gesalbte ausgerottet werden, so daß keiner mehr sein wird; die Stadt aber samt dem Heiligtum wird das Volk eines zukünftigen Fürsten verderben, und sie geht unter in der Überschwemmung, und der Krieg, der bestimmt ist zu ihrer Zerstörung, dauert bis ans Ende.
Nach der 69 Woche sind die Ereignisse des V 26. Nach der 69 Woche
- ist der Gesalbte ausgerottet und nicht mehr
- das Volk eines zukünftigen Fürsten verdirbt die Stadt und das Heiligtum
- bis zum Ende des Streits wird die Zerstörung andauern
In V27 tritt nun dieser „er“ auf. Wenn aber nach der 69 Woche dieser Gesalbte nicht mehr ist, nichts mehr hat, kann dieser „er“ nicht der Gesalbte sein. Aus dem Text lässt sich ableiten, dass eben das Volk des künftigen Fürsten Jerusalem nach der 69 zerstört, daher dieser Fürst dem Volk angehören muss. Dieser „Er“ macht ein Bündnis mit den Israeliten und bricht dieses Bündnis inmitten dieser Jahrwoche, so dass Speis- und Trankopfer aufhören werden.
Es ist also deutlich sichtbar, dass es Ereignisse nach der 69. Woche gibt, die jedoch klar abgetrennt sind von der letzten Jahrwoche. Es ist der Bruch, die Unterbrechung in der Abfolge der Jahrwochen im Text selbst enthalten und keine Spekulation.
Weiter schreibst du:
Kommen wir zu Vers 27: Wer ist „er“ – der einen Bund „stark machen“ wird? Die zuletzt genannte Person ist der Messias (V. 26; der „kommende Fürst“ wird in V. 27 nicht direkt als Person genannt, sondern nur als Zusatz zu seinem „Volk“). Und so war es auch: Jesus, der Messias, bekräftigte den neuen Bund in seinem Blut. Dreieinhalb Jahre lang verkündigte er das Heil, das durch Glauben an ihn erlangt wird. Dann, zur „Hälfte der Woche“ erfüllte und beendete er alle schattenhaften „Schlachtopfer und Speisopfer“ (V. 27a) durch sein ein für allemal gültiges Opfer am Kreuz.
Damit setzt du Christus gleich mit dem „Er“ aus V. 27. Dieser „er“ tritt aber erst in der 70. Jahrwoche auf, nicht vorher. Das Volk dieses „Er“ tritt auch nicht in der 69. Jahrwoche, sondern danach auf. Wenn du also annimmst, die 3 ½ Jahre Wirkungsdauer Christi auf Erden sind identisch mit der halben 70. Woche, so ist meine Kritik zutreffend. Wenn das Leben Christi auf Erden bei dir der halben 70. Woche entspricht, Christus aber nach der 69. Jahrwoche, noch vor der 70. ausgerottet ist und nicht mehr ist, ist das ein Widerspruch. Zudem muss vor der 70. Jahrwoche (in der Zwischenzeit 69. zur 70. Woche) Jerusalem und das Heiligtum zerstört sein, erst danach findet die 70. Jahrwoche statt. Also müsste bei deiner Auslegung die Zerstörung Jerusalems vor der Kreuzigung (diese setzt du als Mitte der 70. Jahrwoche an) stattfinden.
Dieses genannte Problem wird aber von dir durch folgenden Ansatz zu lösen versucht, indem du (ich muss leider hier etwas in deine Aussage hineinspekulieren, da zu knapp) ansetzt:
- der Gesalbte wird nach der 69. Jahrwoche ausgerottet,
- das Heiligtum, die Stadt nach der 69. Jahrwoche zerstört
Da die 70. Jahrwoche aber auch nach der 69. Jahrwoche liegt wird angeordnet:
- 69. Jahrwochen bis zum Gesalbten
- 1. Hälfte 70. Jahrwoche als Lebenszeit Christi auf Erde
- Abtun der Opfer => Christi Kreuzestod, „Ende aller schattenhaften Schlacht- und Speisopfer“
- 2. Hälfte der 70. Jahrwoche => Aufruf an Israel zur Bekehrung (verweis auf Apg.)
- nach der 70. Jahrwoche => Zerstörung Israels 70 n . Chr.
Damit wird aber die Reihenfolge der Ereignisse des Textes verändert. Wenn dies so richtig wäre, müsste V26 nach V27 kommen. Dies ist aber nicht so. Schwieriger wird das Problem mit dem „Volk eines künftigen Fürsten“. Diese Volk zerstört Israel und stellt den künftigen Fürsten. Wenn dieser „er“ in V27 nun zum Gesalbten wird, fehlt nun der zukünftige Fürst. Daher ist diese Annahme ehr willkürlich und nicht binden.
Das Problem ist aber auch folgendes:
Dan 9,24 Siebzig Wochen sind über dein Volk und über deine heilige Stadt verordnet, um der Übertretung ein Ende und das Maß der Sünde voll zu machen, um die Missetat zu sühnen und die ewige Gerechtigkeit zu bringen, um Gesicht und Prophezeiung zu versiegeln und das Hochheilige zu salben.
Nach diesen 70 Jahrwochen soll für Israel gelten, dass die Übertretungen ein Ende haben, die Missetaten (des Volkes Israels) sollen gesühnt sein und ewige Gerechtigkeit soll sein. Wenn tatsächlich diese 70. Jahrwoche mit der Zerstörung Israels und der Vernichtung des Tempels abgeschlossen sind, so ist der Zustand Israels nach diesen 70. Jahrwochen der:
- Israel ist verstockt
- Israel lehnt den Messias ab
- Israel ist in den Sünden, dem Götzendienst usw. weiter gebunden
- Israel ist verflucht (der Zorn ist auf ihnen)
Das Ergebnis deiner Ansicht ist daher deutlich sichtbar das genaue Gegenteil dessen, was der Prophet verkündet hat. Statt Heil und Gerechtigkeit für Israel gilt der Fluch und die Verwerfung. Das Ziel, das Ergebnis dieser 70 Jahrwochen wird für Israel, über das dieser Zeitraum bestimmt ist, nicht erreicht. Deine Auslegung führt zu einem völlig anderem Israel als dieser als auch andere Propheten vorher gesagt haben.
Nach deiner Aussage sollten die Greul der Verwüstung an den Zinnen in der Mitte der 70. Jahrwoche, also bei der Kreuzigung Christi stehen. Hier sollten dann Schlacht und Speisopfer abgetan bzw. unterbrochen sein. Tatsächlich gingen diese Opfer bis zur Tempelzerstörung weiter. Eine Vergeistlichung ist im Text nicht zu entnehmen. Wenn der Herr in Mt.24 auf diese Greul der Verwüstung von Daniel hinweist und dieses Ereignis in den Zusammenhang mit seiner Wiederkunft stellt, kann dies nicht dann geschehen, wenn er noch da ist, also noch vor Auferstehung und Himmelfahrt. Die Greul der Verwüstung beziehen sich auf ein Ereignis in der Mitte der 70. Jahrwoche, nicht auf ein Ereignis davor oder danach. Daher ist deine Auslegung widersprüchlich zu der Aussage im Wort. Es widerspricht der Wort-mit-Wort-Auslegung. Nach Mt. 24 ist das Greul der Verwüstung ein Vorauskennzeichen der Wiederkunft Christi, ein Ereignis nach Auferstehung und Himmelfahrt. Die Zerstörung von Jerusalem 70 n Chr. ist in Lk. 21 angekündigt, Mt. 24 beschäftigt sich im wesentlichen mit den Ereignissen kurz vor der sichtbaren Wiederkunft unseres Herrn und legt daher diese 70. Jahrwoche in die zeitliche Nähe der Wiederkunft und damit in die Zukunft.
Fazit:
Du verschiebst die Ereignisse aus V26 hinter V27, um den „er“ zum Gesalbten zu machen. Die Zwischenphase zwischen der 69. und der 70. Jahrwoche machst du zu einer Phase in bzw. nach der 70. Jahrwoche (Christus wurde ca. 32 gekreuzigt, Jerusalem 38 Jahre später erst zerstört => deutlich außerhalb der letzten halben Jahrwoche von 3 ½ Jahren)
Den verheißenen Zustand der Errettung und Erlösung Israels wird bei dir zum Zustand der Verstockung, Verwerfung und des Fluches (V24).
Diese deine Argumentation ist meines Erachtens nicht haltbar und nicht schriftkonform.
Noch ein weiterer Punkt: Wenn deine Ansicht so zuträfe, müsstest du erklären, dass kein Prophet die Wiederherstellung Israels, das Abtun der Sünden lehrt. Mir ist bekannt, dass es sehr viele Prophetien über genau diesen Umstand reden. Konkret spricht Sach. sogar auch vom Ende der Prophetie (Sach. 12ff). Mich würde daher interessieren, welche zusätzliche Stellen du als Begründung für diese deine Sicht nenen kannst.
Liebe Grüße