Paulus wurde von den tiefsten Motiven bewegt
Denn wir alle müssen vor dem Richterstuhl des Christus offenbar werden, damit
jeder das empfängt, was er durch den Leib gewirkt hat, es sei gut oder böse.
(5,10)
Paulus’ edler Ehrgeiz wurde von dem Wissen angetrieben, dass der Herr die Tiefen
seines Herzens aufdecken würde. Dies wird in der Zukunft geschehen, wenn
alle Gläubigen vor dem Richterstuhl des Christus offenbar werden müssen. Die
Worte müssen und alle betonen, wie unvermeidlich und umfassend dieses Ereigni ist. Dieses Wissen lieferte Paulus ein starkes Motiv, Gott in diesem Leben wohlzugefallen.
Phaneroō (offenbar werden) bedeutet »manifestieren«, »deutlich machen« oder
»sichtbar machen«. Philip E. Hughes sagt über die Bedeutung von phaneroō: »Manifestieren
bedeutet nicht nur, etwas sichtbar zu machen, sondern es offenzulegen, es
von jeglichem äußeren Schein von Ehrbarkeit zu befreien und es in seinem vollen und
wahren Charakter öffentlich zu zeigen« (The Second Epistle to the Corinthians, The
New International Commentary on the New Testament [Grand Rapids: Eerdmans,
1992], S. 180). Einige haben behauptet, dass die geheimen Motive und Herzenseinstellungen
der Gläubigen vor den heiligen Engeln offenbar gemacht werden; für eine
solche Spekulation findet sich jedoch keine biblische Unterstützung. Andere meinen,
die von Paulus beschriebene Enthüllung wird vor anderen Gläubigen stattfinden; auch
diese Sicht ist durch die Bibel nicht zu stützen. Die Gläubigen werden viel zu sehr mit
der Aufdeckung ihrer eigenen Taten beschäftigt sein, um die der anderen aufmerksam
zu verfolgen. Ebenso wenig müssen die Herzen der Gläubigen vor dem allwissenden
Gott offenbar gemacht werden, der sowieso jedes Detail ihres Lebens kennt.
An diesem Tag wird jedem Gläubigen die volle Wahrheit über sein Leben, seinen
Charakter und seine Taten deutlich gemacht werden. Jeder wird das wirkliche Urteil
über seinen Dienst und seine Motive erfahren. Jegliche Heuchelei und Verstellung
wird hinweggenommen sein; alle zeitlichen Dinge ohne Ewigkeitsbedeutung werden
wie Holz, Heu und Stroh verschwinden, und nur das, was ewigen Wert hat, wird
übrig bleiben. 1. Samuel 16,7 erklärt: »Denn [der HERR] sieht nicht auf das, worauf
der Mensch sieht; denn der Mensch sieht auf das, was vor Augen ist, der HERR aber
sieht das Herz an!« »Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen«, schreibt der Verfasser
des Hebräerbriefes, »sondern alles ist enthüllt und aufgedeckt vor den Augen
dessen, dem wir Rechenschaft zu geben haben« (Hebr 4,13). An diesem Tag wird die
wahre Beurteilung über das Werk, welches Gott in und durch die Gläubigen getan
hat, enthüllt.
Die Gläubigen werden vor dem Richterstuhl des Christus nicht wegen ihrer Sünden
gerichtet. Alle Sünden der Gläubigen wurden am Kreuz gerichtet, als Gott »den,
der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht hat, damit wir in ihm Gerechtigkeit
Gottes würden« (2Kor 5,21). Am Kreuz »hat uns Christus losgekauft von dem
Fluch des Gesetzes, indem er ein Fluch für uns wurde« (Gal 3,13). Als unser Stellvertreter
»hat er unsere Sünden selbst an seinem Leib getragen auf dem Holz, damit wir,
den Sünden gestorben, der Gerechtigkeit leben mögen« (1Petr 2,24); »er aber hat sich,
nachdem er ein einziges Opfer für die Sünden dargebracht hat, das ewiglich gilt, zur
Rechten Gottes gesetzt« (Hebr 10,12; vgl. Eph 1,7; 4,32; 1Jo 2,1-2). Aufgrund seines
stellvertretenden Sühneopfers »gibt es nun keine Verdammnis mehr für die, welche in
Christus Jesus sind … Wer will verurteilen? Christus [ist es doch], der gestorben ist, ja
mehr noch, der auch auferweckt ist, der auch zur Rechten Gottes ist, der auch für uns
eintritt!« (Röm 8,1.34). Doch obschon die Errettung nicht aus Werken ist, sind Werke
das unvermeidbare Resultat einer echten Errettung. Philip Hughes schreibt
Es ist der Erinnerung wert: Eine Schriftstelle wie diese zeigt, dass es zwischen den paulinischen
Lehren und denen von Jakobus, so unterschiedlich sie auch sein mögen, eine
wesentliche Übereinstimmung zu dem Thema Glaube und Werke gibt. Es stimmt: Die
Rechtfertigung des Sünders geschieht durch Glauben an Christus und nicht durch eigene
Werke; aber die verborgene Wurzel des Glaubens muss die sichtbare Frucht guter Werke
hervorbringen. Diese Frucht wird von Christus erwartet, da sie den Vater ehrt und der Welt
die Realität seiner göttlichen Gnade zeigt. Und der Vater wird besonders geehrt, wenn
wir viel Frucht bringen (Joh 15,8) (The Second Epistle to the Corinthians, S. 183. Kursivsetzung
im Original.)
Richterstuhl ist die Übersetzung von bēma, was in seiner einfachsten Definition einen
Ort beschreibt, der über Stufen oder ein Podium erreichbar ist. Die Septuaginta (die
griechische Übersetzung des Alten Testaments) benutzt es auf diese Weise in Nehemia
8,4. In der griechischen Kultur bezog sich bēma auf das erhöhte Podium, auf dem
siegreiche Athleten ihre Kronen empfingen, ganz ähnlich wie das Podium bei der
Medaillenverleihung bei heutigen Olympischen Spielen. Im Neuen Testament wurde
es gebraucht für den Richterstuhl von Pilatus (Mt 27,19; Joh 19,13), Herodes (Apg
12,21) und Festus (Apg 25,6.10.17). Auch in Korinth gab es einen bēma, wo ungläubige
Juden Paulus ohne Erfolg vor dem römischen Prokonsul Gallion anklagten (Apg
18,12.16-17). Ein Mensch wurde vor einen bēma gebracht, um seine Taten im Sinne
einer gerichtlichen Anklage oder Entlastung zu untersuchen oder zur Anerkennung
und Belohnung seiner Leistungen. Als Paulus den Römern von demselben Ereignis
berichtete, nannte er ihn »den Richterstuhl [bēma] Gottes« (RELB; Röm 14,10). Gott
der Vater ist der höchste Richter, aber er hat »alles Gericht … dem Sohn übergeben«
(Joh 5,22). Paul Barnett bemerkt:
Eine Parallelstelle – »wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden« (RELB;
Röm 14,10) – deutet auf die identische Funktion von Christus und Gott hin; Gott richtet und
Christus richtet. Das Neue Testament spricht von Christus häufig als von Gottes ernanntem
Richter, entsprechend seiner Rolle als dem Sohn des Menschen wie in Daniel 7,13-14.
26-27 (z.B. Joh 5,22.27; 9,39; Mt 25,31-32; Apg 10,42; 17,31; vgl. Offb 20,11-15). (The
Second Epistle to the Corinthians, The New International Commentary on the New Testament
[Grand Rapids: Eerdmans, 1997], S. 275 Fußnote 45)
Der Ausdruck jeder betont die persönliche Natur des Urteils über die Gläubigen; es
ist ein individuelles und kein kollektives Urteil. Wie zuvor schon beschrieben, ist
damit kein Gericht verbunden; vielmehr empfängt der Gläubige, was er durch den
Leib gewirkt hat. Empfängt ist die Übersetzung einer Verbform von komizō, was
»empfangen, was einem gebührt« bedeutet – ob es nun die Strafe für ein Verbrechen
ist oder der Lohn für etwas Ehrenwertes. Wenn der Gläubige vor dem Herrn Jesus
Christus steht, empfängt er, was er durch den Leib gewirkt hat (vgl. Offb 22,12).
Deshalb können die Gläubigen ihren Körper nicht ignorieren oder ihn auf antinomistische Weise verächtlich behandeln. Stattdessen sollen sie ihre »Leiber darbring[en]
als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer: das sei [ihr] vernünftiger Gottesdienst!
« (Röm 12,1). Dinge, die wir im Leib tun, haben einen potenziellen Ewigkeitswert
(vgl. Mt 6,19-21).
Der Gebrauch des Wortes böse deutet nicht an, dass das Urteil über die Gläubigen
ein Urteil über ihre Sünden ist, da all ihre Sünden bereits an Christus gerichtet wurden.
Mit dem Gegensatz zwischen gut und böse ist nicht der zwischen moralisch
Gutem und moralisch Bösem gemeint. Böse ist nicht die Übersetzung von kakos oder
ponēros, die Worte für moralisch Böses, sondern phaulos, was »wertlos« oder »nutzlos
« bedeutet. Richard C. Trench schreibt, dass phaulos »Böses unter einem anderen
Aspekt betrachtet, nicht so sehr seine aktive oder passive Bösartigkeit, sondern
vielmehr seine Nutzlosigkeit, die Unmöglichkeit, dass daraus etwas von echtem Nutzen
hervorgeht« (Synonyms of the New Testament [Neuauflage; Grand Rapids: Eerdmans,
1983], S. 317). Phaulos beschreibt die irdischen Dinge, die an sich weder Ewigkeitswert
haben noch sündig sind, wie beispielsweise ein Spaziergang, Einkaufen,
eine Fahrt ins Grüne, das Streben nach einem akademischen Grad, Aufstieg im Unternehmen,
Malerei oder Dichtung. Diese moralisch neutralen Dinge werden beurteilt,
wenn die Gläubigen vor dem Richterstuhl Christi stehen. Wenn sie zur Verherrlichung
Gottes getan wurden, werden sie als gut angesehen. Wurden sie aus egoistischem
Interesse getan, werden sie für böse gehalten.
Die klarste Definition des Unterschieds zwischen guten und bösen (wertlosen)
Dingen findet sich in 1. Korinther 3,11-15:
Denn einen anderen Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus
Christus. Wenn aber jemand auf diesen Grund Gold, Silber, kostbare Steine, Holz, Heu,
Stroh baut, so wird das Werk eines jeden offenbar werden; der Tag wird es zeigen, weil es
durchs Feuer geoffenbart wird. Und welcher Art das Werk eines jeden ist, wird das Feuer
erproben. Wenn jemandes Werk, das er darauf gebaut hat, bleibt, so wird er Lohn empfangen;
wird aber jemandes Werk verbrennen, so wird er Schaden erleiden, er selbst aber wird
gerettet werden, doch so wie durchs Feuer hindurch.
Die einzige Grundlage des christlichen Lebens ist der Herr Jesus Christus (vgl. 1Petr
2,6-8), aber Petrus ermahnt uns auch, dass Gläubige auf diese Grundlage bauen müssen:
So setzt ebendeshalb allen Eifer daran und reicht in eurem Glauben die Tugend dar, in der
Tugend aber die Erkenntnis, in der Erkenntnis aber die Selbstbeherrschung, in der Selbstbeherrschung
aber die Standhaftigkeit, in der Standhaftigkeit aber die Gottseligkeit, in der
Gottseligkeit aber die Bruderliebe, in der Bruderliebe aber die Liebe. Denn wenn diese
Dinge bei euch vorhanden sind und zunehmen, so lassen sie euch nicht träge noch unfruchtbar
sein für die Erkenntnis unseres Herrn Jesus Christus. Wem dagegen diese Dinge fehlen,
der ist blind und kurzsichtig und hat die Reinigung von seinen früheren Sünden vergessen.
Darum, meine Brüder, seid umso eifriger bestrebt, eure Berufung und Erwählung festzumachen;
denn wenn ihr diese Dinge tut, werdet ihr niemals zu Fall kommen. (2Petr 1,5-10)
Gläubige, die für die Ewigkeit bauen, nehmen nicht »Holz, Heu, Stroh«, sondern
»Gold, Silber, kostbare Steine«. Die Letzteren sind wertvoll, beständig und unzerstörbar;
sie werden das Feuer des göttlichen Urteils überstehen; die Ersten, obwohl
nicht moralisch böse, sind wertlos und brennbar. Sie illustrieren Dinge, die keinen
dauerhaften, ewigen Wert besitzen. Das Feuer, symbolhaft für Gottes Urteil, wird sie
an dem Tag verzehren, an dem »das Werk eines jeden offenbar« wird. Die Gläubigen
werden nur für die Taten belohnt, deren Motive dem Herrn wohlgefallen und ihn verherrlichen.
Paulus’ Sehnsucht nach dem Himmel brachte ihn nicht dazu, hier auf Erden
unverantwortlich oder untreu zu handeln; vielmehr bewirkte sie das Gegenteil.